Nach der Wahl:
Keine Aufbruchsstimmung in IsraelAus
jetzt.de, dem Jugendmagazin der Süddeutschen Zeitung
Unter
jetzt.sueddeutsche.de findet ihr eine Möglichkeit zu
Kommentieren...
Caroline von Lowtzow im Gespräch mit Andrea Livnat.
Andrea Livnat, 31, lebt seit knapp vier Jahren in Tel
Aviv und arbeitet von dort aus für die deutschsprachige Internetseite
hagalil.com. Diese ist 1995 aus Bestürzung über den Mord an Jitzhak Rabin
entstanden und will über jüdisches Leben in all seiner Pluralität
informieren - sowohl in Deutschland als auch in Israel. Gerade auch im
Nahost-Konflikt versucht die Seite, die unterschiedlichen Richtungen und
Meinungen darzustellen.
Andrea Livnat ist in München aufgewachsen, wo auch der
Sitz von Hagalil ist, und hat dort jüdische Geschichte studiert. Über ein
Stipendium für ihre Doktorarbeit kam sie nach Israel. Es gefiel ihr, sie
lernte ihren Mann kennen und blieb. Für jetzt.de erzählt sie, wie sie die
Wahl erlebt hat, warum die Wahlbeteiligung so gering war und in welche
Richtung sich die Politik entwickeln wird.
„Der Wahltag in Israel ist immer ein kleiner Feiertag. In
Deutschland wird ja am Sonntag gewählt. In Israel kann man am Sabbat, dem
jüdischen Ruhetag, aber keine Wahlen durchführen. Deshalb muss am Wahltag in
Israel keiner arbeiten, man geht in den Park und lässt es sich gut gehen.
Ich habe das auch gemacht. Wir sind spazieren gegangen, in Tel Aviv war eine
richtige Feierstimmung. Die Leute saßen in den Cafés, ließen sich in der
Sonne brutzeln und gingen zwischendrin eben wählen. Wahltage sind also
allein deshalb schon etwas besonderes.
Abends, nachdem die Wahllokale geschlossen hatten, saßen wir natürlich vor
dem Fernseher und sahen uns die Hochrechnungen an. Als ich ins Bett ging,
war ich froh, weil es sehr gut aussah für eine starke Mitte-Links-Regierung.
Als ich am Morgen aufgewacht bin, war dann auf einmal die ultra-orthodoxe
Schas-Partei die drittstärkste Kraft. Da war ich weniger erfreut, weil sie
sehr konservativ ist und schon in den Koalitionen Ende der neunziger Jahre
regelmäßig das Zünglein an der Waage spielte, bis Scharon sie von 2002 an
gezielt umging.
Nachdem Ariel Scharon ins Koma gefallen ist und dann auch noch Hamas die
palästinensischen Wahlen gewonnen hat, dachte ich eigentlich, dass es eine
besondere Wahl werden würde. War sie im Endeffekt auch, aber leider deshalb,
weil das Interesse der Bevölkerung an der Wahl fast verschwunden ist. Die
Wahlbeteiligung war extrem niedrig und auch das Ergebnis ist sehr seltsam.
Zum Beispiel dass die neugegründete Seniorenpartei auf Anhieb in die
Knesset, das israelische Parlament, gekommen ist und sogar sieben Sitze
errungen hat. Das war sehr seltsam, die im Fernsehen zu sehen. Denn das ist
wirklich ein Club von Omas und Opas, die sich so über ihr Wahlergebnis
gefreut haben, dass sie das Tanzen anfingen. Der rechts-konservative Likud,
aus dem Scharon ausgetreten ist, um die neue Kadima-Partei zu gründen, hat
katastrophal abgeschnitten. Das zeigt, dass das Thema Sicherheit diesmal
alleine nicht ausreichte, um Wähler zu mobilisieren, aber auch die Kadima,
die seit Scharon im Koma liegt von Ministerpräsident Ehud Olmert geführt
wird, hat weniger gewonnen als erwartet. Die Enttäuschung über die großen
Parteien offensichtlich stark.
Es gibt kein vergleichbares links und rechts wie in Deutschland, Politiker
sind in diesem Wahlkampf plötzlich in andere Parteien gewechselt, die Kadima
ist eine seltsame Mischung aus Arbeitspartei und Likud und alles ist so
undefinierbar. Dass jetzt plötzlich sieben Rentner, die vorher mit Politik
nichts am Hut hatten, im Parlament sitzen, ist ein Zeichen von Protest
gegenüber den etablierten Parteien.
Es zeigt aber auch, dass vor allem sozialpolitische Themen wichtig waren.
Die Seniorenpartei hat sich vor allem für stabile Renten eingesetzt. Auch
der neue Chef der Arbeitspartei, Amir Perez, hat seine Partei wieder stärker
an Wirtschafts- und Sozialfragen ausgerichtet. Er hat eine sozialistische
Linie vertreten und den Kampf gegen die Armut und für bessere
Arbeitsbedingungen propagiert. Der Bedarf ist natürlich da: die
wirtschaftliche und soziale Situation ist in Israel seit Jahren sehr
angespannt und mittlerweile lebt hier jedes dritte Kind unter der
Armutsgrenze. Das sind die Themen, die eigentlich bewegen sollten und die
politische Lösungen brauchen. Nicht nur das, was an den Grenzen passiert,
obwohl das natürlich auch wichtig ist.
Ob die neue Regierung die Lage verbessern kann, weiß ich nicht. Die
Koalition wird sehr schwierig werden, denn Kadima und Arbeitspartei haben
keine Mehrheit und müssen sich deshalb entweder mit der linken Partei Meretz
und den arabischen Parteien zusammentun. Das würde ich mir zwar wünschen,
wird aber nicht eintreten. Dann bleibt nur eine Koalition mit den Religiösen
oder der russischen Partei Israel Beiteinu übrig, die auch sehr konservativ
sind, einen Bevölkerungs- und Gebietsaustausch fordern und letztlich wollen,
dass alle Araber aus Israel verschwinden. Dann geht wieder das Gerangel um
Gelder los und bei jeder wichtigen Abstimmung wird die Koalition auf der
Kante stehen. So frohgestimmt wie ich am Dienstagabend noch war, so
ernüchtert war ich am Mittwochmorgen.
Auch in Bezug auf den Konflikt mit den Palästinensern wird es keine großen
Fortschritte geben. Ministerpräsident Ehud Olmert wird den von Scharon
begonnenen Weg wohl weitergehen. Der vor der Wahl angekündigte einseitige
Rückzug aus dem Westjordanland wird aber wesentlich komplizierter als in
Gaza: Es gibt dort sehr große Siedlungsblöcke, die man sicher nicht räumen
wird, weil das richtige Städte sind. Da müssten sehr pragmatische Lösungen
gefunden werden, der Austausch von Gebieten etwa, aber schon der Rückzug aus
Gaza, wo es viel unkomplizierter war, hat wahnsinnige politische Debatten
nach sich gezogen. Es hängt natürlich auch davon ab, wie es mit Hamas
weitergeht. Manche sagen, dass es genauso werden wird wie einst mit der PLO
und dass Hamas langsam zahmer wird, andere sagen, das wird auf keinen Fall
passieren. Jedenfalls wird es sehr lange dauern und diese Zeit haben
eigentlich weder wir noch die Palästinenser. Wenn kein Abkommen mit den
Palästinensern möglich ist, muss man deshalb über den einseitigen Abzug
natürlich nachdenken, aber ich sehe das nicht so richtig kommen. Ich würde
mir sehr wünschen, dass man mit der Hamas spricht. Denn in dem Moment, in
dem man mit jemandem spricht, nimmt man dem Gegner schon mal den Wind aus
den Segeln, egal ob das dann irgendwohin führt. Gespräche sind einfach der
erste und wichtigste Schritt und ich hoffe, dass diese Regierung den Mut
dazu aufbringt. Das wünsche ich mir, denn die allgemeine politische
Situation hier ist oft bedrückend. So schön es hier ist, manchmal fühlt man
sich wie in einem Käfig. Israel ist nicht besonders groß und ich kann wegen
der Gefahr vor Anschlägen nicht einfach in den Sinai fahren. Nicht so wie in
München, wo man übers Wochenende spontan nach Italien fahren kann. Das ist
ein tolles Freiheitsgefühl.“
http://jetzt.sueddeutsche.de
Unter
http://jetzt.sueddeutsche.de/kommentar289978 findet ihr eine
Möglichkeit zu Kommentieren...
[Die Wahlen
zur 17. Kneseth am 28. März 2006 - 28. Adar 5766] |