Pulverfass Gazastreifen:
Fatah demonstriert Stärke gegenüber Hamas
Auszüge aus einem Artikel von Arnon Regular,
Ha'aretz, 09.04.2006
Übersetzung Daniela Marcus
GAZASTREIFEN – "Al Asifa, Basis der
Fatahkämpfer" steht auf dem großen Schild am Eingang eines Geländes
südwestlich der Stadt Beit Lahia im nördlichen Gazastreifen. Das
Gebiet, das etwa 50 Dunam (= 50.000 m²) umfasst und an eine
Grundschule grenzt, ist von sechs Meter hohen Erdwällen umgeben und
dient den Al-Aksa-Brigaden, dem militärischen Flügel der Fatah, als
Trainingslager. Das Gelände ist zusätzlich mit Stacheldraht
eingezäunt.
Maskierte Männer, die mit Kalashnikov-Gewehren bewaffnet sind und
Funksprechgeräte bei sich tragen, behalten das Lager und die
passierenden Fahrzeuge 24 Stunden am Tag im Auge. Die maskierten
Männer sind Mitglieder des militärischen Flügels der Hamas, Iz
al-Din al-Qassam. In diesem Gebiet im Norden gibt es fünf mobile
Strukturen, die zum Mechanismus des palästinensischen militärischen
Geheimdienstes gehören.
Der Gazastreifen von heute ist wie ein Pulverfass, das durch den
kleinsten Funken in die Luft fliegen und zu einem massiven
Zusammenstoß zwischen Hamas und Fatah führen kann. Während wir
letzten Freitag das Trainingslager besichtigten, zankten sich der
Vorsitzende der palästinensischen Autonomiebehörde (PA), Mahmoud
Abbas, und der Premierminister der PA, Ismail Haniyeh, um die Macht
und um die Kontrolle der PA-Ministerien und der
Sicherheitsmechanismen. (…)
Seit die Hamas die palästinensischen Wahlen gewonnen und eine
Regierung geformt hat, bemühen sich ihre Aktivisten auf der einen
Seite und diejenigen der Fatah auf der anderen Seite, so viele Leute
wie möglich für den sich entwickelnden Konflikt zu rekrutieren. Der
Hauptkampfplatz besteht in den Dutzenden von Standorten im
Gazastreifen, wo solche Trainingslager in den letzten Wochen wie
Pilze nach dem Regen aus dem Boden geschossen sind.
In beinahe jedem Stadtviertel und Flüchtlingslager und selbst in
einigen der früheren Siedlungen, die Israel letztes Jahr evakuiert
hat, vereinnahmen Aktivisten von Hamas, Fatah, der Volksfront für
die Befreiung Palästinas, des Volkswiderstandskomitees, des
Islamischen Dschihad und anderer örtlicher Gruppen Land, das sich
nicht in Privatbesitz befindet, und errichten dort solche
Trainingslager. Jedes neue Lager erhält beinahe sofort nach dem
Aufbau ein weiteres Spiegelbild einer anderen Gruppierung, die ihr
Lager direkt nebenan errichtet.
Tagsüber liegen diese Lager im Allgemeinen verlassen da. Doch nachts
erwachen sie zum Leben. Dann kommen Dutzende von Aktivisten,
meistens Jugendliche im Alter von 17, 18 Jahren, und mit ihnen die
Ausbilder – im Fall der Fatah frühere Mitglieder des
Sicherheitsapparates, im Fall der Hamas langjährige Mitglieder von
Iz al-Din al-Qassam.
Eines dieser Lager, das dem Volkswiderstandskomitee gehört, war
letzten Freitag das Ziel eines israelischen Luftangriffs, bei dem
sechs Menschen getötet wurden. Dennoch geht der Bau ständig weiter.
Und jede Organisation versucht so viele Rekruten wie möglich zu
gewinnen.
Abu Said, ein ranghoher Offizieller der Fatah im nördlichen
Gazastreifen, sagt, die treibende Kraft hinter der Errichtung dieser
Lager sei, "den Geist des Widerstandes gegenüber Israel zu
bewahren". Er sagt, die Gründung solcher Trainingslager habe nicht
mit der neuen Hamas-Regierung zu tun. Doch die Ausbilder und
Rekruten der Basis bei Beit Lahia sagen etwas anderes.
"Nach den Wahlen realisierten wir einen schmerzlichen Mangel an
allen Fronten – die Regierung ist nicht in unseren Händen und es ist
nicht klar, ob wir unseren Lohn bekommen werden", sagt M., ein
Fatahaktivist, der die Verantwortung für das Training im Lager
trägt. "Wir sehen, was die anderen Organisationen tun und wollen
nicht zurückbleiben. Wir sind nicht auf einen Bürgerkrieg aus. Doch
wenn uns jemand Schaden zufügen will, werden wir bereit sein, uns
dagegen zu wehren."
M. sagt kein Wort über den Widerstand gegen die israelische
Besatzung. Und es ist klar, dass seine wahren Feinde jetzt die
Hamasaktivisten sind, die nebenan trainieren. Die meisten der
Fatahaktivisten wollen einen Entscheidungskampf mit der Regierung
und Hamas. Sie glauben, dass die Hamas und ihre Regierung mit jedem
Tag, der vergeht, stärker werden.
Und während M. das Training seiner Rekruten mit Nachdruck betreibt,
prüfen auch die Hamas-Ausbilder ihre Rekruten in Dutzenden von
ähnlichen Trainingslagern im Gazastreifen auf Herz und Nieren.
Allerdings versuchen die Hamasaktivisten ihrerseits Zurückhaltung
darzustellen und halten Abstand von Äußerungen, die ein Feuer
auslösen könnten. "Von oben kam der Befehl, keine Interviews zu
geben", sagen sie.
hagalil.com 11-04-2006 |