
Die "besondere deutsche Verantwortung":
Israels Ratgeber
Warum die Deutschen unbedingt den
Nahost-Konflikt lösen wollen.
Von Henryk M. Broder
Jungle World 11 v.
15.03.2006
Es gehört zu den politischen Ritualen, dass jeder Redner,
kaum dass er das Wort "Israel" ausgesprochen hat, sofort von der "besonderen
deutschen Verantwortung" für Israel phantasiert, die sich aus der deutschen
Geschichte herleite. Gemeint ist folgendes: Der Holocaust war einer der
Gründe für die Gründung Israels, vielleicht der wichtigste. Ohne den
Holocaust wäre es vermutlich nie zu dem Beschluss der Vereinten Nationen im
Jahre 1947 gekommen, Palästina zu teilen und einen Teil des Landes den Juden
zu geben.
Weil die Nazis den Versuch unternommen haben, die Judenfrage zu lösen, und
weil sie dabei gescheitert sind, musste der Judenstaat gegründet werden, zum
einen als Zuflucht für die Überlebenden des Holocaust, zum anderen als
Vorsorgemaßnahme gegen jeden weiteren Versuch, die Welt von den Juden zu
befreien. So gesehen war nicht Theodor Herzl, sondern Adolf Hitler der Mann,
der das zionistische Projekt verwirklicht hat. Man könnte auch von einer
Arbeitsteilung sprechen: Herzl hat es angestoßen, Hitler hat es vollendet.
Überzeugte Zionisten würden an dieser Stelle aufstehen und protestieren. Sie
glauben, die zionistische Bewegung hätte im Laufe der Zeit eine solche
Dynamik entwickelt, dass auch ohne Hitler und den Holocaust der jüdische
Staat entstanden wäre – eines Tages. Ich dagegen glaube, ohne Hitler und den
Holocaust würden die Zionisten noch immer im Café Landtmann in Wien und bei
Kranzler in Berlin sitzen und miteinander darüber diskutieren, wo sie den
jüdischen Staat ausrufen möchten, in Palästina, in Birobidschan oder auf dem
Mond.
Der Gedanke, dass Hitler und die Seinen zumindest einen wichtigen Beitrag
zur Realisierung des zionistischen Traums geleistet haben, erfüllt einen
nicht mit Heiterkeit, man kann ihn aber nicht ignorieren. Insofern war und
ist an dem Gerede von der besonderen deutschen Verantwortung für Israel
tatsächlich etwas dran. Dennoch muss man den Eindruck gewinnen, dass sich
viele Deutsche, vor allem die Angehörigen der so genannten Intelligenz, auf
eine geradezu zwanghafte Art mit dem Nahen Osten beschäftigen. Es kommt mir
vor, als würden sie abends mit dem Gedanken: "Lieber Gott, was soll aus
Palästina werden?" einschlafen und morgens mit dem Gedanken aufwachen: "Erst
lösen wir den Konflikt im Nahen Osten, danach gehen wir arbeiten." Es ist
atemraubend, wie viele Menschen in Deutschland eine umfassende Lösung des
Nahost-Konflikts zu ihrer Lieblingsaufgabe gemacht haben, noch bevor das
Problem der Gewalt an Berliner Schulen gelöst werden konnte. Gäbe es eine
Möglichkeit, die dabei entstehenden Energien zu bündeln, könnte man mit dem
Output eine Stadt wie Köln erleuchten.
In Köln zum Beispiel, eine Stadt, die sich auf ihre Toleranz viel einbildet,
gab es im letzten Jahr über Monate hinweg auf der Domplatte eine Mahnwache.
Raten Sie mal, wogegen! Sie ahnen es: gegen die Mauer in Palästina. Ich habe
23 Jahre in Köln gelebt, von 1958 bis 1981, die Berliner Mauer wurde 1961
gebaut, in den 29 Jahren, von 1961 bis 1989, gab es in Köln keine einzige
Demonstration oder Mahnwache gegen die Mauer. Die gibt es erst jetzt, denn
diese Mauer, die Terroristen daran hindern soll, die Israelis in Handarbeit
wegzubomben, die tut den Kölnern wirklich weh. So etwas ist einfach irre, es
gehört in den Bereich der kollektiven Psychopathologie.
Vieles, das sich im Umfeld der unzähligen Palästina-Initiativen abspielt,
grenzt ans Absurde oder hat die Grenze zum Absurden überschritten. Geben Sie
einfach bei Google das Stichwort "Palästina-Initiativen" ein und Sie
bekommen 90.300 Einträge. Versuchen Sie es dann mit "Darfur-Initiativen",
Sie bekommen 267 Treffer. Ich will nicht die Zahl der Opfer in dem einen
Konflikt gegen die Zahl der Opfer in dem anderen Konflikt aufrechnen, aber
es führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass die Aufmerksamkeit, die der
Nahe Osten genießt, in keinem Verhältnis steht zur Bedeutung und Dramatik
des Konflikts. Die Bedeutung und die Dramatik resultieren aus der
Aufmerksamkeit, die dem Konflikt zuteil wird – nicht umgekehrt. Das
Blutvergießen im Sudan, im Kongo, der Bürgerkrieg in Algerien, die Umtriebe
der Terroristen in Indonesien – wenn es nur nach der Zahl der Toten und
Verletzten ginge, müssten diese Geschichten jeden Tag Schlagzeilen machen.
Und wenn es wirklich um die Verletzung von Menschenrechten ginge, müssten
die Vertretungen der Islamischen Republik Iran jeden Tag von Tausenden von
Demonstranten belagert werden.
Aber es geht weder um die Toten und die Verletzten noch um die
Menschenrechte. Es geht immer nur um Eines: die deutsche Befindlichkeit 6o
Jahre nach dem Ende der Nazi-Zeit. Womit haben wir es hier zu tun? Mit
Stammtisch- und Sandkastenstrategen, mit lauter kleinen Albert Schweitzers,
Mutter Teresas und Clausewitzen, die einen Tatbestand umso sicherer
beurteilen können, je weiter weg er sich von ihrer Haustür abspielt? Sind es
Megalomanen, Narren oder einfach Leute, die ihren Beruf verpasst haben, die
besser Feldherren, Landvermesser und Beziehungsberater geworden wären?
Inzwischen hat Israel den Gaza-Streifen geräumt und bereitet weitere
einseitige Schritte vor, weil es nicht warten mag, bis sich die Fatah mit
der Hamas, die Hamas mit der Hisbollah und die Hisbollah mit dem Jihad über
die richtige Strategie gegenüber Israel geeinigt hat. Doch die "besondere
deutsche Verantwortung" treibt die selbsternannten Nahost-Strategen weiter
an.
Jahr für Jahr wird an die "Reichskristallnacht" erinnert, es werden Kränze
niedergelegt und Reden gehalten. So etwas dürfe sich nie, nie mehr
wiederholen, man müsse den Anfängen wehren und Toleranz praktizieren, um die
Menschenwürde zu beschützen. Abgesehen davon, dass man Intoleranz
praktizieren müsste, wenn man es mit dem Schutz der Menschenwürde ernst
meint, ist es eine der billigsten Übungen, "Nie wieder ’33!" zu rufen. Es
wird kein zweites ’33 geben, im Gegensatz zu einem weit verbreiteten
Sonntagsspruch wiederholt sich die Geschichte nicht. Sie geht weiter.
Vergessen wir die Nazis, die Kristallnacht, die Nürnberger Gesetze, die
Wannsee-Konferenz, Auschwitz und den Holocaust. Denken wir lieber daran, was
der iranische Staatspräsident gefordert hat: Israel soll von der Landkarte
ausradiert werden. Das Ziel ist: eine "Welt ohne Zionismus". Und falls Sie
doch unbedingt nach Parallelen zu 1933 suchen – bitte sehr: Auch Hitler hat
seine Absicht, die Welt von den Juden zu befreien, öffentlich kundgetan,
auch er wurde lange nicht ernst genommen. Das ist die einzige Parallele zu
1933, die man beachten muss. Auf der iranischen Agenda steht nichts anderes
als die Vollendung des historischen Projekts, das die Nazis angefangen
haben, aber nicht zu Ende bringen konnten.
Und wie hat die deutsche Gesellschaft, die deutsche Öffentlichkeit, die an
jedem 9. November den Anfängen wehrt, auf die Drohungen aus Teheran
reagiert? Relativ gelassen. Der iranische Botschafter wurde ins Außenamt
bestellt, wo man ihm das Missfallen aussprach. Es gab keine Folgen für den
"kritischen Dialog", der mit Teheran unterhalten wird, von möglichen
Sanktionen war keine Rede.
Das enorme deutsche Interesse am Nahen Osten hat eben wenig mit dem Nahen
Osten, aber viel mit Deutschland zu tun. Beruhigend ist das nicht.
hagalil.com 16-03-2006 |