Alles schon gelaufen:
Der langweiligste Wahlkampf Israels
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
Vier Lieferwagen mit grünweißen Plakaten der
antireligiösen Schinui-Partei standen mit Särgen auf dem Dach vor dem Tor
der Hebräischen Universität in Jerusalem. Die länglichen Holzkisten waren in
die blauweiße Staatsflagge mit dem Davidstern gehüllt. "Wir fordern
weltliche Beerdigungen", hieß es auf den Plakaten.
Das war gestern das einzige Anzeichen eines Wahlkampfes in ganz Jerusalem.
Längst haben die angeheuerten Jugendlichen die Straßenkreuzungen geräumt, wo
sie den Autofahrern Spruchbänder mit Logos der wahlkämpfenden Parteien
entgegenhielten. Stickers auf den Stoßstangen rufen noch zu Widerstand gegen
den Rückzug aus Gaza im vergangenen August auf, nicht aber zur Wahl von MCL,
G, ZH, TB oder K, den willkürlichen Buchstabenkombinationen der Parteinamen
auf den Wahlzetteln.
Da heißt die Arbeitspartei "Wahrheit". Grüne verwenden den Buchstaben "Z",
auf Hebräisch auch die Bezeichnung des männlichen Gliedes. Bei früheren
Kampagnen waren Autos mobile Litfasssäulen. Die letzte Hoffnung der
Parteien, teure Werbefilmchen im Fernsehen, einst der absolute Renner mit
höchsten Einschaltquoten, waren ein Rating-Killer: langweilig, irrelevant
und nicht einmal witzig.
Die Installation mit den Särgen auf den Dächern der Lieferwagen der
Schinui-Partei war makaber und lächerlich zugleich. Denn gemäß Umfragen wird
sich die einst drittgrößte Partei Israels in Luft auflösen und an der
zwei-Prozent-Hürde scheitern. So dürfte Ihr nicht einmal ein jüdisches
Begräbnis beschert sein.
Der Wahlkampf war langweilig, weil alles für die 5,014,622 Wahlberechtigten
"gelaufen" schien. Ministerpräsident Ariel Scharon stand infolge des
Rückzugs aus dem Gazastreifen auf dem Höhepunkt seiner Popularität. Seine
Abtrennung von den rückwärtsgerichteten "Meuterern" der Likudpartei brachte
ihm in Umfragen bis zu 45 Mandate für die neugegründete Kadima (Vorwärts)
ein. Spitzenkräfte der Arbeitspartei schlossen sich Scharon an, so auch
Schimon Peres, inzwischen 82-jährig. "Peres ist die einzige Konstante in der
israelischen Politik. Der wird auch noch im Jahr 2096 antreten und wieder
die Wahl verlieren", lachen israelische Experten bei einem
Hintergrundgespräch. Der Friedensnobelpreisträger und "ewige Politiker" hat
noch nie eine Wahl gewonnen.
Nach Kadima dümpelten weit abgeschlagen die Arbeitspartei mit weniger als 20
Mandaten und nach ihr die rechte Likudpartei unter Benjamin Netanjahu mit
weniger als 14 Mandaten. Der aus Marokko stammende und mit seinem
Schnurrbart wie Stalin aussehende neue Chef der sozialistischen
Arbeitspartei, Amir Peretz, verprellte die traditionellen Wähler der
wohlhabenden Oberschicht mit Kampfparolen aus seiner Zeit als
Gewerkschaftschef. Er verteilte Tausend-Dollar-Scheine, auf deren Rückseite
er ein Anheben des Mindestlohns auf 1000,- Dollar forderte. "Wenn wir Peretz
wählen, kriegen wir tausend Dollar", missverstand eine jugendliche
Parteiaktivistin den falschen Geldschein mit der sozialistischen Botschaft.
Likudchef Netanjahu hatte als Finanzminister unter Scharon den sozial
schwachen Schichten die Hälfte ihrer Zuwendungen gestrichen, also
ausgerechnet der traditionellen Likudwähler. Jetzt verflüchtigt er sich in
Beschuldigungen gegen die Presse wegen angeblicher Kampagnen gegen seine
Person.
So ganz glücklich ist auch Ehud Olmert nicht, der nahtlos das Erbe Scharons
antrat und versprach, dessen Plan zur einseitigen Abtrennung von den
Palästinensern fortzuführen. Bis zum Jahr 2010 will er Israel "endgültige
Grenzen" schenken und die Palästinenser ihrem Schicksal überlassen. Der
Höhenflug von Kadima litt unter Gegenwind. Die vorausgesagten Mandate sanken
von 45 auf nur noch 35. Niemand weiß genau, warum. Kein Umfrageinstitut wagt
mehr, das Wahlergebnis am Dienstag um 21 Uhr MEZ vorherzusagen. Denn ein
Viertel aller Israelis ist unentschieden und ein Drittel will gar nicht
wählen. Eine geringe Wahlbeteiligung dürfte vor allem die bisher kaum
beachteten "kleinen Parteien" stärken: Fromme, Araber, Grüne und Exoten.
Der Wahlkampf war langweilig, obgleich es nicht an brisanten Themen
mangelte. Sieben Abgeordnete wurden während des Wahlkampfes wegen Korruption
und Betrug angeklagt oder rechtskräftig zu Gefängnisstrafen verurteilt,
darunter Scharons Sohn Omri, Naomi Blumental vom Likud und Jair Peretz von
der frommen Schasspartei. Olmerts Rückzugspläne aus dem Westjordanland
wurden nicht wirklich diskutiert und auch nicht die Not eines Drittels der
israelischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Die Vogelgrippe beherrschte
die Schlagzeilen und verhinderte Anschläge mit dutzenden Kilo Sprengstoff in
Gürteln von Selbstmordattentätern auf dem Weg nach Jerusalem und Tel Aviv.
"Selbst wenn es zu einem schweren Anschlag mit vielen Toten kommen sollte,
ist unklar, welche Partei profitieren würde", sagen die Experten. "Es könnte
Olmert stärken, weil er sich von den Palästinensern abtrennen will. Es
könnte genauso Netanjahu helfen, weil der weiter in den besetzten Gebieten
siedeln und die Palästinenser unter Kontrolle halten will." Selbst der
Wahlsieg der Hamas in den Palästinensergebieten jenseits von Zaun und Mauer
berührt noch die wenigsten Israelis, nachdem fünf Jahre Intifada sogar bei
den Linken der Meretzpartei fast jeglichen Glaube an einen verhandelten
Frieden zerstört haben.
© Ulrich W. Sahm / haGalil.com
hagalil.com 25-03-2006 |