Schwere Krise steht bevor:
Brotloser Gazastreifen
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
"Wir haben Mehl nur noch für einen Tag", sagte der
Inhaber der größten Bäckerei in Gaza am Samstag. Am Sonntag schon blieben
alle Bäckereien geschlossen, "sogar jene, die Polizisten und
Sicherheitskräfte beliefern", wie die palästinensische Nachrichtenagentur
Maan meldete. Nasser As'saraj, Vizestaatssekretär im Wirtschaftsministerium
bestätigte: "Der Gazastreifen hat ein Problem. Eine schwere Krise steht
bevor wegen Mangel an Grundnahrungsmitteln wie Mehl, Reis und Zucker."
"Wer eine Tüte mit zehn Fladenbroten kaufen will, erhält nur noch eine halbe
Ration mit fünf Fladen", berichtet ein palästinensischer Journalist.
Grund für den Mangel ist die Schließung des Karni-Terminals. Seit Januar war
der nur acht Tage lang geöffnet. "Karni ist das Rückrat der
palästinensischen Wirtschaft, deshalb können wir dessen Sperrung durch die
israelischen Behörden nicht akzeptieren", so Salim Abu Safia,
palästinensischer Verantwortlicher für die Übergänge nach Israel.
"Wir bieten den Palästinensern beim Übergang Kerem Schalom einen
zeitweiligen Ersatz. Da können nicht so viele Waren abgefertigt werden wie
in Karni, aber wenigstens könnte die humanitäre Krise gelindert werden",
sagt Joram Schapira, Verantwortlicher der israelischen Flughafenbehörde für
die Übergänge nach Gaza.
Was wirklich hinter der palästinensischen Weigerung steckt, sich vorerst mit
Kerem Schalom zu begnügen, damit in Gaza keine Hungersnot ausbricht, ist
unklar. Am Sonntag wurde beim Botschafter in Tel Aviv ein Treffen
einberufen, um mit Vertretern Israels, der Palästinenser und der EU einen
Ausweg aus der Krise zu suchen.
In Karni haben die Israelis mit Millionenaufwand ein Terminal errichtet, um
den Waren von 800 Lastwagen pro Tag die Passage nach Gaza zu ermöglichen.
Riesige Röntgengeräte durchleuchten die Zementsäcke und Gemüsekisten. Hunde
schnüffeln nach Sprengstoff. Alle Waren müssen entladen werden, um
kontrolliert auf der jeweils anderen Seite wieder beladen zu werden. Die
frühere Methode, Lastwagen "Rücken an Rücken" zu stellen, endete, nachdem im
März 1996 ein Terrorist der Dschihad Islami Organisation mit einem Koffer
voll Sprengstoff unbemerkt in einen israelischen Lastwagen wechselte und in
Tel Aviv am Dizengoff-Center elf Menschen tötete und 124 verletzte. Dieser
Anschlag war mitentscheidend für die Wahlniederlage von Schimon Peres, was
Benjamin Netanjahu an die Macht brachte.
Im Januar 2005 griffen drei Hamas-Kämpfer das Terminal an und töteten mit
einer 100-Kilo-Bombe sechs zivile Arbeiter des Terminals. Karni wurde
umgebaut, damit es keinen direkten Kontakt mehr zwischen Palästinensern und
Israelis gebe. Seit Januar reden die Israelis von Tunneln, die angeblich in
Richtung des Terminals gegraben werden. Vor drei Wochen war eine
unterirdische Explosion zu hören. Israelische Kampfhubschrauber schossen
zudem eine Rakete auf ein Fahrzeug, das sich in "verdächtiger Weise" dem
Terminal näherte. Die riesige Explosion lässt darauf schließen, dass das
Fahrzeug nicht nur vollgetankt war. Israel beschuldigte die palästinensische
Polizei, das Auto entgegen den Absprachen ungeprüft durchgelassen zu haben.
Palästinensische Versuche, gewaltsam eine Schließung des Karni Terminals zu
erzwingen, wie zuvor schon den Erez-Übergang oder die Grenze bei Rafah nach
Ägypten, stehen im Widerspruch zu den Forderungen, allein über Karni den
Warenverkehr abzuwickeln. "In Kerem Schalom werden die Waren auf den Boden
geworfen und müssen uns aufgesammelt werden", argumentiert Abu Safia. "Es
können da nur 150 Lastwagen abgefertigt werden, aber wir benötigen auch
Industriegüter und wollen unsere Waren exportieren." Gemäß anderen
palästinensischen Quellen wolle Israel am Kerem Schalom keine Zölle
einziehen, eine wichtige Einnahmequelle für die Autonomiebehörde, solange
Israel seine Zahlungen nicht einfriert.
Gemäß israelischen Behauptungen könnten auch "finanzielle Interessen" der
Betreiber der palästinensischen Seite des Terminals hinter der Weigerung
stecken, wenigsten zeitweilig nach Kerem Schalom auszuweichen. "Israel will
aus politischen Gründen den status quo ändern", sagt Abu Safija, "denn wir
können absolute Sicherheit garantieren." Dem erwidert Joram Schapira: "Die
Tunnel sind noch nicht gefunden, aber es gibt auch andere
Sicherheitsgefahren für Karni." Einzelheiten wollte er nicht preisgeben.
Gleichwohl verkündeten am Mittwoch die "Nationalen Garden" der DFLP und die
El-Aksa-Brigaden der Fatah, einen Raketenangriff auf den geschlossenen
Sufa-Übergang wenige Kilometer nördlich von Kerem Schalom, aus "Rache für
israelische Aggressionen", ausgeführt zu haben. Diese Attacke wurde nur von
palästinensischen Medien vermeldet und von den Israelis nicht einmal
wahrgenommen.
Schon beschuldigen sich beide Seiten der Verantwortung für eine
bevorstehende Hungersnot im Gazastreifen. Palästinenser bezichtigen Israel,
"willkürlich und aus politischen Gründen" das Karni-Terminal zu sperren.
Israel bezichtigt die Palästinenser, nicht nach Kerem Schalom ausweichen zu
wollen, um Israel die Schuld für den Hunger in die Schuhe zu schieben.
© Ulrich W. Sahm / haGalil.com
hagalil.com 19-03-2006 |