Lechts und rinks:
Und wie man das verwechseln kann, wenn es um Israel geht
Von Stephan Grigat
Erschienen in Konkret,
Nr. 12, 2005
Der Schutz von Juden und Jüdinnen vor
Verfolgung ist der Zweck des israelischen Staates. Gegen diesen Charakter
der israelischen Staatlichkeit richten sich die Bestrebungen der meisten
sogenannten Post-, Nicht- oder Antizionisten in Israel, die das
deutsch-europäische Bedürfnis nach legitimer, weil von jüdischen Israelis
vorgetragener Israelkritik bedienen.
Begreift man Israel als Ausdruck der bürgerlichen Emanzipation von Juden und
Jüdinnen, ist es nahezu unmöglich, die Begriffe links und rechts in dem
heute üblichen Sinne auf die israelische Gesellschaft anzuwenden. Wer in
Israel die Antwort auf den Vernichtungsantisemitismus sieht, dem verkehrt
sich das Verhältnis von links und rechts geradezu.
Als links galt, wer revolutionäre oder emanzipative Errungenschaften
verteidigt, als rechts galten Reformisten und Kompromißler. In den Debatten
in und über Israel ist das genau andersherum. Als links gilt, wer auf
Verhandlungen und Kompromisse setzt, als rechts gilt, wer meint, man solle
sich keinen Illusionen hingeben, keine Kompromisse machen, auf die eigene
Stärke vertrauen und sich zur Wehr setzen - auch und gerade präventiv.
Materialistische Kritik muß sich einen Begriff vom Staat im allgemeinen
machen. Aber es macht einen Unterschied, ob Staatskritik in einem Staat
formuliert wird, dessen vorrangige Aufgabe es ist, spezifische
Klasseninteressen des Kapitals durchzusetzen, und der das Gewaltmonopol
gegen dessen tatsächliche oder vermeintliche Feinde einsetzt, oder ob man
Kritik der Politik in einem Staat betreibt, dessen allererster Zweck es ist,
die Vernichtung seiner Bürger zu verhindern. Was immer der israelische Staat
in Ausübung seiner Funktion als ideeller Gesamtkapitalist, als kollektiver
Organisator widerstreitender Interessen, als Herrschafts- und Gewaltinstanz
gegenüber seinen Untertanen und den auf seinem Territorium lebenden
Nichtbürgern tut, alles also, was der Kritik Anlaß und Gründe liefert - es
ist dieser Funktion untergeordnet.
Während die antizionistische Linke in Israel die Legitimation des Staates
grundsätzlich in Frage stellt, versucht die Mehrheit der israelischen
Linken, Zionismus und Sozialismus miteinander zu verbinden. Ihre Vordenker
waren Leute wie Nachman Syrkin, der vom jüdischen Proletariat als den
"Sklaven der Sklaven" und als "Proletariat des Proletariats" sprach. Die
historischen Führer des sozialistischen und links-sozialistischen Zionismus
konnten, wie etwa Ber Borochov, noch die Hoffnung formulieren, daß jüdische
und arabische Arbeiter sich gemeinsam gegen ihre Ausbeutung wehren und in
Klassensolidarität die kulturellen Unterschiede überbrücken könnten. Die
linkssozialistische Jugendbewegung HaShomer HaZair oder auch die
Friedensgruppe Brith Shalom traten noch in den 40er Jahren des 20.
Jahrhunderts für einen binationalen Staat ein.
Zwischen der antizionistischen und der zionistischen Linken kommt es immer
wieder zu Konflikten. So störten Anarchokommunisten, vornehmlich aus Haifa,
während der großen Friedensdemonstration vom 15. Mai 2004 die Nationalhymne
HaTikva durch die Parole "Zionismus ist Rassismus". Daß solche Kundgebungen
stets mit der HaTikva beendet werden, liegt daran, daß es der zionistischen
Linken in Israel im Gegensatz zur Mehrheit ihrer europäischen Fangemeinde um
die Sicherung ihres Staates geht.
Dem durchschnittlichen Linksradikalen hingegen sind Nationalhymnen,
einschließlich der HaTikva, ein Graus. Man kann und will nicht sehen, daß
Israel und der israelische Nationalismus von anderem Charakter sind als jede
andere Nation und jeder andere Nationalismus. Der israelische Nationalismus
ist die, wenn auch falsche, so doch nach Lage der Dinge bis heute einzig
mögliche Antwort auf die nationalistische Raserei, die im Antisemitismus ihr
Ziel findet. Bei allen Bemühungen um eine positive Bestimmung dessen, was
die israelische Nation ausmache, wird der israelische Nationalismus auf
Grund dieser Konstellation seine im besten Sinne negative Bestimmung nie
ganz los. Schon Ber Borochov sprach 1905 davon, daß das nationale Bewußtsein
der Juden und Jüdinnen "natürlich negativen Ursprungs" ist.
Diese selbst noch im chauvinistisch auftrumpfenden Nationalismus der
israelischen Rechten gegenwärtigen Unterschiede zum Normalfall nationaler
Vergesellschaftung will die Mehrzahl der radikalen Linken in Israel nicht
sehen oder nicht gelten lassen. Typisch für den israelischen, mit dem
Antiimperialismus Lenins sowie dem Antikolonialismus Frantz Fanons und Aime
Césaires ausgestatteten Linksradikalismus ist die mittlerweile aufgelöste
Sozialistische Organisation Israels, die in der Regel nur unter dem Namen
ihrer Monatszeitung "Matzpen" (Kompaß) bekannt war. Einige ihrer ehemals
führenden Mitglieder, z.B. Michael Warschawski, arbeiten heute im
Alternative Information Centre in Jerusalem. Warschawski
charakterisierte das Matzpen-Programm wie folgt: "Die Organisation schlug
eine radikale Kritik des Zionismus vor; ... sie setzte sich für die ...
'Dezionisierung' Israels ... ein."
Der grundsätzlichen Ablehnung des Zionismus korrespondiert die Idealisierung
des palästinensischen Nationalismus, mit der die israelischen Linksradikalen
stets auch der zaghaften und marginalisierten Kritik am Antisemitismus
innerhalb der palästinensischen Gesellschaft in den Rücken fallen. Kürzlich
hat einer der ehemaligen Heroen der antizionistischen Kritik nachdrücklich
auf die Verklärung der nationalen Bestrebungen der Palästinenser
hingewiesen: Benny Morris.
Es war dieser frühe Kritiker der zionistischen Gründungsmythen, der, zuletzt
in "The New Republic", darauf hinwies, daß sich nicht nur viele europäische
Beobachter, sondern auch die radikalen Linken in Israel oft weigern, zur
Kenntnis zu nehmen, daß der Kampf der Palästinenser sich nicht allein gegen
die Besatzung in der Westbank und im Gazastreifen richtet, sondern fast
immer auch gegen das Existenzrecht Israels überhaupt und gegen all jene
Ausprägungen menschlichen Daseins, die den religiösen und nationalistischen
Djihadisten als Ausgeburt des Großen Satans gelten.
Daß der israelischen Linken die Ansprechpartner auf arabischer Seite
abhanden gekommen sind, liegt nicht nur an der Kooperation von
palästinensischen Linken mit bürgerlichen Nationalisten und Islamisten in
der zweiten Intifada, sondern ist auch das Resultat des epochalen Scheiterns
des Realsozialismus. Es war die Demokratische Front zur Befreiung
Palästinas, nicht Arafats Fatah, die im Nachvollzug der Außenpolitik ihrer
Förderer in Moskau auf palästinensischer Seite als erste eine
"Zwei-Staaten-Lösung" propagiert hatte. Die DFLP stand lange für eine Art
gemäßigten Antizionismus und hat 1977 auf Druck der Sowjetunion und unter
heftigem Protest ihrer mehr maoistisch inspirierten Konkurrenten von der
Volksfront zur Befreiung Palästinas Kontakte mit der Rakah, der 1965
gegründeten Neuen Kommunistischen Liste in Israel, aufgenommen.
Auch bei der Staatsgründung Israels hatte sich die Position der Sowjetunion
geltend gemacht. Die palästinensische Liga der Nationalen Befreiung, die aus
der Spaltung der Palästinensischen Kommunistischen Partei hervorgegangen
war, stimmte auf Druck der Sowjetunion der Teilung Palästinas zu,
verurteilte während des israelischen Unabhängigkeitskrieges die "Invasion
der reaktionären arabischen Regime" und forderte die arabischen Soldaten
auf, kehrtzumachen, ihre einheimischen Herrscher zu stürzen und gegen den
Imperialismus zu kämpfen. Sie erkannte als erste palästinensische
Organisation den Staat Israel an - gleich nach seiner Gründung und fünfzig
Jahre vor Fatah und PLO.
Inzwischen sind die palästinensischen Parteikommunisten zu Antikommunisten
mutiert. Als sie ihre Organisation 1991 von "Kommunistische" in
"Palästinensische" Volkspartei umbenannten, erklärten sie, daß sie nicht
länger bereit seien, Marx' Theorie als Basis des eigenen Handels zu
betrachten, sondern sich lieber dem "Erbe der arabischen Revolution"
zuwenden wollten, wie jene arabischen Kommunisten, die das Vorwort zur
arabischen Übersetzung des ersten Bandes des Kapitals, die nach dem
Zweiten Weltkrieg erschien, mit den Worten "Im Namen Allahs des
Allbarmherzigen" beginnen ließen.
Tugendterror, der Haß auf Ausschweifungen und Freizügigkeit, auf Alkohol und
Haschisch, begleitete den Kampf der Palästinenser schon in der ersten
Intifada Ende der achtziger Jahre. In der zweiten Intifada fand die
fortschreitende Islamisierung der palästinensischen Gesellschaft, die
Erneuerung der 'traditionellen und religiösen Werte', ihren Ausdruck in der
Übernahme der Selbstmordattentate durch die zuvor säkularen Organisationen.
Hinweise darauf gelten in Israels radikaler Linker als Ablenkung vom
Wesentlichen. Bestenfalls lehnt man, wie etwa Ilan Pappe von der Universität
Haifa, der den jüdisch-israelischen Diskurs über Araber für den "real
anti-Semitism" hält, das Suicide bombing aus militärtaktischen und
politischen Gründen ab und empfiehlt statt dessen, Israel einer ähnlichen
internationalen Ächtung auszusetzen wie einst das rassistische Südafrika.
Die Verharmlosung und Leugnung des palästinensischen Antisemitismus ist in
der radikalen Linken Israels beinahe grenzenlos. Am Global Action Day im
September 2004 konnte man auf einer Kundgebung vor der amerikanischen
Botschaft in Tel Aviv Anarchisten treffen, die darüber Auskunft gaben, daß
sie auch gemeinsam mit der Hamas demonstrieren – die Hamas sei nur zu "einem
sehr kleinen Teil" eine terroristische Organisation. "Eigentlich" seien die
Islamisten "keine Antisemiten", denn auch die Araber seien schließlich
"Semiten".
Thomas von der Osten-Sacken hat darauf verwiesen, daß man "weder die
israelische Rechte mögen oder Anhänger des Likud" sein müsse, um
einzuräumen, "daß die zionistische Rechte die Entwicklung Europas in den
dreißiger Jahren weit treffender analysiert" habe "als die Linke". Es sei
der zionistische Revisionist Wladimir Jabotinsky gewesen und nicht der
Friedensbund Brith Shalom, der die Evakuierung der polnischen Juden nach
Palästina gefordert habe - lange bevor die Nazis in Warschau
einmarschierten: "Leider hatten in der jüdischen Geschichte fast immer die
Schwarzseher und Pessimisten Recht" (KONKRET 12/02).
Das stimmt, was pazifistisch-humanistisch motivierte Linke wie Martin Buber
und Brith Shalom betrifft. Auf den traditionellen Arbeiterzionismus, sowohl
sozialdemokratischer als auch linkssozialistischer Provenienz, trifft es nur
bedingt zu. Auch Ben Gurion hatte eine klare Vorstellung von Hitler und von
den Verhältnissen in Deutschland. Allerdings legten die Sozialisten von der
Mapai, wie fast alle Linken weltweit, größten Wert auf eine möglichst klare
Trennung zwischen Hitler und dem deutschen Volk, während die Revisionisten
sich durch zwar keineswegs ideologiekritisch reflektiertes, aber letztlich
doch realitätsnäheres Deutschen-Bashing hervortaten – wie später Dov
Shilansky vom Likud, der den Deutschen am 3. Oktober 1990 mitteilte, das
Datum der deutschen Wiedervereinigung werde als Trauertag in die jüdische
Geschichte eingehen.
Die Verharmlosung, Leugnung oder Relativierung des arabischen Antisemitismus
hat Tradition in der radikalen Linken Israels. Ein typisches Beispiel ist
der aus Marokko stammende Charlie Biton, Mitbegründer der israelischen Black
Panther, der erklärte, daß es Antisemitismus in seinem arabischen Heimatland
nicht gegeben habe, sondern nur in Europa, weil "die europäischen Juden eine
Ausbeuterklasse" gewesen seien.
Die Zusammenarbeit der palästinensischen Nationalbewegung mit den Nazis wird
von vielen Linken zur lediglich taktischen Zusammenarbeit verniedlicht.
Hillel Schenker beispielsweise, früher Herausgeber des einflußreichen, in
der Tradition Martin Bubers stehenden Periodikums "New Outlook" und heute
Mitherausgeber des "Palestine-Israel Journal", nennt die Zusammenarbeit von
Amin El-Husseini, ehemals Mufti von Jerusalem und einer der übelsten
antisemitischen Hetzer, mit den Nazis eine "unglückliche Wahl". Der Mufti
habe eben nach dem Prinzip gehandelt: Der Feind meines Feindes ist mein
Freund.
Vergleiche des Zionismus mit Nazi-Deutschland, wenn auch in der Regel aus
anderen Motiven als in den Nachfolgestaaten des Nationalsozialismus, stehen
in der israelischen Linken hoch im Kurs. Die "Haaretz"-Korrespondentin Amira
Hass bezeichnet in dem Dokumentarfilm "Between the Lines" die Israelis als
"Herrenmenschen", Anarchisten verkaufen T-Shirts mit der Aufschrift "Ghetto
2004", Benjamin Netanyahu ist in einer Dokumentation von Flugblättern der
radikalen Linken mit Hitlergruß abgebildet, und Moshe Zimmermann, Direktor
des Instituts für deutsche Geschichte an der Hebrew University in Jerusalem,
stellt Vergleiche an zwischen jüdischen Jugendlichen in Hebron und der
Hitler-Jugend, zwischen israelischen Eliteeinheiten und der Waffen-SS sowie
zwischen dem Alten Testament und Mein Kampf, wobei er sich stets auf
das akademische Recht der komparativen Forschung beruft.
Im universitären Bereich ist der Linksradikalismus untrennbar mit Moshe
Zuckermann verknüpft. Der Direktor des Instituts für deutsche Geschichte in
Tel Aviv, der zahlreiche wichtige Publikationen über Diskriminierungen in
der israelischen Gesellschaft vorgelegt hat, pflegt eine sehr eigenwillige
Interpretation der Kritischen Theorie. Diese vor allem durch die "Neuen
Historiker" in den 80er Jahren begründete Strömung war mit ihrer Kritik an
den zionistischen Gründungsmythen ein Musterbeispiel aufklärerischer
Selbstreflexion eines nationalen bürgerlich-liberalen Kollektivs. Spätestens
seit dem Scheitern des sogenannten "Friedensprozesses" neigt diese Strömung
des Postzionismus jedoch vorwiegend zur Realitätsverleugnung.
Fragt man Zuckermann nach den palästinensischen Vernichtungsdrohungen gegen
Israel, redet er über Diskriminierungen in der israelischen Gesellschaft.
Natürlich weiß er von der Existenz eines arabischen und islamischen
Antisemitismus, auch wenn er den Antisemitismus gerne als "ein
abendländisches, christliches Phänomen" charakterisiert. Über den arabischen
Antisemitismus spricht er allerdings ungern, weil er den Palästinensern
nicht vorschreiben will, was sie zu tun haben. Das gefällt einer
europäischen Linken, die sich in ihrer Überzeugung bestärkt fühlt, man könne
immer nur etwas über Verhältnisse aussagen, von denen man auch selbst
betroffen sei, da man sonst besserwisserisch, arrogant, eurozentristisch und
paternalistisch erscheine.
Zuckermann insistiert auf einer universalistischen Lehre aus der Shoah: "Ich
will die Shoa von der Instrumentalisierung bereinigen, indem ich die Shoa
aus der partikular zionistischen Rezeption in ihre universelle Bedeutung
hebe." Dafür ruft er einen Zeugen auf: "Adornos Auffassung des Geschehenen
zeichnet sich durch eine universal ausgerichtete Einstellung aus." Adorno
aber wußte noch, wem Sympathie und Solidarität zu gelten haben, wenn die
universale Konsequenz aus der Shoah nicht gezogen werden kann. Auch nach dem
Nationalsozialismus blieben ja jene gesellschaftlichen Bedingungen in Kraft,
die den Vernichtungsantisemitismus hervorgebracht hatten. Eine universale
Konsequenz aus der Shoah wäre die kommunistische Weltrevolution gewesen, die
Abschaffung von Staat und Kapital und damit der Grundlage für den modernen
Antisemitismus.
Das stand bekanntlich nicht auf der Tagesordnung. So mußte der Zionismus
eine partikularistische Konsequenz ziehen. Zuckermann kreidet ihm diesen
Partikularismus an, wenn er meint, in der Kritischen Theorie sei Auschwitz
"als Kulminationspunkt eines umfassenden Zivilisationsprozesses" begriffen
worden. Von Deutschland und den Deutschen ist plötzlich keine Rede mehr –
ebensowenig wie von jenem Repräsentanten des "umfassenden
Zivilisationsprozesses", der maßgeblich an der Beendigung der nazistischen
Barbarei beteiligt war: den USA. Was bei Adorno unbeantwortet blieb, nämlich
ob Auschwitz Resultat der kapitalistischen Vergesellschaftung im allgemeinen
oder der deutschen Vergesellschaftungsform im Besonderen gewesen sei,
scheint für Zuckermann klar: Der Kapitalismus ist immer und überall
derselbe.
Aus solchem Verständnis der Kritischen Theorie ist die Ablehnung des
Zionismus folgerichtig. Nicht die Verteidigungsmaßnahmen des israelischen
Staates folgen dem Adornoschen Imperativ, alles Handeln so einzurichten, daß
Auschwitz nicht sich wiederhole, ganz im Gegenteil: Kritik am Vorgehen der
israelischen Sicherheitskräfte wird zur einzig möglichen Quintessenz der
Kritischen Theorie. Dafür muß Adornos Imperativ allerdings so umformuliert
werden, daß der in der Negativen Dialektik zentrale Bezug auf die
spezifische Tat der Deutschen und ihrer Hilfsvölker, daß Auschwitz nicht
mehr vorkommt. Bei Zuckermann heißt es, die Menschen müßten "ihr Denken und
Handeln stets gegen mörderische Unterdrückung, gegen die systematische
Verursachung von immer neuen Opfern richten".
Die, sagen wir: zurückhaltende Rezeption der Kritischen Theorie in der
radikalen Linken Israels wird daran deutlich, daß jene Zirkel, die am
ehesten mit den neomarxistischen Studentengruppen der sechziger und
siebziger Jahre in Europa vergleichbar sind, eine Erneuerung des Marxismus
vor allem in den Post-colonial-studies sahen, in deren Folge sie die
"Integration Israels in die Region des Nahen Ostens" forderten. Aber was
soll das heißen? Daß die Israelis die autoritären Gesellschaftsformen ihrer
Nachbarn übernehmen sollen?
Auch Michael Warschawski spricht im Rückblick von der Notwendigkeit einer
Integration Israels in den arabischen Nahen Osten, "der sich unter Führung
Gamal Abdel Nassers von der westlichen Bevormundung zu befreien versuchte
und ein großangelegtes Projekt der Modernisierung und nationalen
Wiedervereinigung in Angriff nahm". Kein Wort darüber, welch antisemitisches
Programm Nasser und die panarabischen Nationalisten unter Mithilfe deutscher
Nazis betrieben.
Worauf es hinausliefe, wenn sich solche Linksradikalen in Israel
durchsetzten oder auch nur stärkeren Einfluß gewönnen, läßt Warschawskis
Äußerung zum Überfall der arabischen Nachbarn auf Israel, der zum
Jom-Kippur-Krieg führte, ahnen: "Natürlich war ich froh, nicht gegen
Soldaten kämpfen zu müssen, deren Kampf mir legitim erschien." In
Deutschland sprechen solche Leute so, als wollten sie sich bei jenen beliebt
machen, von denen sie zwar als israelische Kronzeugen gerne zitiert werden,
die ihnen als Juden und Linksradikalen aber Tod und Verderben an den Hals
wünschen. Über die gezielte Tötung islamistischer Terroristen durch die
israelische Armee meinte Warschawski: "Es ist ein Kriegsverbrechen. Genauso
wie die Bombardierung von Dresden ein Kriegsverbrechen war. Nur weil dort
ein paar Nazis waren, durfte man keine ganze Stadt bombardieren."
Anders als in den postnazistischen Gesellschaften sorgen sich in Israel
selbst die radikalsten Kritiker des Zionismus ernsthaft um die Zukunft ihrer
Gesellschaft. Auch Warschawski spricht bezüglich Israels vom "Verfall einer
Gesellschaft, die die meine ist", und attestiert ihr, in der Vergangenheit
trotz aller widrigen Umstände ein erstaunliches Maß an Zivilisiertheit
erreicht zu haben. Linksradikale in Israel sind in der Regel nicht von jener
moralisierenden Bösartigkeit, wie man sie von deutschen oder
österreichischen Linken und aus den Statements der deutsch-europäischen
Außenpolitik kennt; sie sind angetrieben von einem naiven, sich aber durch
die Zurückhaltung bei der Kritik an arabischen Untaten desavouierenden
Humanismus.
Daß jüdische Israelis dem Antisemitismus nachgeben, ist gefährlich. Und doch
braucht die israelische Gesellschaft den naiven Humanismus ihrer Linken,
auch der radikalen. Es liegt in der Natur der Sache, daß ein großer Polizei-
und Militärapparat, auch wenn er einer Gesellschaft durch feindselige
Nachbarn aufgezwungen wird, nicht nur menschenfreundlich agiert. Ein Israel,
das ein "Licht unter den Nationen" sein will, bedarf der permanenten
gesellschaftlichen Kontrolle von Militär und Polizei. Die gemäßigte Linke
neigt dazu, über bestimmte Mißstände zu schweigen. Die Geschichte zeigt, daß
die israelische Gesellschaft vieles von der Kritik adaptiert hat, die in den
sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts nur Linksradikale formuliert hatten.
Es war, was deutsche Linksradikale für ihr Land nie betreiben dürften:
Staatskritik zum Wohle des Staates.
Stephan Grigat ist Herausgeber des soeben bei ça ira erschienenen Bandes
"Feindaufklärung und Reeducation. Kritische Theorie gegen Postnazismus und
Islamismus".
Redaktionell bearbeitete und stark gekürzte Fassung eines Aufsatzes, der
2006 in dem von Joachim Bruhn/Manfred Dahlmann/Clemens Nachtmann
herausgegebenen Buch "Das Einfache des Staates. Gedenkbuch für Johannes
Agnoli" bei ça ira erscheinen wird.
hagalil.com 23-03-2006 |