Choseh haMedinah:
Herzls Bild in Israel heute
Von Andrea Livnat, Juni 2005
Im
Mai diesen Jahres wurde in Israel erstmals der neue Herzl-Tag begangen. 2004
hatte die Knesseth zum 100. Todestag des Begründers des modernen politischen
Zionismus ein ehrgeiziges Gesetz verabschiedet. Künftig wird danach Herzls
Geburtstag, der 10. Ijar, mit einem Kongress, zahlreichen
Sonderveranstaltungen und Preisverleihungen begangen. In der Knesseth selbst
sah dies am ersten Herzl-Tag eher traurig aus. Ganze 19 Abgeordnete hielten
es für nötig, zur Gedenkveranstaltung in den Plenarsaal zu kommen. Ein
peinliches Bild, war die Besuchertribüne doch voll besetzt, Jugendliche,
Mitglieder der Herzl-Familie, Soldaten, ausländische Gäste, sie alle mussten
auf die leeren Reihen der Abgeordneten blicken. "Ich hätte von den
Abgeordneten der Knesset erwartet, dass sie dem Mann, dem sie ihre Existenz
verdanken, mehr Respekt zollen," zürnte Knessethvorsitzender Rivlin.
Tatsächlich ist dieser
Zwischenfall, der übrigens dazu führte, dass die Medien insgesamt die
Präsenz der Abgeordneten in der Knesseth und den Ausschüssen kritisch unter
die Lupe nahmen, typisch, wenn man Herzls Verortung im kollektiven
Gedächtnis Israels betrachtet. Benjamin Seev Herzl, wie der "Prophet des
Staates" in Israel ausschließlich genannt wird, ist zweifelsohne eines der
wichtigsten Symbole des Staates. Sein Bild wachte über der
Unabhängigkeitserklärung durch David Ben-Gurion, sein Grab auf dem nach ihm
benannten Hügel in Jerusalem wurde zu einem der bedeutendsten Orte der
Identifikation des jungen Staates und dient auch heute noch als Kulisse bei
den Feierlichkeiten des Unabhängigkeitstages. Jedes Kind kennt ihn und
seinen Ausspruch "Im tirzu, ejn so agada", "Wenn ihr wollt ist es kein
Märchen".
Doch im Laufe der
Jahrzehnte spielte sich im Gedenken an Herzl Routine ein, die dazu führte,
dass der "Prophet des Staates" immer mehr an den Rand des kollektiven
Gedächtnisses gedrängt wurde. Das Symbol Herzl hatte seinen Zweck erfüllt,
es hatte dazu beigetragen die junge Nation in ihren ersten Jahren zu einen.
Es gab weiterhin Gedenkfeiern an Herzls Todestagen, doch sie fanden im
Stillen statt. Zu besonderen Anlässen und runden Jubiläen gab es größere
Veranstaltungen, im Allgemeinen jedoch wurde der 20. Tammus in kleinem
Kreise an Herzls Grab begangen, ohne dass die breite Öffentlichkeit davon
Notiz nahm. Auch in den Zeitungen zeigt sich das wachsende Desinteresse
deutlich. Wurde in den 30er und 40er Jahren, sowie in den ersten Jahren nach
der Staatesgründung zu jedem Todestag von Herzl ausführlich über sein Leben
und Werk berichtet, wurden diese Artikel immer seltener und erschienen
schließlich nur noch an runden Jubiläen. Spätestens nachdem Herzls Bild nach
der letzten Währungsreform von den Geldscheinen verschwand, geriet er
in Vergessenheit.
Wie wenig über Herzl
tatsächlich bekannt ist, zeigte eine Umfrage unter Jugendlichen, die im
September 2004 für eine Fernsehshow durchgeführt wurde. 54% der Befragten
wussten nicht, wer Herzl war oder antworteten falsch. 14% hielten ihn zum
Beispiel für den ersten Ministerpräsidenten und knapp 15% für den ersten
Präsidenten. Die Ergebnisse müssen andererseits nicht weiter erstaunen, wenn
selbst offizielle Organe in Bezug auf Herzl irren. Die Knesseth gedachte
Herzls 100. Todestag ganze sieben Monate zu früh am 9. Dezember 2003. Herzls
Bild ist heute platt wie die Silhouette, die der Künstler Uri Lifschitz auf
dem Wasserturm in Herzlijah geschaffen hat.
Doch all dies darf
nicht darüber hinwegtäuschen, wie wichtig Herzl noch immer für die
israelische Gesellschaft ist. Vielleicht zeigen gerade die Diskussionen der
vergangenen 10 Jahre, die um die Zukunft des Zionismus, die Erscheinung des
Postzionismus und die "neuen Historiker" geführt werden, wie tief Herzl im
kollektiven Gedächtnisses Israels verankert ist. Nur dadurch ist zu
erklären, dass sich die unterschiedlichen Lager immer wieder auf Herzl als
Legitimation berufen.
Zum Vorkämpfer und
Verteidiger von "Herzls Vision" von Seiten der Rechten hat sich in den
letzten Jahren vor allem Yoram Hazony hervorgetan, der mit seiner
Publikation "The Jewish State" bewusst auch die amerikanische Leserschaft in
den Diskurs mit einbezog. Hazony ist Mitbegründer des Shalem Centers, ein
von Ronald Lauder finanziertes "konservatives Jerusalemer think tank", wie
Haaretz urteilte. Hazonys Buch soll die Leser einerseits davon überzeugen,
dass der "jüdische Staat" systematischen Attacken des eigenen kulturellen
und intellektuellen Establishments ausgesetzt ist und andererseits die
Geschichte des "Ringens" um den "jüdischen Staat" nachzeichnen. Die Linke im
Allgemeinen und den Postzionismus im Besonderen sieht er dabei als große und
zersetzende Gefahr für Israel und seinen jüdischen Charakter. Hazony sieht
allein den Herzlschen Zionismus, nach seiner eigenen Definition, als gültig
an und lässt damit völlig außer Acht, dass es zu jeder Zeit unterschiedliche
Richtungen im Zionismus gab und die Bewegung niemals eine vollkommen
einförmige war.
Doch auch die Linke
instrumentalisiert Herzl heute für ihre Zwecke. Der Historiker und
Journalist Tom Segev, der mit seiner Forschung zur israelischen
Erinnerungspolitik in Bezug auf die Schoah ebenfalls den "neuen Historikern"
zuzurechnen ist, bezeichnet Herzl in vielerlei Hinsicht als ersten
Post-Zionisten. Benny Morris begründet in der Neuauflage seines als
Standardwerk der "neuen Historiker" geltenden "The Birth of the Palestinian
Refugee Problem" die zionistische Absicht zur Vertreibung der arabischen
Bevölkerung 1948 unter anderem mit einem Zitat aus Herzls Tagebüchern, das
er aus dem historischen Kontext nimmt.
Tatsächlich hat Herzls
Vision von "Altneuland" viele Elemente, die der heutigen Realität nicht
entsprechen. So Herzl betonte die Notwendigkeit einer strikten Trennung von
Staat und Religion. Geistliche werde man in ihren Tempeln festzuhalten
wissen, das Berufsheer in den Kasernen. Für Jerusalem hatte Herzl einen
Doppel-Status entworfen, der die heiligen Stätten unter internationale
Kontrolle stellt. Herzl wusste von der Existenz der Araber im Lande, doch
sie hielten, anders als er vermutete, die jüdische Einwanderung keineswegs
für einen Segen. Herzl erträumte ein harmonisches Zusammenleben von Juden,
Arabern und jedem, der sich dem Judenstaate anschließen wollte.
Die Beschäftigung mit
den ursprünglichen Quellen des Zionismus ist in jedem Fall ein lohnendes
Unternehmen. In der Presse wurden in den letzten Jahre immer wieder
Vergleiche zwischen Herzls Vision und der israelischen Wirklichkeit gezogen
und die Rückbesinnung auf Herzls ursprünglichen Ideen gefordert. Zu Rosh
haSchanah 2003 schlug beispielsweise die Zeitung "haIr", ein Tel Aviver
Wochenblatt, vor, wieder auf Herzl zu hören, jenen Mann, der in Israel am
meisten gepriesen wird und am meisten vergessen wurde. Herzls Erbe, so Autor
Eli Mohar, existiert nicht mehr, sein berühmter Satz "Wenn Ihr wollt, ist es
kein Märchen" ist zwar der einzige Konsensus, auf den man sich in Israel
einigen kann, doch die Phrase zieht als leeres Symbol an den Ohren der
Menschen vorbei. Doch Herzls "Wenn Ihr wollt" ist die Antwort zu allen
Fragen und Problemen der gegenwärtigen Situation Israels: "Wird es im
kommenden Jahr eine Beruhigung mit den Palästinensern geben? Wenn Ihr wollt.
Kann es sein, dass wir sogar ein wirkliches Abkommen erreichen? Wenn Ihr
wollt. Und ist es bei Gelegenheit möglich, die sich verschärfenden
Diskrepanzen zwischen Reichen und Armen zu verkleinern? Die
gesellschaftlichen und kulturellen Dringlichkeitslisten ändern? Die
Wirtschaft stärken? Wenn Ihr wollt. Wenn Ihr wollt. Wenn Ihr wollt."
Es bleibt zu hoffen,
dass der im vergangenen Jahr ausgerufene Herzl-Tag zu einer Rückbesinnung
auf die Quellen des Zionismus führt. Denn die Vision des Vaters des
politischen Zionismus ist auch heute noch eine Inspiration für viele Fragen
rund um den "Judenstaat". Herzls Ermahnung klingt uns dabei noch in den
Ohren: "Machet keine Dummheiten, während ich todt bin".
Erschienen in:
haNativ, Mitteilungsblatt von arzenu
- Bund progressiver Zionisten in Deutschland, Ausgabe 1/2005
hagalil.com 08-05-2006 |