Kurdische Bewegung:
Warten auf einen neuen Frühling
Im Norden Syriens leben viele Kurden. Dem
Regime bereitet ihre dissidente Einstellung zunehmend Sorgen.
Aus Kameshli berichtet Thomas von der Osten-Sacken
Jungle World
12 v. 22.03.2006
Was er über die Erstürmung der dänischen Botschaft in
Damaskus denke? Mashaal Temno lacht. Dieser ganze "Volkszorn" auf Dänemark,
sagt er, sei eine Inszenierung des Geheimdienstes. Temno ist Vorsitzender
der "Zukunftsbewegung", einer neu gegründeten politischen Gruppierung, die
sich für die Rechte der Kurden in Syrien einsetzt. "Wenn in Damaskus 50
Leute für mehr Freiheit demonstrieren, kommen Hunderte von Polizisten. Und
plötzlich können sie eine Botschaft nicht schützen? Die Islamisten haben der
Regierung einen riesigen Gefallen erwiesen, denn das Regime will dem Westen
zeigen: Schaut, was passiert, wenn wir gestürzt werden, dann übernehmen die
die Macht."
Wir sitzen im Restaurant "Sahara", einem beliebten Treffpunkt der Opposition
in Kameshli. Ein Schild mit der Aufschrift "Kein Zutritt für Dänen", wie es
einige Restaurants in Damaskus neuerdings am Eingang hängen haben, wäre hier
undenkbar. Kameshli ist sozusagen die Hauptstadt des kurdischen Syrien. Am
Dreiländereck Türkei, Irak, Syrien gelegen, ist sie mit rund 350?000
Einwohnern die größte Stadt im Nordosten des Landes. Gegründet in den
zwanziger Jahren von der französischen Mandatsmacht, siedelten sich hier
neben armenischen Flüchtlingen, die den Genozid in der Türkei überlebt
hatten, assyrische Christen und Kurden aus dem Umland, aber auch aus der
Türkei und dem Irak an. Obwohl weit von den urbanen Zentren Syriens
entfernt, herrscht in Kameshli eine städtische Atmosphäre: Westlich
gekleidete Christinnen sind ebenso auf den Straßen zu sehen wie arabische
Beduinen in traditioneller Tracht. Die Mehrheit aber sind Kurden, und auf
dem Markt hört man die Menschen ebenso häufig kurdisch sprechen wie
arabisch.
In Syrien leben etwa zwei Millionen Kurden. Mit etwa zehn Prozent der
Gesamtbevölkerung stellen sie die größte Minderheit dar. In Kameshli
konzentrieren sich auch die Aktivitäten der verschieden kurdischen Parteien,
die zwar allesamt verboten sind, deren Tun von der syrischen Regierung aber
in Maßen geduldet wird.
"Seit einiger Zeit haben wir weniger Angst", erklärt Temno, "wenn du heute
vom Geheimdienst verhaftet wirst, verschwindest du nicht mehr, wie das
früher der Fall war, für zehn Jahre, sondern für zehn Tage. Dann wissen die
Angehörigen, wo der Betreffende interniert wurde, und können Amnesty
International und andere Menschenrechtsorganisationen informieren." Seit es
auch in Syrien Internet und Mobiltelefone gibt, sei man auch nicht mehr vom
Rest der Welt abgeschnitten.
Seit einiger Zeit existieren in Kameshli frei zugängliche Internetcafés mit
High-Speed-Anschluss. Zwar versucht man dort vergeblich, Webseiten der
syrischen Opposition aufzurufen, die ebenso wie alle Homepages aus Israel
gesperrt sind, aber auf westliche Zeitungen und E-Mails hat jeder Zugriff,
der die Gebühr von 50 Cent pro Stunde bezahlen kann.
Doch auch, wenn man weniger Angst habe als früher, fährt Temno fort, heiße
dies nicht, dass Syrien sich grundlegend verändert habe. Noch immer
kontrolliere der Geheimdienst der herrschenden Ba'ath-Partei minutiös jede
politische Regung im Land. Von Berufsverboten über Verhaftungen bis hin zu
schwerer Folter reiche das Spektrum der Repression, die insbesondere all
jene zu spüren bekämen, die sich irgendwie in der Opposition betätigen.
Nur kurz war jener syrische Frühling 2001, als Bashar al-Assad die
Regierungsgeschäfte von seinem verstorbenen Vater erbte und eine Öffnung des
Landes versprach. Überall bildeten sich damals Diskussionszirkel und
politische Gruppierungen, die mehr Meinungsfreiheit, demokratische Wahlen
und ein Ende der korrupten Parteidiktatur forderten. Nach nur wenigen
Monaten fürchtete das Regime um sein Überleben und begann erneut, die
Repressions zu verstärken.
Doch die lasse sich, davon ist Temno überzeugt, nicht mehr um ein beliebiges
Maß erhöhen. Vor allem nicht im Nordosten Syriens, wo die kurdische Bewegung
seit dem Sturz Saddam Husseins ein neues Selbstbewusstsein entwickelt habe.
Die irakische Grenze ist nur eine Autostunde entfernt, und man verfolgt in
Kameshli sehr genau die Entwicklung im Nachbarland. Wer das Geld und die
Möglichkeit hat, überquert den Tigris zu einem Besuch in Irakisch-Kurdistan
oder schickt gar seine Kinder auf eine der Universitäten in Arbil oder
Suleymaniah. Denn während früher den Bewohnern Kameshlis die
irakisch-kurdische Nachbarstadt Dohuk eher als rückständiges Provinznest
erschien, schwärmt man heute von den Neubauten und Supermärkten, die dort in
den vergangenen Jahren entstanden sind.
Die faktische Selbstverwaltung im Nordirak und das damit einhergehende neue
Selbstbewusstsein der irakischen Kurden strahlt seit langem, sehr zum
Missfallen der syrischen Regierung, auf den Nordosten Syriens aus.
Jahrzehnte lang existierte kaum eine spezifisch syrisch-kurdische politische
Bewegung, entweder unterstützte man die kurdischen Parteien im Irak oder die
PKK. Erst in den letzten Jahren hat sich dies geändert. Nun gibt es eine
kurdische Bewegung in Syrien, die sich als Teil der syrischen Opposition
gegen Assads Regime versteht. Sie stellt keine utopischen Forderungen, wie
nach der Schaffung eines kurdischen Staats, sondern versucht konkrete
Veränderungen in Syrien herbeizuführen.
Als Tag der Entstehung dieser "neuen" kurdischen Bewegung gilt gemeinhin der
12. März 2004. Damals brachen bei einem Fußballspiel zwischen dem Gastgeber,
der kurdischen Mannschaft al-Jihad, und der aus Deir er-Zor stammenden
arabischen Mannschaft al-Fatwa größere Unruhen aus. Die Anhänger von
al-Fatwa stürzten sich mit Bildern von Saddam Hussein und Hochrufen auf den
irakischen Diktator auf Fans der kurdischen Mannschaft. Die
Sicherheitskräfte griffen erst gar nicht, dann zugunsten der al-Fatwa-Fans
ein und schossen in die Menge. Die al-Jihad-Anhänger antworteten mit
Hochrufen auf den irakischen Kurdenführer Barzani und proamerikanischen
Slogans. In den folgenden Tagen kam es nicht nur in den syrischen
Kurdengebieten, sondern auch in Damaskus und Aleppo zu kurdischen
Massendemonstrationen. Daraufhin rückte Militär in die Städte der
Kurdengebiete ein und verhängte den Ausnahmezustand.
Die folgende, mit Repressionen durchgesetzte Friedhofsruhe währte nur ein
gutes Jahr. Im Juni 2005 wurde der moderate syrische Geistliche Sheikh
Maashuq Khaznawi aus Kameshli tot aufgefunden. Sein Sohn beschuldigte den
Geheimdienst, den Vater ermordet zu haben. Erneut gingen Tausende in
Kameshli auf die Straße. Damit dürfte auch dem syrischen Regime klar
geworden sein, dass ohne Zugeständnisse die kurdische Bevölkerung
langfristig nicht weiter unter Kontrolle zu halten sein wird. An die täglich
von staatseigenen Medien propagierte Mär vom arabischen Einheitsstaat
Syrien, der an der Spitze der panarabischen Bewegung für die Einheit
Arabiens und gegen den "Imperialismus, Zionismus und Kolonialismus" kämpft,
scheinen immer weniger Menschen zu glauben. So wie von vielen der unzähligen
Bilder der Familie Assad, die auch in Kameshli an allen öffentlichen Plätzen
angebracht sind, der Lack abfällt, löst sich auch die Ideologie des
Ba’athismus langsam in ihre Bestandtele auf.
Denn de facto befindet sich Syrien in einer ökonomischen und politischen
Krise, deren Ausmaße erst langsam deutlich werden. Ökonomisch geht es, wie
fast überall in der arabischen Welt, seit Jahren bergab. Einer Studie des
UN-Entwicklungsprogramms zufolge verfügen alle öffentlichen Bibliotheken
Syriens zusammen über weniger Bücher als die Gymnasialbüchereien in
Philadelphia. Syrien schneidet in den Berichten der UN über die arabische
Welt in den Bereichen Bildung und Medien noch schlechter ab als alle anderen
Länder.
Auch politisch ist das Land weitgehend isoliert, als traditioneller
Alliierter des Iran und der Hizbollah. Auch weil die Regierung allerlei
palästinensischen und irakischen Terrororganisationen Unterschlupf gewährt,
haben sich die Beziehungen Syriens zu den USA und selbst zu Europa drastisch
verschlechtert. Auch wenn die EU weiterhin enge Kontakte zur syrischen
Regierung pflegt und Deutschland alleine im vergangenen Jahr über eine
Milliarde Euro im Land investiert hat, ist das Verhältnis weit gespannter
als noch in den neunziger Jahren.
Der syrischen Opposition allerdings sind die Europäer noch immer zu sehr auf
Beschwichtigung aus: "Würde Deutschland, der größte europäische
Handelspartner, seine Investitionen mit politischen Forderungen nach mehr
Freiheit und Demokratie verbinden, müsste die syrische Regierung dem
nachkommen", meint etwa Massoud Ibrahim *, ein Menschenrechtsaktivist, der
die Begeisterung vieler seiner arabischen Landsleute für die Deutschen
keineswegs teilen mag. Anders als in Damaskus trifft man in Kameshli auch
nicht auf jene nervtötenden Taxifahrer oder Kellner, die, kaum dass sie
erfahren haben, dass man aus Deutschland kommt, in Lobeshymnen auf Gerhard
Schröder und Adolf Hitler ausbrechen. Ohne Druck von außen, ist sich Massoud
Ibrahim mit den anderen Oppositionellen einig, werde es keinen wirklichen
Fortschritt geben.
Wie dringend grundlegende Änderungen notwendig sind, zeigt alleine ein Gang
durch Halaliya, eines der ärmsten Stadtviertel Kameshlis. Gerade einmal eine
geteerte Straße führt durch das Viertel, das aus einstöckigen Häusern
besteht und über keine Abwasserversorgung verfügt. Das Viertel erinnert an
palästinensische Flüchtlingslager im Libanon. Wer hier lebt, verdient oft
weniger als einen Euro am Tag, also nicht einmal die Hälfte des von der UN
angegebenen syrischen Durchschnittseinkommens von 965 Euro jährlich.
Der Journalist Ibrahim Youssif erklärt, dass in den letzten Jahren die Zahl
von Schulabbrechern dramatisch zugenommen habe. Immer mehr Kinder seien
gezwungen, als Zigarettenverkäufer oder Schuhputzer zu arbeiten, um ihren
verarmten Familien ein Zusatzeinkommen zu verschaffen. Deshalb plant er
jetzt, ein Tageszentrum für Straßenkinder zu eröffnen. Auch dies ist ein
Novum: Vor Jahren wäre alleine der Gedanke an solche Initiativen
unvorstellbar gewesen. Aber nun bilden sich überall im Lande erste Gruppen
und versuchen, eine Art soziales Netzwerk von Nichtregierungsorganisationen
aufzubauen. So kündigte gerade eine Gruppe von Frauen an, in Nordsyrien eine
unabhängige Organisation gründen zu wollen, um die überall grassierende
häusliche Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen. Ob dies allerdings gelingen
wird, steht noch in den Sternen. Denn alles, was in Syrien nicht der
direkten Kontrolle des Staates und der Partei unterliegt, selbst
unpolitische soziale Initiativen, steht unter Generalverdacht, das System zu
schädigen.
Der Verarmung großer Bevölkerungsteile werden die Hilfsorganisationen aber
nicht wirklich entgegenwirken können. Die Probleme des Landes sind zu groß.
Fast drei Viertel des syrischen Inlandsproduktes stammt, der Weltbank
zufolge, aus der landwirtschaftlichen Produktion, die wiederum größtenteils
so unterentwickelt ist, dass nicht einmal 25 Prozent der agrarisch nutzbaren
Fläche bewässert oder gedüngt werden. Die Industrie, so überhaupt vorhanden,
ist altmodisch und ineffektiv, die Mehrheit der Syrer arbeitet im
unproduktiven staatlichen Sektor.
Ein Großteil des fruchtbaren Gebietes Syriens liegt, wie die wenigen
Erdölvorkommen auch, ausgerechnet im kurdischen Nordosten des Landes. Nur
fließt das hier erwirtschaftete Geld nach Damaskus und Aleppo, größere
Investitionen in die Infrastruktur werden, wenn überhaupt, nur in Orten
getätigt, in denen das Regime Araber angesiedelt hat, um die demographische
Zusammensetzung der Region zu verändern. So wurden kurdische Ortsnamen
geändert und neben kurdischen Siedlungen arabische gebaut. Östlich von
Kameshli etwa entstand neben Attanuria, einer kurdischen Ortschaft,
Attanuria Jedid, wo Araber angesiedelt wurden und wo es, anders als im
kurdischen Nachbarort, eine Schule und eine Krankenstation gibt.
So besteht eine der Forderungen aller kurdischen Parteien in mishli auch
darin, die forcierte Arabisierung des Nordostens rückgängig zu machen. Von
kurdischer Eigenstaatlichkeit oder politischer Selbstverwaltung spricht
dagegen niemand. Man will eine Demokratisierung des Landes und freie Wahlen,
kulturelle Autonomie und die Zulassung der kurdischen Sprache in Schulen und
Universitäten. Eine weitere ganz wichtige Forderung besteht darin, alle in
Syrien lebenden staatenlosen Kurden einzubürgern.
Im Haus des Anwalts Faisal Badr, der längst seine offizielle Lizenz verloren
hat und nun ehrenamtlich politische Gefangene in Damaskus vertritt, hockt
eine Gruppe von Kurdinnen und Kurden auf Matratzen um einem Ölofen herum.
Einer von ihnen wurde vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen, wo er
inhaftiert war, weil er an einer politischen Aktion in Damaskus beteiligt
war.
Sie alle sind "Staatenlose" oder Ajnabi, wie sie in Syrien heißen, so wie
weitere 225?000 Kurden in Syrien auch. Sie zeigen ihre zerfledderten roten
Ausweise. Wer einen solchen Ausweis besitzt, ist in Syrien nicht einmal mehr
Bürger zweiter Klasse: Er darf weder Land noch ein Geschäft besitzen, nicht
für den Staat arbeiten und nicht einmal in einem Hotel übernachten. Außerdem
hat er kein Recht auf staatliche Krankenversorgung.
Und es kann noch härter kommen: Neben den Ajnabi, die immerhin registriert
sind, gibt es noch die Gruppe der Maktoumeen, die lediglich ein vom
jeweiligen Dorfvorsteher ausgestelltes Papier ihr Eigen nennen, welches
nichts weiter besagt, als dass sie keine Papiere haben. "Während die
Regierung über die Rechtlosigkeit der Palästinenser klagt, behandelt sie
uns, die wir doch selbst Syrer sind, schlechter als die Israelis die Araber
in Haifa oder Akko", bringt es einer der Anwesenden auf den Punkt. Zu der
Ankündigung Bashar al-Assads, die Ajnabi einbürgern zu wollen, befragt,
zuckt der Anwalt nur die Schultern: "Seit Jahren erklären sie uns, man wolle
den Ajnabi Papiere geben. Passiert ist nichts. Das sind, wie so vieles,
Erklärungen, um das Ausland zu beruhigen."
Doch dass "das Ausland" irgendein Interesse an grundlegenden Änderungen in
Syrien hat, wird in diesem Kreis, der sich in der Wohnung des Anwalts
versammelt hat, in Zweifel gezogen. Vielleicht reiche es den Amerikanern,
wenn Assad eines Tages einen außenpolitischen Schwenk mache und der
Unterstützung des Terrorismus abschwöre, sagt einer der Kurden. Auch die
Bilder aus dem Zentralirak wirken nicht ermutigend, meint eine der
Anwesenden. Vermutlich fürchtet man sich vor einem Bürgerkrieg, sollte Assad
stürzen. Ob denn ein solches Szenario drohe? "Bislang nicht", meint sie,
"aber wer weiß?" Die Opposition nämlich sei noch zu schwach und
unorganisiert, beklagt ein anderer. Außerdem interessiere sich die Jugend
weit mehr für Rockmusik, Mode, Mobiltelefone und das andere Geschlecht als
für Politik.
Wenn dem so ist, dann könnte die Zukunft Syriens durchaus rosiger aussehen
als gemeinhin erwartet.
Der Autor dankt Eva Savelsberg für ihre Hilfe.
*Name geändert
hagalil.com
23-03-2006 |