Unterschätztes "Pulverfass"
Wissenschaftler warnt vor Verharmlosung von Rassismus in
Deutschland Moderation: Christiane Kaess
Interview mit Detlev
Claussen anhören Der Kultursoziologie
Detlev Claussen hält die Gefahren des Rassismus in Deutschland für
unterschätzt. "Den meisten Leuten ist überhaupt nicht klar, was für ein
Pulverfass das ist", sagte der Professor von der Universität Hannover. "Es
muss wirklich ein Tabu sein, ausländerfeindliche Stimmung zu schüren",
betonte er.
Christiane Kaess: Es gab eine Zeit, da waren die Medien voll von Berichten
zu fremdenfeindlichen Übergriffen. Die Städtenamen Mölln und Solingen
standen eine zeitlang symbolisch für den Hass gegen Ausländer. Und in den
90er Jahren kam es im Osten des wiedervereinigten Deutschlands zu einer
ganzen Serie von Gewalttaten. Dass es heute relativ ruhig um dieses Thema
geworden ist, heißt nicht, dass die rechtsextreme Gewalt entscheidend
weniger geworden wäre. Erst jetzt hat der Anschlag auf einen
Deutsch-Äthiopier in Potsdam kontroverse Diskussionen über Rassismus
ausgelöst.
Detlev Claussen ist Professor für Gesellschaftstheorie und Kultursoziologie
an der Universität Hannover. In seinem Buch "Was heißt Rassismus?" verweist
er auch auf die historische Dimension. Guten Morgen, Herr Claussen!
Detlev Claussen: Guten Morgen!
Kaess: Herr Claussen, Sie erinnern in Ihrem Buch daran, dass der Rassismus
aus dem europäischen Kolonialsystem entstanden ist und aus der Konkurrenz
der Nationen Ende des 19. Jahrhunderts. Was heißt denn Rassismus heute im
Vergleich zu damals?
Claussen: Oh, das ist schwer zu beantworten in einer Frage oder in einem
kurzen Satz. Aber ganz sicher ist, dass wir die alltägliche Dimension des
Rassismus begreifen müssen. Und in dem Kontext von 1900 hatte man das
Gefühl, der Rassismus ist irgendwo weit draußen, weit weg in der Welt.
Zumindest in Europa hatte man dieses Gefühl. Und jetzt haben wir aber ein
ganz anderes Phänomen: Wir müssen den Rassismus als ein Alltagsphänomen in
den Gesellschaften hier begreifen.
Kaess: Heißt das jetzt in der weiteren Entwicklung - noch mal in Bezug auf
den Nationalismus -, wenn der Nationalismus, wenn es keinen Nationalismus
gegeben hätte, gäbe es heute keinen Rassismus?
Claussen: Ich glaube, das kann man so nicht sagen. Aber in Europa zumindest
spielen nationalistische Wellen eine Rolle in der Verstärkung, besonders in
der Verstärkung der Tendenzen, Leute zu bestimmen, die nicht dazugehören
sollen. Und diese ganze Diskussion, die in Deutschland stattfindet "Wer sind
wir eigentlich? Wer ist Deutschland?", die hat diese Schattenseite, die
zieht immer etwas mit sich, das definiert wird, wer nicht dazugehören soll.
Und da sind Rassismus und Antisemitismus ideale Felder, auf denen sich so
etwas bestimmen kann.
Kaess: Sie wollten mit dem Buch "Was heißt Rassismus?" auch einer Tendenz
begegnen, Rassismus als politisches Schlagwort zu benutzen. Wo passiert das
denn?
Claussen: Ja, ich meine, man sieht eben dieses Verständnis, dass man
Rassismus versucht jetzt einfach wegzudefinieren, indem man einfach sagt:
Also dieser Überfall in Potsdam, da sollen Täter sein, die eindeutig einen
rechtsradikalen Hintergrund haben, die müssen Ausweise tragen, die müssen
sich irgendwie schon mal geäußert haben, nur dann ist es ein Akt von
rassistischer Gewalt. Das ist eine ganz merkwürdige Form, wie man das
einfach versucht, das Problem loszuwerden. Wichtig ist, dass man genau
hinguckt: Worum geht es eigentlich? Und das ist der Zusammenhang. Rassismus
ist nicht einfach zu isolieren. Und Rassismus ist nicht irgendwie Ausfluss
einer Gesinnung. Sondern Rassismus ist eine Form, Menschen zu
diskriminieren. Und das steht im Zusammenhang eben mit Antisemitismus, mit
Fremdenfeindlichkeit. Und es ist nicht alles das Gleiche. Aber es gibt einen
Zusammenhang. Und das muss man wissen.
Kaess: Nun hat Innenminister Schäuble zu dem Überfall auf den
Deutsch-Äthiopier in Potsdam gesagt, es könnten auch blonde, blauäugige
Menschen Opfer werden, zum Teil sogar von Tätern, die möglicherweise nicht
die deutsche Staatsangehörigkeit hätten. Ist diese Relativierung Ihrer
Meinung nach angebracht?
Claussen: Ich finde, das ist völlig abstrus. Menschen können immer Opfer von
Gewalt werden, egal wie sie aussehen oder sonst etwas. Aber hier geht es ja
darum, einen ganz bestimmten Tatbestand zu verleugnen, nämlich dass ein
schwarzer Mensch an einer Haltestelle zusammengeschlagen wird, wo noch
dokumentiert ist über das Handy, dass es sich mit "scheiß Nigger" und so -
das sagt niemand sonst, das ist ein eindeutig rassistischer Überfall und es
ist eine rassistische Tat. Und damit muss man sich auch auseinandersetzen.
Das darf man nicht einfach wegleugnen aus irgendwelchen Imagegründen. Das
ist auch eine ganz praktische Frage, nämlich man muss ja Leuten sagen zum
Beispiel, die hier zu Besuch kommen: Du kannst Dich in bestimmten Gegenden
nicht aufhalten oder pass auf, wenn Du in ganz bestimmten Gegenden Dich in
einer fremden Sprache unterhältst. Und das gibt es in Deutschland. Und das,
diese Realität, die müssen wir auch wahrnehmen. Auch angesichts der Freunde,
die man zu Besuch hat. Die muss man warnen: Du kannst dann nicht einfach zu
irgendeinem Bahnhof fahren und Dich am Bahnhof da aufhalten, da musst Du die
Augen offen halten.
Kaess: Wenn Sie über diese Gebiete sprechen, in denen es - wie Sie jetzt
sagten - gefährlich ist: Statistiken sagen, dass die Gefahr, Opfer einer
rassistischen Gewalttat zu werden, zum Beispiel in Brandenburg höher liegt
als in einem westdeutschen Bundesland. Woran liegt das?
Claussen: Das liegt daran, dass sich ganz bestimmte Szenen herausgebildet
haben und es auch ganz bestimmte Gegenden eben gibt, die von diesen Szenen
beherrscht werden. Und das ist eine ganz fatale Entwicklung und dem muss man
mit allen Mitteln entgegensteuern.
Kaess: Was helfen denn Programme gegen Rechtsextremismus, über deren weitere
Finanzierung jetzt diskutiert wird?
Claussen:! Man kann erst mal sagen, es muss überhaupt etwas, es muss
überhaupt etwas gemacht werden. Und die Realität muss wahrgenommen werden.
Und man darf das einfach nicht immer alles verleugnen. Programme sind von
unterschiedlicher Qualität. Viel, viel wichtiger ist erstens, dass die
Öffentlichkeit eindeutig und klar ist und dass nicht in der Öffentlichkeit
ständig herumdiskutiert wird - sozusagen: Was ist es, was ist es nicht? Und
so weiter und so fort.
Das Zweite ist, dass: In Deutschland sind wir in den letzten 15 Jahren in
eine Situation gekommen, dass man irgendwie den ganzen Zusammenhang des
ausländerfeindlichen Klimas, der erzeugt wird, dass man den überhaupt nicht
mehr wahrnimmt. Sondern es werden, mit diesem Thema werden ganz andere
Geschäfte besorgt: Es werden politische Wahlkämpfe entschieden, es werden
Mehrheiten besorgt. Und das ist eine ganz gefährliche Tendenz. Man muss das
als eine Aufgabe der ganzen Gesellschaft betrachten, dass
Ausländerfeindlichkeit ein Klima ist, das erzeugt werden kann, das aber auch
ausgetrocknet werden kann und bekämpft werden kann. Und dass man sagen will:
Wir wollen kein ausländerfeindliches Land sein. Aber man kann nicht sagen:
Wir sind kein ausländerfeindliches Land. Da passiert zu viel.
Kaess: Was sollte die Politik denn Ihrer Meinung nach konkret tun, um
effektiv gegen Rassismus vorzugehen?
Claussen: Politik muss sich auf allen Ebenen dafür einsetzen, ein
gastfreundliches Klima zu schaffen.
Kaess: Und wie?
Claussen! Und es darf zum Beispiel, es muss wirklich ein Tabu sein,
ausländerfeindliche Stimmung zu schüren. Und das ist etwas, was aber Politik
und Medien ganz und gar nicht beherzigen, sondern im Gegenteil: Den meisten
Leuten ist überhaupt nicht klar, was für ein Pulverfass das ist.
Kaess: Es gibt zum Beispiel in Potsdam auch eine hohe Zahl von linksextremen
Gewalttaten. Inwieweit sind denn Übergriffe tatsächlich ideologisch
motiviert? Oder geht es vielen Tätern denn eigentlich nur um die Gewalt an
sich?
Claussen: Die Gewalt an sich spielt eine ganz entscheidende Rolle. Das
gehört eigentlich im Grunde genommen zu Gewalttätern eben hinzu, auch
politischen Gewalttätern, gehört es hinzu, dass die Gewalt an sich
faszinierend ist. Und sehr oft sind das irgendwie politische Verbrämungen.
Aber dadurch wird das Problem nicht kleiner. Das Problem ist die Gewalt und
ist eine Gewalt, die sich eben auch toleriert fühlt und von
Mehrheitsstimmungen unterstützt fühlt.
Kaess: Sehen Sie ideologisch einen Unterschied zwischen Einzeltaten mit
rechtem Hintergrund und der organisierten rechten Szene?
Claussen: Das ist immer so eine Diskussion. Jede Tat muss erst einmal als
Einzeltat bewertet werden. Aber dass es einen Zusammenhang gibt zwischen
bestimmten gesellschaftlichen Umständen und einem auch bestimmten Klima, das
ist unbezweifelbar richtig. Und das muss auch gesehen werden und darf nicht
verleugnet werden. Und immer wenn ich das Wort "Einzeltat" höre - jede Tat
ist eine Einzeltat dieser Art. Aber da steckt immer schon der apologetische
Wunsch dahinter, die Tat zu isolieren und nicht diesen Zusammenhang, dieses
doch - wie soll man sagen? -, das ist seit der, spätestens seit der
Vereinigung, seit 1990 ist das ein Klima, das erzeugt wird - mal stärker und
jetzt ist es besonders stark in den letzten Wochen und Monaten gewesen.
Kaess: Im Moment wird der Rassismus im Fußball mit Hinblick auf die WM
diskutiert. Was ist da zu erwarten?
Claussen: Ich finde das erst mal sehr wichtig, dass das überhaupt, auch da
wieder wahrgenommen wird. Auch da gab es ja diese Spitze des Eisbergs,
diesen Vorfall in Dresden mit diesem Spieler, der von den Zuschauern
beschimpft worden ist. Und gerade in den niedrigen Ligen ist das eben eine
große Praxis. Und ich finde, das ist unglaublich wichtig, auch dass das
thematisiert wird und nicht verleugnet wird. Und dass das auch jenseits der
Fußball-Weltmeisterschaft diskutiert wird. Dass sich so etwas überhaupt
nicht erst festsetzen kann. Denn das sind dann die gleichen Leute, die
wirklich dann sich wieder an Bahnhöfen aufhalten und dann irgendwelche Leute
abfangen und zusammenschlagen oder in Kneipen und so weiter und so fort.
Dieses ganze Klima, das ist ganz wichtig. Und deswegen ist es auch wichtig
zum Beispiel, was jetzt einige Organisationen gemacht haben, dass sie - oder
planen -, dass sie so Art Karten herausgeben wollen für ausländische
Besucher, wo die sich aufhalten können und wo sie sich besser nicht
aufhalten sollten. Das ist erst mal ein Wahrnehmen dieser Realität. Und da,
auf dieser Ebene, da gibt es durchaus große Gefahren.
Kaess: Der Kultursoziologe Detlev Claussen war das über Rassismus nach dem
Überfall auf einen Deutschen äthiopischer Herkunft in Potsdam.
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