Trainingskibbuz Zettlitz:
Jüdischer Neubeginn in Oberfranken
Im Oktober 1945 wurde in Zettlitz der erste Nachkriegskibbuz in Franken
gegründet – Jüdische Dokumentarfilmer bannten das Kibbuzleben auf Zelluloid
Von Jim G. Tobias
Abseits der vielbefahrenen Autobahn nach
Berlin, unweit der Wagnerstadt Bayreuth, liegt ein kleines, unscheinbares
Dorf. Dorthin verirren sich nur wenige Großstädter. Dieser Teil Frankens hat
keine touristischen oder kulturellen Besonderheiten zu bieten. Und dennoch
hat Zettlitz von einem außergewöhnlichen Ereignis zu erzählen. In der damals
noch eigenständigen Kommune - mittlerweile ist Zettlitz ein Ortsteil der
Stadt Bindlach - gründete im Oktober 1945 eine Gruppe jüdischer Überlebender
des Holocaust den ersten Trainingskibbuz in Nordbayern.
Nur wenige Monate nach Kriegsende, im Herbst
1945, hatte die amerikanische Besatzungsmacht einige fränkische Bauernhöfe
beschlagnahmt und sie jüdischen DPs, Displaced Persons (zu Deutsch:
verschleppte und entwurzelte Menschen), zur Verfügung gestellt. Die
requirierten Gehöfte befanden sich zumeist im Besitz aktiver Nazis. Die
neuen Bewohner verwandelten die Farmen in landwirtschaftliche
Ausbildungszentren, denn in Palästina sollten aus Wüsten blühende Felder
entstehen. Zum Aufbau des Staates Israel benötigte man nämlich gut
ausgebildete Bauern.
Obwohl das europäische Judentum nach 1945
faktisch nicht mehr existent war, kam es dennoch in Deutschland zu einer
Wiedergeburt dieser vernichteten Welt: In der unmittelbarer Nachkriegszeit
hielten sich über 180.000 Juden im Land der Täter auf. Darunter befanden
sich etwa 50.000 Überlebende aus den befreiten Konzentrations- und
Zwangsarbeiterlagern. Die Mehrheit aber stellten jüdische Flüchtlinge aus
Osteuropa, die vor antisemitischen Übergriffen in ihren Heimatländern in das
besetzte Deutschland geflüchtet waren. Diese Menschen hatten während des
Krieges im sowjetischen Exil oder im Untergrund überlebt. Aufgrund ihres
besonders schweren Verfolgungsschicksals ordnete US-Präsident Truman im
Sommer 1945 den Aufbau von rein jüdischen Auffanglagern an. Diese Camps
wurden von der "United Nations Relief and Rehabilitation Organization"
beziehungsweise der Nachfolgerin "International Refugee Organization"
verwaltet. Die Amerikaner gestatteten den jüdischen Bewohnern allerdings
eine weitgehende Selbstverwaltung.
In Franken sind rund 30 jüdische Displaced
Person Camps nachzuweisen, in denen rund 16.000 Holocaust-Überlebende auf
eine Ausreisemöglichkeit nach Israel oder andere Emigrationsländer warteten.
Eine Besonderheit waren die 18 Kollektivfarmen, auf denen die Juden eine
landwirtschaftliche Ausbildung erhielten. Viele dieser Trainingskibbuzim
befanden sich auf dem Gebiet der ehemaligen Landkreise Pegnitz und Bayreuth.
Triebfeder und Mentor bei der Einrichtung der
jüdischen Bauernschulen in Franken war ein amerikanischer Militärrabbiner.
Der "Chaplain" Abraham Spiro entstammte einer der bedeutendsten polnischen
Rabbinerfamilien. Er emigrierte noch vor dem Zweiten Weltkrieg in die USA.
Sein Bruder David blieb in Polen. Abraham Spiro kam mit der siegreichen
amerikanischen Armee nach Europa zurück. Unter den befreiten Häftlingen des
Konzentrationslagers Dachau erkannte er seinen schwerkranken Bruder David.
Die Brüder Spiro verschlug es nach Franken.
David wurde Gemeinderabbiner in Fürth, während Abraham seinen Dienst in der
US-Distriktverwaltung in Bamberg aufnahm. Neben seiner seelsorgerischen
Arbeit engagierte sich der "Chaplain" für die in Franken gestrandeten Juden.
Auf seine Initiative hin konnten nur wenige Monate nach Niederschlagung des
Nationalsozialismus etwa 30 ehemalige jüdische KZ-Häftlinge und Partisanen
ihr vorübergehendes Zuhause in Zettlitz beziehen. Die Gründung des Kibbuz
Geulim (hebr. Erlösung) sorgte für Schlagzeilen; neben ausführlichen
Reportagen in der jüdischen Presse berichtete auch die US-Soldatenzeitung
"Stars and Stripes" darüber.
In deutschen Archiven sucht man hingegen
vergeblich nach Unterlagen, die Auskunft über die erste jüdische
Trainingsfarm in Nordbayern geben könnten. Nur das "American Jewish Joint
Distribution Committee" (AJDC) und die Archive des "YIVO Institute for
Jewish Research" in New York verfügen über umfangreiche Dokumente. Damit ist
es möglich, ein vergessenes Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte
wieder lebendig zu machen. Insbesondere die archivierten Ausgaben der in
Bamberg verlegten jiddisch-sprachigen Wochenzeitung "Undzer Wort" sind eine
wahre Fundgrube.
In der Ausgabe vom 23. Mai 1947 findet sich
unter der Rubrik "Fun Rajon Lebn" folgende Notiz: "Der Kibbuz war
nicht nur der erste in Franken, wir haben auch die ersten 35 Chawerim
(Genossen) ins Land Israel geschickt", berichtete ein Sprecher der
Kollektivfarmer stolz. Den illegalen Palästinasiedlern gelang es - trotz
britischer Blockadepolitik - in der Nähe des See Genezareths eine erste
Siedlung zu etablieren. Erst nachdem die englische Mandatsmacht im Mai 1948
den Juden den eigenen Staat nicht mehr verwehren konnte, war eine
ungehinderte Übersiedlung nach Israel möglich. Die Kibbuzniks von Zettlitz
verfügten jedoch schon im Frühsommer 1946 über eine "Filiale am See
Genezareth".

Bewohner
des Kibbuz Geulim (hebr. Erlösung)
Repro © jgt-archiv
Am 25. Oktober 1946 berichtete "Undzer Wort"
erstmals über "Das Pionierleben im Kibbuz Geulim". "110 Chawerim haben die
Ausbildung bereits erfolgreich hinter sich gebracht", so meldete die
Zeitung. "Auf einem Teil des Ackerbodens haben wir einen Garten
eingerichtet. Wir versorgen die jüdischen Trainingsfarmen in der Gegend mit
frischem Gemüse", zitiert der Journalist einen Kibbuznik. "Auf dem
restlichen Land werden neben Rüben, als Futter für die 12 Milchkühe,
Kartoffeln, Weizen, Gerste und Hafer angebaut."
Doch nicht nur die harte landwirtschaftliche
Arbeit bestimmte das Leben der jüdischen Kollektivfarmer. Der Kibbuz
verfügte über eine eigene Abendschule in der täglich - außer am Schabbat -
Hebräisch, Palestinografie und Mathematik gelehrt wurden. Auch das
kulturelle Leben kam nicht zu kurz. Freitagabends versammelte man sich im
"Lesesaal" und sang hebräische Lieder und tanzte Hora. Daneben referierten
Vertreter zionistischer Organisationen regelmäßig über jüdische Politik und
Kultur.
Ein weiteres Zeugnis zur fränkischer
Nachkriegsgeschichte befindet sich im "Jewish Film Archive" Jerusalem. Im
Jahre 1946 bannten jüdische Dokumentarfilmer die Zettlitzer Kibbuzniks auf
Zelluloid. Der viertelstündige 35-mm-Streifen "Das ist unser Volk" berichtet
über die Aktivitäten der befreiten Juden im Lande der Täter. Stellvertretend
für die zahlreichen Lehrfarmen im besetzten Nachkriegsdeutschland wird in
einer etwa 3-minütige Sequenz die Arbeit der Zettlitzer Bauernschüler
dargestellt.
Durchschnittlich lebten von Oktober 1945 bis
Januar 1948 rund 70 Menschen auf der jüdischen Farm. Die endgültige
Schließung erfolgte im Juni 1948. Kurz nach der Gründung des Staates Israel
verließen die letzten DPs den Hof. Mit der Existenz des Judenstaates waren
die "Wartesäle" nun überflüssig; die Überlebenden des Holocaust betrachten
ihre vorübergehende Heimat nur als eine Durchgangsstation. In den
zahlreichen Camps und Kibbuzim hatten die an Leib und Seele gequälten
Menschen jedoch die Möglichkeit, wieder zu Kräften zu kommen und sich auf
ihr neues Leben in Israel vorzubereiten.
Buchhinweis:
In seinem Buch "Vorübergehende Heimat im Land
der Täter – Jüdische DP-Camps in Franken 1945-1949" dokumentiert der Autor
ausführlich die damalige Lebenssituation und -wirklichkeit der Juden in den
fränkischen "Wartesälen". Der Band kostet 22,80 Euro und kann in jeder
Buchhandlung oder beim
Verlag
bestellt werden (ISBN 3-9806636-3-9).
Nakam":
Jüdische Rache an NS-Tätern
Rache als Mittel, das den Schmerz zwar
nicht aufheben, wohl aber dämpfen und lindern kann. Viele dachten, daß sie
nur deshalb die Konzentrationslager überlebt hatten, um Rache für die
ermordeten Verwandten zu nehmen. Das Buch von Jim G. Tobias und Peter Zinke
berichtet von Juden und Jüdinnen, die diese Gedanken in die Tat umgesetzt
haben...
hagalil.com 13-03-2006 |