Finanznot:
Krise in den Palästinensergebieten spitzt sich zu
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
"Unsere bisherigen Prognosen waren zu rosig", schreibt
die Weltbank alarmiert in einem am Montag veröffentlichten Report über die
Wirtschaftslage in den Palästinensergebieten. "Präzedenzlos" sei der Mangel
an Bargeld bei der Regierung. Anstelle der 118 Millionen Dollar pro Monat,
stünden jetzt knapp 50 Millionen für die Bezahlungen von Gehältern zur
Verfügung.
Die EU hat ihre Zahlungen eingestellt, solange sich die
Hamasregierung nicht drei Bedingungen beugt (Anerkennung Israels,
Gewaltverzicht und Akzeptanz bestehender Verträge). Israel hält Steuer- und
Zolleinnahmen zurück, solange "Terroristen" das Sagen haben. Schlimmste
Auswirkungen hat eine Drohung der USA gegen arabische Banken, die mit der
Hamas kooperieren. So können von der arabischen Liga, den Golfstaaten und
Iran gespendete Notgroschen für das Überleben der Palästinenserregierung
nicht in die Westbank oder nach Gaza gelangen.
In Bethlehem, Nablus und Ramallah gab es schon
Demonstrationen. Mittellose Beamte klagen, seit März kein Gehalt gesehen zu
haben. Doch Tausende gehen auch auf die Straße, um die Hamas zu ermuntern,
dem internationalen Druck nicht nachzugeben. Ziad Abu Ain vom Zentralkomitee
der Fatah rief in Bethlehem die Gehaltsempfänger dazu auf, keine Hilfsgelder
zu akzeptieren, die auf Umwegen über internationale Hilfsorganisationen
verteilt werden. "Das palästinensische Volk hat vier Jahrzehnte lang mit
tausenden Märtyrern für eine nationale Identität und legitime Rechte auf
nationale Unabhängigkeit gekämpft."
Obgleich die Hamas-Regierung finanziell trocken gelegt
worden ist, sollten alle Gehälter allein über das von der Hamas geführte
Finanzministerium geschleust werden. So lehnt er einen Vorschlag ab, unter
Umgehung der Regierung die Gehälter direkt auf die Konten der
Gehaltempfänger fließen zu lassen. Bis Ende 2006 sieht die Weltbank bei den
Palästinenser einen Einkommensrückgang um 30 Prozent, eine Arbeitslosenquote
von 40 Prozent und steigende Armut von 44 auf 67 Prozent voraus. Vorher
schon drohe ein Zusammenbruch des Gesundheitswesens und des Schulsystems.
Doch nicht nur der Druck auf die demokratisch gewählte
Regierung der Palästinenser verursachte die Misere. Es ist vor allem die
Politik der extremistischen Hamas-Minister. Außenminister Mahmoud A-Sahar
"träumte" im Einklang mit der Hetze des iranischen Präsidenten öffentlich
von eine Weltkarte ohne den Staat Israel. Die offizielle Rechtfertigung
eines Selbstmordattentats in Tel Aviv, wo neben sechs Israelis zwei
rumänische Gastarbeiterinnen und eine französische Touristin ermordet
wurden, als "legitime Selbstverteidigung", vertiefte weltweit die Abscheu
gegen Hamas.
Zur Lähmung der Zustände trägt auch der blutige Machtkampf
zwischen der seit vierzig Jahren herrschenden Fatah-Partei und den
Islamisten der Hamas bei. Seit dreißig Jahren ringen Moslembrüder und die
weltliche Fatah um ihre Vormachtstellung. Im vergangenen Jahr allein starben
nach Angaben der palästinensischen Menschenrechtsorganisation PHRMG 113
Palästinenser bei internen Auseinandersetzungen. Weitere 50 starben unter
"unklaren Umständen". In den ersten vier Monaten von 2006 wurden mindestens
38 Palästinenser von ihren Landleuten umgebracht. Am Montag erschossen sich
gegenseitig zwei Fatah-Leute und ein Hamas Mann in Khan Younis.
Angeblich plante die Hamas in Gaza sogar die Ermordung von
Präsident Mahmoud Abbas und des ehemaligen Sicherheitschefs Muhammad Dahlan.
Vom Mossad vorgewarnt habe Abbas ein Treffen mit Hamas-Regierungschef Ismail
Hanija verschoben. Am Sonntag hätten sich in Gaza "beide Männer nur
angeschrieen", berichtet eine arabische Zeitung in London. Abbas kann nicht
akzeptieren, dass die Hamas mit eigenen Milizen die offiziellen
Sicherheitskräfte in Schach halten will und Hanije klagt, dass Abbas die
Regierung ihrer Vollmachten beraube. Jenseits dieses "offiziellen"
Machtkampfes mitsamt Schießereien, Überfällen auf Ministerien, Entführungen
und Morden, gibt es noch das Wüten allmächtiger schwerbewaffneter
Familienclans. Die beherrschen zum Beispiel den blühenden Schmuggel von
Drogen und Waffen durch Tunnel unter der Grenze nach Ägypten.
Um die Preise für ihre "Waren" in die Höhe zu treiben,
attackieren sie mit Bomben und Raketen die Grenzübergänge nach Israel. Die
Israelis reagieren "aus Sicherheitsgründen" mit wochenlangen Schließungen.
Palästinensische Bauern müssen ihre Ernten vernichten und verlieren hunderte
Millionen Dollar Einkünfte. Umgekehrt mangelt es den 1,3 Millionen Menschen
im Gazastreifen an Mehl für das tägliche Fladenbrot. Vom jordanischen König
gestiftete zehn Lastwagen voller Mehlsäcke, die über einen noch offenen
Übergang nach Gaza gebracht wurden, boten keine Erleichterung.
Israels Schließung des Karni-Warenübergangs, von
Palästinensern als "Verstoß gegen internationales Recht" verurteilt, von der
Weltbank als Hauptursache für die Misere im Gazastreifen ermittelt, hat die
Lage inzwischen so verschärft, dass Regierungschef Hanije die Kämpfer seiner
Hamas-Organisation aufrief, die Grenzübergänge auszusparen. Das hinderte ihn
freilich nicht, ausgerechnet den steckbrieflich von Israel gesuchten Chef
der Schmugglermafia aus Rafah, Jamal Samahanda, zum Befehlshaber einer neuen
3000 Mann starken Kämpfermiliz zu ernennen, die auch die Fatahtreuen
Polizeikräfte kontrollieren sollte. Abbas hat ein Veto gegen die Ernennung
Samahandas eingelegt, was ein weiterer Anlas für blutige Spannungen im
Gazastreifen wurde. |