Zunehmender Rechtsextremismus in Thüringen:
Ein tiefes Niveau der Unmenschlichkeit
Gegen den Aufmarsch von ca. 350 Nazis traten ungefähr genauso
viele Gegendemonstranten, darunter zahlreiche Landtagsabgeordnete auf. Im
Einsatz waren rund 900 Beamte aus Thüringen, Sachsen, Hessen und von der
Bundes-Polizei (ehem. Bundesgrenzschutz). Der Thüringer Landtag forderte von
der Landesregierung wirksame Schritte gegen die zunehmenden
rechtsextremistischen Tendenzen im Freistaat.
Im Folgenden ein Redebeitrag unseres Lesers M. Stade,
gehalten am 01.04.2006 in Arnstadt, anlässlich einer bürgerlichen
Gegenkundgebung zu einem Aufmarsch der Nazis:
Es gibt viel Armut auf der Welt und viele Konflikte. Aber
normaler Weise begegnen sich Menschen mit Freundlichkeit und
Hilfsbereitschaft. Wenn Menschen Feindschaft üben, dann meist aus
schwerwiegenden Gründen, weil Krieg herrscht, weil Kriegsfürsten und
Diktatoren Konflikte schüren. Feindschaft wird erst zum Selbstläufer, wenn
solche Konflikte eskalieren.
Bei uns ist es umgekehrt.
Wir haben eine Regierung, die um gute Beziehungen in alle Welt bemüht ist.
Niemand ist von Hunger bedroht. Ausländer haben in Westdeutschland am
wirtschaftlichen Aufstieg mitgewirkt. In Ostdeutschland ist ihre Zahl so
gering, dass sie kaum Einfluss auf die wirtschaftliche Situation haben.
Niemand hat bei uns einen Grund, einen Menschen, welchen er nicht kennt,
anzufeinden. Und überall auf der Welt, wo Frieden herrscht, werden Menschen,
die man nicht kennt, erst einmal höflich und hilfsbereit behandelt.
Aber bei uns werden sie abweisend und unhöflich behandelt.
Sie werden diskriminiert.
Menschen, denen man sofort ansieht, dass sie Ausländer sind, können kaum
eine Tanzveranstaltung besuchen, ohne angepöbelt zu werden.
Auf Geschäfte zahlreicher ausländischer Ladenbesitzer wurden Brandanschläge
verübt.
Aber nicht genug, dass sich Ausländer Abends kaum noch auf die Straße trauen
können.
Seit neuestem sind sie nicht einmal mehr in der eigenen Wohnung sicher.
Schlägertrupps klingen, stellen den Fuß in die Tür, dringen in die Wohnung
ein, schlagen die Familien zusammen und verwüsten die Wohnung.
So etwas muss jeden zutiefst beschämen, dem das Ansehen unserer Heimat am
Herzen liegt.
Wenn es darum ginge, aus wirtschaftlichen und politischen Gründen
Einwanderung zu begrenzen, dabei ist die Politik unserer Regierung sehr
erfolgreich.
Die Zahl der Flüchtlinge, die in Deutschland Asyl beantragen, ist seit
Jahren rückläufig. Es gibt überhaupt keinen Grund, diese Menschen schlecht
zu behandeln oder gar anzufeinden.
Eine solche Anfeindung geht aber von der Mehrheit unserer Bevölkerung aus.
Und weil das so ist, deswegen orientieren sich Jugendliche rechtsextrem.
Neonazis denken von sich, dass sie das machen, was die Mehrheit der
Deutschen aus tiefstem Herzen will.
Das denken sie wirklich.
Und nur, weil sie sich dabei bestätigt finden, nur deswegen nimmt ihr
Einfluss ständig zu.
Die meisten Menschen sind darüber ratlos. Sie wollen gar keine
Menschenfeindlichkeit und keine Nazis. Wirklich nicht!
Es ist so, als hätten wir ein ansteckendes Virus in unserer Gesellschaft.
Jeder gibt es weiter, jeder trägt es in sich. Und manchmal bricht dadurch
eine Krankheit aus. In den Zeiten des Wirtschaftswachstums ist die Krankheit
nur selten ausgebrochen, aber jetzt wird sie wieder gefährlich. Die
wirtschaftlichen Probleme sind nicht der Grund, die begünstigen nur den
Ausbruch der Krankheit.
Die Ursache ist das Virus.
Das Virus haben wir schon mehr als 100 Jahre.
Nur durch das Virus konnten die Nazis in Deutschland solche Verbrechen
begehen. Faschismus gab es auch in anderen Ländern. Aber nur in Deutschland
hat er zur industriellen Massenvernichtung, zum Holocaust geführt.
Nur wir Deutschen haben ein solch tiefes Niveau der Unmenschlichkeit
erreicht, dessen wir uns Jahrhunderte lang noch schämen müssen. In unserem
Land werden heute schon wieder Menschen so bedroht, wie Juden um 1930. Das
ist mehr als beschämend.
Aber für diese Entwicklung gibt es Ursachen. Bei Ratlosigkeit und Entsetzen
dürfen wir nicht stehen bleiben. Wir müssen die Ursachen finden.
Glauben Sie, dass wir Deutschen den Hang zum Nazi in uns tragen wie einen
genetischen Fehler? Manche glauben das inzwischen, ich glaube es nicht.
Möglicherweise haben wir mehrere Viren, aber ein Virus, das möchte ich
benennen. Es ist ein Denkschema, bei uns weit verbreitet, ich nenne es
Gruppenverurteilung.
Gruppenverurteilung haben wir, wenn gesagt wird:
- die Polen klauen
- die Ausländer nutzen uns aus
- die Politiker sind Verbrecher
- die Arbeitslosen sind Sozialschmarotzer
- die Muslime sind Terroristen
- die Kapitalisten sind Ausbeuter
- die Beamten sind faul
Gruppenverurteilung hat nichts mit einer politischen Meinung und auch nicht
zwingend mit Ausländerfeindlichkeit zu tun. Es ist einfach die Gewohnheit,
dann, wenn wir Menschen verurteilen, erst einmal nachzusehen, ob man diese
nicht irgend einer Gruppe zuordnen kann, einer Gruppe, mit der man selbst
nichts zu tun hat. Ob das ein Volk, eine Schicht oder eine
Religionsgemeinschaft ist, das ist egal.
Der Kern der Sache ist, dass wir Unschuldige verurteilen. Denn mit
Sicherheit gibt es innerhalb der Gruppen, denen wir die Taten Einzelner
anlasten, auch Menschen, die solche Taten niemals begangen haben und auf die
unser voreiliges Urteil überhaupt nicht zutrifft.
Und diese Menschen verletzen wir in ihrer Menschenwürde, wir diskriminieren
sie - zu unrecht!
Und dieses Unrecht hat Folgen. Es ist Ursache für Spannungen und
Gegengewalt, es ist Ursache dafür, das Konflikte eskalieren und Feindbilder
entwickelt werden.
Und die Gruppenverurteilung reproduziert sich selbst, wobei sie sich
verstärkt, weil unsere Diskriminierung die Menschen, die als Gruppe
verurteilt werden, dazu bringt, die Vorurteile zu bestätigen.
Deswegen: Schluss mit Gruppenverurteilungen. Pauschalierende Verurteilung
von Menschengruppen darf nicht akzeptiert werden! Sie steht am Anfang eines
Prozesses, an dessen Ende Menschenvernichtung steht.
1930 war jede abfällige Bemerkung über Juden, jeder Witz, der antisemitische
Klischees bedient hat, jedes beifällige Nicken zu Hassreden ein Beitrag zu
den Verbrechen des Holocaust. Gruppenverurteilungen ist eine Wurzel des
Nationalsozialismus, wir müssen beginnen, sie aus unseren Gewohnheiten
auszurotten
Wer an Gruppenverurteilung teilnimmt, beschädigt den sozialen Frieden, und
das ist schlimmer als Sachbeschädigung. Wenn Wände besprüht werden, dann
regen wir uns auf. Zu recht, das will ich gar nicht bestreiten.
Aber wenn Menschen beschädigt werden, dann regen wir uns nicht auf, und das
ist katastrophal! |