Antisemitismusvorwurf:
Kritik an Israel darf kein Tabu sein
Der israelische Publizist und
Friedensaktivist Uri Avnery warnt davor, jede Kritik an Israel
pauschal mit Antisemitismus gleichzusetzen. Gerade die Deutschen
sind aufgrund des Holocaust moralisch dazu verpflichtet, gegen
Unrecht aufzutreten.
Von Uri Avnery
"Wer Jude ist, bestimme ich!", sagte der
antisemitische Bürgermeister Wiens, Karl Lueger, vor hundert Jahren.
Jetzt hat sich der Spieß umgedreht: "Wer Antisemit ist, bestimmen
wir." Es ist für die Regierung Israels sehr bequem, jede Kritik an
ihrer Politik im Ausland als antisemitisch zu stigmatisieren - auch
wenn die Kritiker dasselbe sagen wie viele Israelis. Natürlich gibt
es überall in Europa Antisemiten. Natürlich ist ihr Gedankengut
ekelhaft. Natürlich versuchen sie, die Entrüstung über die
israelische Politik auszunutzen. Ist das ein Grund, jegliche Kritik
an Israel zu tabuisieren? Wir Israelis wollen ein Volk wie alle
Völker sein, ein Staat wie alle Staaten, und Israel muss mit
denselben moralischen Maßstäben wie jeder andere Staat gemessen
werden.
Dürfen Deutsche Israel kritisieren? Um Himmels
willen, warum denn nicht? Das Schreckliche, was Deutsche den Juden
vor 60 Jahren angetan haben, hat mit der heutigen israelischen
Politik nichts zu tun. Daraus den Schluss zu ziehen, Deutsche
müssten schweigen, wenn sie glauben, dass wir Unrecht begehen, ist
unmoralisch. Das Vermächtnis des Holocaust sollte sein, dass gerade
Deutsche mehr als andere gegen Unrecht auftreten, ganz egal, wo es
passiert.
Man tut uns keinen Gefallen, wenn man uns nicht
kritisiert. Wer einen Menschen liebt, darf und muss ihm die Wahrheit
ins Gesicht sagen. Deutsche, die für die Existenz Israels sind,
sollten die Ersten sein, diejenigen Israelis zu unterstützen, die
für Frieden und Gerechtigkeit kämpfen.
Man darf Israel also nicht nur kritisieren, man muss
es sogar tun. Die Frage ist, von welchem Standpunkt aus übt man
Kritik. Bejaht man das Existenzrecht Israels, oder zielt die Kritik
darauf, dies Israel abzusprechen. Wenn man sein Land liebt, dann
muss es gestattet sein, die Politik seiner Regierung zu kritisieren.
Natürlich gibt es Antisemitismus, aber ich warne davor, das mit
Kritik an Israel gleichzusetzen.
Nein, Antisemitismus hat Merkmale, die klar erkennbar
sind, Kritik an Israel zu üben, gehört nicht dazu. All jene, die nur
allzu leichtfertig überzogene Antisemitismusvorwürfe austeilen,
vergessen die Gefahr, dass dann die wahren Antisemiten unerkennbar
werden. Auf keinen Fall darf der Holocaust für politische Zwecke
missbraucht werden - weder von Israelis noch von denen, die Israel
kritisieren. Dieser industrialisierte Völkermord eines modernen
Staates ist einmalig, er ist mit nichts zu vergleichen. Wenn
israelische rechtsradikale Demagogen behaupten, Arafat sei ein
zweiter Hitler gewesen, so ist das genauso zu verdammen wie die
Behauptung, Israel wende nazistische Methoden an.
Es gibt kein Auschwitz im Nahen Osten, weder ein
israelisches noch ein arabisches. Auch kein Dachau. Jede
Funktionalisierung des Holocaust zu politischen Zwecken ist
unbedingt abzulehnen. Man kann Israel vorwerfen, es führe einen
Kolonialkrieg im Westjordanland, oder man kann es der Apartheid
zeihen, man kann viele schwere Vorwürfe formulieren. Israel aber
beispielsweise vorzuwerfen, es wende Nazimethoden an, ist absurd.
Der Holocaust war geschichtlich etwas Spezifisches, ihm fielen 6
Millionen Menschen zum Opfer.
Der palästinensische Intellektuelle Edward W. Said
hat einmal gesagt, ein Araber könne sich nicht mit Israel
auseinander setzen, wenn er den Holocaust nicht versteht. Araber
haben allerdings ein verständliches Problem damit, denn der
Holocaust wird in der israelischen Propaganda gegen die
Palästinenser verwendet. Das führt natürlich leicht zur arabischen
Gegenreaktion, den Holocaust zu verharmlosen oder zu leugnen.
Mit europäischem Antisemitismus hat das allerdings
nichts zu tun. Ich glaube übrigens, dass Deutschland seine
Vergangenheit noch nicht überwunden hat, daher dieser ungesunde
Zustand, der jede normale Diskussion über den Palästinakonflikt in
Deutschland unmöglich macht. Wenn ich Deutscher wäre, würde ich die
Politik Israels in vielem ablehnen, und ich hoffe, ich hätte den
Mut, dann auch zu sagen, was ich hier und heute als Israeli
vertrete. Eigentlich hätte doch jede deutsche Partei die
Möglichkeit, die wirkliche Situation in Israel und Palästina zur
Kenntnis zu nehmen. Sie haben jedoch alle Angst davor, als
antisemitisch bezeichnet zu werden.
Kein Mensch auf der Welt braucht zwischen Israel und
Palästina zu wählen. Man kann - und soll - für beide sein. Die
wahren Interessen Israels und Palästinas stehen nicht im
Widerspruch, denn beide Völker brauchen Frieden. Die Eskalation der
Gewalt und die gegenseitigen Gräueltaten, die täglich begangen
werden, können uns alle ins Unglück stürzen. Um zu einer
vernünftigen Lösung zurückzukommen, brauchen wir, Israelis und
Palästinenser, die Unterstützung Europas, auch Deutschlands, für
eine Politik der Versöhnung und des Ausgleichs. Wer eine der beiden
Seiten, Israel oder Palästina, einseitig und bedingungslos
unterstützt, hilft keinem. Wer Israel in diesem Sinne, aus dieser
Gesinnung heraus, kritisiert, tut eine gute Tat. Ihn als Antisemiten
zu beschimpfen, ist gemein und auch schädlich, denn damit
bagatellisiert man den Antisemitismus. Wirkliche Antisemiten sind
leicht zu erkennen. Sie haben einen Stil, der unverkennbar ist. Es
ist eine Art kollektiver Geisteskrankheit, die mit Logik nichts zu
tun hat.
Wenn ein Araber glaubt, die Antisemiten seien seine
Freunde, dann irrt er sich gewaltig. Das Wort "Antisemitismus" ist
nur wenige Jahre vor dem Wort "Zionismus" geprägt worden. Der
Zionismus war eine klare Reaktion auf den modernen europäischen
Antisemitismus, und die russischen Pogrome haben die ersten Siedler
nach Palästina getrieben. Der Holocaust hat die Errichtung des
Staates Israel schließlich beschleunigt und vielleicht erst möglich
gemacht.
In den letzten Jahren hat auch der russische
Antisemitismus eine Million Einwanderer nach Israel gebracht, wo
viele von ihnen in den besetzten Gebieten auf enteignetem
palästinensischem Boden angesiedelt worden sind. Jetzt wird der
erneute Antisemitismus wieder Juden aus Frankreich und auch aus
Deutschland nach Israel bringen. Der Antisemitismus ist der Feind
der Juden. Er ist aber auch ein Feind der Araber.
URI AVNERY, Jahrgang 1923, ist einer der
bekanntesten israelischen Journalisten und Politiker. 2001 erhielt
er den Alternativen Nobelpreis.
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Jüdische Porträts:
Uri Avnery
Journalist und Politiker, Tel Aviv. Geb. am
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23-01-2006 |