Rassismus anno 2006:
National befreites Flandern
Für die jüngsten
rassistischen Morde in Antwerpen wird von vielen Politikern und Medien der
rechtsextreme Vlaams Belang verantwortlich gemacht.
Von Korbinian Frenzel, Brüssel
Jungle World 21 v.
24.05.2006
Dass ein 18jähriger einfach in einen Waffenladen geht, ein
Jagdgewehr und 20 Schuss Munition kauft, ohne einen Waffenschein
vorzuweisen, ist seit der vergangenen Woche in Belgien nicht mehr möglich.
Einstimmig billigte das Parlament im Eilverfahren ein verschärftes
Waffengesetz.
Das ging schnell, aber was tun gegen den Hass auf alles Fremde? Zwei Wochen
nachdem der 18jährige Hans van Themsche am 11. Mai in Antwerpen zwei
Menschen erschossen und einen schwer verletzt hat, wird diese Frage im
ganzen Land aufgeregt diskutiert. "Rassismus anno 2006" steht in großen
Lettern über den Sonderseiten, die seit Tagen in der linksliberalen
flämischen Zeitung De Morgen erscheinen. Am Donnerstag soll es in Antwerpen
eine Demonstration der Trauer geben, zu der zehntausende Teilnehmer erwartet
werden.
Dann wird es genau zwei Wochen her sein, dass Themsche seinen mörderischen
Spaziergang durch die malerische Innenstadt von Antwerpen unternahm, nachdem
er das Waffengeschäft verlassen hatte. Songul Koc, eine 46jährige Türkin,
saß auf einer Bank und las, als der erste Schuss aus dem Lauf des gerade
erworbenen Gewehres auf sie abgefeuert wurde. Sie überlebte schwer verletzt.
Für die zweijährige Luna Drowart und ihr Au-pair-Mädchen Oulemata N’dyie aus
Mali, die gemeinsam auf der Straße spielten, waren die nächsten beiden
Kugeln tödlich.
Er wolle auf Ausländer schießen, gab Themsche später bei der Polizei zu
Protokoll. Ein Polizist konnte seinen Amoklauf mit einem Bauchschuss
beenden. 17 Patronen hatte Themsche zu dem Zeitpunkt noch, mit denen er
weitere Menschen töten wollte. Handelt es sich um die Tat eines verrückten
fremdenfeindlichen Einzelgängers?
Nach den Morden von Antwerpen sind die Medien und die Politik auf der Suche
nach den ideologischen Hintermännern von Themsche im niederländisch
sprechenden Flandern schnell fündig geworden. Die rechtsextreme Partei
Vlaams Belang (VB), die in Flandern mit ihren Parolen gegen Ausländer
zuweilen 25 Prozent der Wählerstimmen erreicht, soll vor allem
verantwortlich sein. In Antwerpen, seiner Hochburg, ist der Vlaams Belang
die stärkste Partei im Rathaus.
Themsche kennt den Vlaams Belang nicht nur von Plakaten oder Flugblättern.
Seine Tante sitzt im belgischen Parlament für die Partei, die sich für die
Unabhängigkeit Flanderns stark macht. Premierminister Guy Verhofstadt war
der erste, der nur wenige Stunden nach der Tat diesen direkten Zusammenhang
herstellte. Jeder könne erkennen, wohin Rechtsextremismus führe, sagte der
Politiker von der liberalen flämischen VLD.
Mit seinem Hinweis auf den Vlaams Belang hat Verhofstadt eine Debatte
darüber ausgelöst, wie die demokratischen Parteien im belgischen Parlament
mit der rechtsextremen Partei weiter umgehen sollen. Erst vor zwei Jahren
wurde ihre Vorgängerpartei, der Vlaams Block, vom belgischen
Verfassungsgericht wegen ihres rechtsextremen Programms verboten, ohne dass
daraufhin die Zustimmung für die Rechtsextremen bei Wahlen oder in Umfragen
zurückging. Auch das seit dem Jahr 1989 von allen Parteien von den Grünen
bis zu den Christdemokraten vereinbarte Verbot einer Koalition oder
Kooperation mit den flämischen Nationalisten, der so genannte cordon
sanitaire, hat dem Vlaams Belang eher mehr als weniger Zulauf beschert.
"Vor den Taten von Antwerpen gab es ernsthafte Überlegungen, bei den
Kommunalwahlen im Herbst erstmals die ›Methode Haider‹ auszuprobieren",
sagte ein flämischer Sozialdemokrat. Offenbar hatte man vor, den Vlaams
Belang an der Macht zu beteiligen und so seinen Populismus an der
alltäglichen Politik messen zu lassen. Dieses Vorhaben habe man nun
aufgegeben, sagte der Mitarbeiter von Freya von der Bosche, der
stellvertretenden Premierministerin. Doch eventuell schwäche die Entrüstung
über die Morde den Vlaams Belang bereits vorher. Dabei wollen die
etablierten Parteien helfen. Es wird darüber diskutiert, der Partei die
staatliche Finanzierung zu streichen oder zu kürzen.
Eine "große Scheinheiligkeit" bescheinigt unterdessen der Politologe Dave
Sinardet den etablierten Parteien für ihren derzeitigen Aktionismus. Als
einer der führenden Vertreter der Partei, Filip Dewinter, vor wenigen Wochen
Ladenbesitzer dazu aufforderte, sich zum Schutz vor kriminellen jungen
Migranten zu bewaffnen, habe niemand die Kürzung der Finanzierung für den
Vlaams Belang gefordert, kritisiert der Professor, der an der Universität
von Antwerpen lehrt. Und er gibt zu bedenken: "Wenn es den Vlaams Belang
nicht gäbe, wären dann die Morde von Antwerpen nicht geschehen?" Sinardet
wundert sich auch über die einfachen Antworten, die zurzeit gegeben würden
und die eine Frage dabei geschickt umgingen: "Wie steht es um eine
Gesellschaft, in der die Ausländerfeindlichkeit und Abgrenzung gegen außen
so lange salonfähig sind, bis das Kopfsteinpflaster in den Straßen
Antwerpens mit Blut besudelt ist?"
Während in Flandern solche Fragen nur am Rande gestellt werden, beobachten
die Bewohner Walloniens, des französischsprachigen Landesteils, die Vorgänge
im Norden Belgiens mit wachsender Besorgnis. "Ist Flandern rassistisch?",
fragte die französischsprachige Zeitung Le Soir nach den Morden. Nur wenige
Tage zuvor waren mehrere Ausländer bei zwei Übergriffen in Brügge und in
einer Antwerpener Diskothek schwer verletzt worden. Für Hassan Bousetta von
der Universität in Lüttich steht fest: "Der Rassismus ist im Norden des
Landes ein strukturelles Problem." Und seine Kollegin von der Universität
Leuven, Professorin Nadia Fadil, meint: "Der Mythos eines spezifisch
kulturellen und homogenen Flandern ist in der Bevölkerung weit verbreitet."
Umfragen des staatlichen Fernsehens scheinen zu bestätigen, dass die
Einstellung gegenüber Migranten in Flandern deutlich negativer ist als in
Wallonien. Dass es "zu viele Ausländer im Lande" gebe, glauben demzufolge
acht Prozent der französischsprachigen Belgier. In Flandern sind es mit 20
Prozent mehr als doppelt so viele.
Die Kritik am Rassismus in Flandern, die aus dem Süden kommt, könnte das
schwierige Verhältnis der beiden Landesteile erneut belasten. In Wallonien,
das sich von Politikern aus dem Norden stets die höhere Kriminalitätsrate
und das geringere Wirtschaftswachstum vorhalten lassen muss, freut man sich,
endlich einmal das "bessere Belgien" zu sein.
hagalil.com 31-05-2006 |