Skeptisch, Wankend, Impulsiv oder listig:
Die Wähler in Israel
Kolumne von Yoel Marcus, Ha'aretz, 21.03.2006
Übersetzung Daniela Marcus
Eine Woche vor den Knessetwahlen in Israel bietet Yoel
Marcus einen - augenzwinkernden - Überblick über die israelischen Wähler und
ihr Wahlverhalten.
1) Der Deserteur – Dies ist unsere erste Wahl, die auf
Massendesertion basiert. Eine Partei in der Größe von "Kadima" entsteht
nicht aus dem Nichts. Sie ist aus Deserteuren zusammengesetzt. Deserteure
aus der Partei Likud; Deserteure aus der Partei Avodah; Deserteure aus der
Partei Shinui, die als leere Schale zurückgelassen wird. Deserteure von
rechts, Deserteure von links. Sogar aus der Partei Meretz. Es liegt jedoch
in der Natur von Deserteuren, dass sie von Schuldgefühlen geplagt werden. In
letzter Minute neigen sie dazu, nach Hause zurückzulaufen. Dies mag
besonders auf diejenigen zutreffen, die sich um Scharon geschart haben und
jetzt Olmert auf dem Hals haben. 44 Sitze? 42 Sitze? Das letzte Wort ist
noch nicht gesprochen.
2) Der Verbitterte – Dies ist der Wähler, der weint und
klagt. Er hat kein Geld für Medizin. Die Bank lässt ihm keine Ruhe. Die
Hypothek nimmt kein Ende. Was er auf der anderen Seite sieht ist das Dolce
Vita. Teure Zigarren. Nobelkarossen. Der Staatssäckel, der gemolken wird. Er
wird sich nicht die Mühe machen, wählen zu gehen. Seiner Meinung nach sind
sie sowieso alle Dreck.
3) Der Rachedurstige – Sein ganzes Leben lang war er der
gleichen Partei gegenüber loyal. Nun ist er zu dem Schluss gekommen, dass
sie niemals etwas für ihn getan hat. Sie hat nur seine Abhängigkeit von
einem Arbeitsplatz ausgenutzt, um seine Stimme zu bekommen. Die Avodah hat
ihn im Stich gelassen. Netanyahu hat ihn finanziell reingelegt und Scharon
verraten. Scharon hatte einen Schlaganfall. Aus Rache wird er eine der 31
Parteien wählen, die keine Chance haben, einen Sitz in der Knesset zu
erhalten. Vielleicht die Partei Aleh Jarok (Grünes Blatt).
4) Der Schwankende – Wenn sich all die schwankenden Wähler
zusammentun würden, könnten sie eine neue Partei gründen, nämlich die
"Ich-bin-nicht-ganz-sicher"-Partei. Es gibt zwei Arten von Schwankenden: den
authentischen Schwankenden, der sich wirklich noch nicht entschieden hat und
es genießt, umworben zu werden; und den rationalen Schwankenden, der sich
anhand der Umfragen ausrichtet: Avodah in der Regierung, ja, aber nicht zu
stark; Kadima, ja, jedoch nicht durch einen Erdrutschsieg, damit ihr dieser
nicht in den Kopf steigt. Die Erfahrung vergangener Jahre hat gezeigt, dass
die Schwankenden am Ende die entscheidenden Stimmen liefern.
5) Der Skeptiker – Er war es gewohnt Parteien zu wählen, die
das antiquierte und rostige Establishment herausforderten: Dasch
(demokratische Bewegung für Veränderung), Shinui A, Shinui B. Er
unterstützte eine Turnusregierung, doch dies endete mit üblen Tricks. Die
nächste Generation –Bibi und Barak- war eine Enttäuschung. Keine
Versprechungen wurden gehalten, keine U-Bahn, keine Eisenbahnlinie nach
Eilat. Die Regierung brachte keine Verbesserungen. Die Verkehrsunfälle
wurden nicht weniger. Der Verrat des Stammwählers zahlte sich nicht aus. Er
sehnt sich danach, wieder nach Hause zu gehen. Zurück zu den Tagen von Levi
Eshkol und Pinhas Sapir. Er wird die Wahlkabine betreten, eine Träne
vergießen und "Ich hab' die Nase voll von Mapai" auf den Wahlzettel
schreiben.
6) Der Spitzfindige – Er spricht ohne Unterbrechung über
Politik. Er besucht jede Parteiveranstaltung. Er sieht sich alle
Partei-Werbespots im Fernsehen an. Er wettet mit seinen Freunden um die
Wahlergebnisse. Er mischt sich unter die großen Tiere. Politische Tiere im
wahrsten Sinn des Wortes. Doch bei der Wahl wird er einen leeren Wahlzettel
abgeben und vor sich hinmurmeln: "Ihr könnt mich alle mal."
7) Der Rassist – Er unterstützte Herut und Likud und mokierte
sich mit ihnen als David Levy davon träumte, Menachem Begin zu beerben. "Ein
marokkanischer Erbe Begins?" fragte er entsetzt und wechselte zur Avodah. Er
ging mit der Partei durch Dick und Dünn bis eines Tages Amir Peretz gewählt
wurde. Was? Ein marokkanischer Parteiführer? Ein Marokkaner, der
Premierminister werden will? Er wird Lieberman von der rechten Partei Israel
Beitenu wählen.
8) Der Impulsive – Ein freier Tag? Ein Tag ohne Arbeit? Toll.
Er lässt sich Zeit. Die Wahlurne wird nicht davon rennen. Er schlendert die
Straße entlang und sieht eine lange Schlange vor dem Wahllokal. Er setzt
sich in ein Café. Dort erinnert er sich an seine fünf unbezahlten
Strafzettel für unerlaubtes Parken und daran, dass bereits zum zehnten Mal
in seine Wohnung eingebrochen wurde. Plötzlich taucht ein Freund auf und
fragt: "Wen wählst du?" "Du würdest es mir doch nicht glauben, wenn ich es
dir sage", erwidert er geheimnisvoll. Dann geht er nach Hause und sieht
fern. Es macht nichts, dass er nicht wählt. Hauptsache die Leute denken, er
hat gewählt.
9) Der (Ex-) Bibi-Wähler – Er ist ein loyales Mitglied des
Likud, bis zurück zu den Tagen der zionistisch-revisionistischen
Jugendorganisation Betar. Er hat niemals eine Versammlung des
Zentralkomitees des Likud verpasst und war immer dabei wenn sich die
Gelegenheit bot, im Chor "Grüßet den König von Israel" zu singen. Doch er
wird Bibi niemals vergeben, dafür, dass er Barak an die Macht gebracht hat
und dann verschwunden ist, dafür, dass er die Unterprivilegierten reingelegt
hat, dafür, dass er der Avodah den Rückweg zur Macht (gemeinsam mit Kadima)
geebnet hat. Zum ersten Mal in seinem Leben wird er nicht Likud wählen.
10) Der Listige – "Wen wirst du wählen?" fragen ihn die
Meinungsforscher immer wieder, zuerst vor den Vorwahlen der Avodah und nun
vor den Knessetwahlen. Und jedes Mal sagt er ihnen das Gegenteil von dem,
was er denkt - er sagt niemals die Wahrheit. Da für eine normale Umfrage 500
Menschen befragt werden, repräsentiert seine Antwort jedes Mal 10.000
Wähler. Das erklärt, warum Peres dachte, er würde gewinnen und warum es
Peretz schließlich tat. Nun wartet der Listige darauf, ob seine
Überraschung, die er für Kadima vorbereitet hat, wie geplant ausfällt.
hagalil.com 21-03-2006 |