Chiffren der Unfreiheit:
Sommerwind und andere Kreise
Von Jenny Warnecke
"Die Haft war dann." Das Stück von Esther Dischereit
"Sommerwind und andere Kreise" (2000), das am 10. Mai 2006 im Mauermuseum
Bernauer Straße aufgeführt wird handelt von einem Stasi-Opfer. Im Fokus
stehen die gedehnten Zeiten und Räume der Erinnerung.
Als jüdische Nachgeborene der zweiten Generation hat
Esther Dischereit eine hochkonzentrierte Sprache entwickelt, welche die im
Körpergedächtnis transportierten Verfolgungsmomente der Elterngeneration
beschreibt. Diesmal schreibt sie über eine Sprecherin, die sich über ihre
eigene Hohenschönhausen-Vergangenheit beugt und versucht ihre Angstzustände
von Heute im Gestern zu verorten. "Hier hatte kaum einer einen richtigen
Prozess. Tat, Verurteilung, Strafe, - entweder es gab keine Tat oder keine
Verurteilung. Nur Strafe, die gab es in jedem Fall."
Dischereits Erzählerin umkreist beim Besuch des ehemaligen
Stasi-Gefängnisses, das Leben dieser Frau, deren persönliche Geschichte sich
mit der historischen Gegenwart vermengt. Die Stimme bringt sich immer wieder
zurück in den Zustand des Ausgeliefert-Seins während der jahrelang gleich
verlaufenden Verhöre. Nach der Maueröffnung ergibt der Blick in die Akte,
dass ihr Vergehen mehr jugendlicher Leichtsinn als eine systemgefährdende
Tat war. Das ist die Opferseite.
Die Dreistigkeit der Täter, keinerlei Schuldbewusstsein zu
haben, ist ein anderes Thema in Dischereits Stück. Aktueller könnte es nicht
sein. In der jüngsten Vergangenheit haben Stasi-Funktionäre ihr fehlendes
Unrechtsbewusstsein öffentlich zelebriert. Ausgerechnet auf einer
Veranstaltung in der Gedenkstätte Hohenschönhausen, dem ehemaligen
Hauptquartier der Staatssicherheit sind Stasi-Opfer von Tätern geschmäht
worden. Und was wohl schwerer wiegt ist das Versagen demokratischer
Repräsentanten wie dem anwesenden Berliner Kultursenator Flierl (PDS), der
auch Vorsitzender der Gedenkstätte ist.
Die Vernehmer verharmlosen ihre Stasi-Tätigkeiten in
Hohenschönhausen, was in Dischereits Stück so klingt: "Er war ja eben nicht
schlecht in seiner Arbeit und hat sich an die psychologischen
Weiterbildungen gehalten und hat alles so angewandt. Und so kommt er immer
noch gerne hierher."
Die Frau im "Sommerwind" wird zur Zeitgeschichte zum
Anfassen und führt heute Touristen durch das Stasi-Museum Hohenschönhausen.
Die Geschichte bleibt an ihr haften. Die Führungen sind der einzige Weg mit
dem erlebten Unrecht fertig zu werden. "In der Nacht der Museen kommen die
Häftlinge zurück. Viele jedenfalls. Sie gehen in ihren Knast. Sie gehen seit
Jahren in ihren Knast." Dischereit wird in den verdichteten Sequenzen zur
gedächtnispolitischen Sprecherin des Stasi-Unrechts.
Mittwoch, 10. Mai 2006, um 19.30 Uhr
"Sommerwind und andere Kreise"
Hörspiel von Esther Dischereit
Anschließend Gespräch mit der Autorin und
mit Stefanie Hoster, Hörspielredakteurin, DeutschlandRadio Kultur
Moderation: Doris Liebermann, Vorstand Stiftung zur Aufarbeitung der
SED-Diktatur
Kooperationsveranstaltung mit DeutschlandRadio Kultur
Dokumentationszentrum Berliner Mauer
Bernauer Straße 111
hagalil.com 05-05-2006 |