Zum Beispiel:
Sally Simoni beim Maurermeister
von Jani Pietsch Sally
Simoni und Franz Künkel sind seit Ende der 30er Jahre beruflich
miteinander bekannt. Franz Künkel ist Maurerpolier und lebt seit
1920 in einem Ortsteil von Schöneiche, der Villenkolonie genannt
wird. Künkels Haus ist jedoch keine Villa. Franz und seine Frau Emma
haben selbst gebaut, Verwandte haben mitgeholfen. Wie ein
Spielzeugwürfel mit angebauter Veranda liegt ihr graues
Steinhäuschen in der Lindenstraße. Der
am 10. Mai 1905 geborene Sally Simoni ist Schneider und könnte vom
Alter her fast der Sohn von Künkels sein. Der Junggeselle wohnt mit
den Eltern in einer winzigen Schneiderwerkstatt in der Landsberger
Allee 10 am Berliner Friedrichshain. Im vorderen Raum wird
zugeschnitten, genäht und gebügelt, in den hinteren Zimmern wohnt
die Familie. Im Jahr 1939 ist ihre Schneiderei einer von 5.800
jüdischen Handwerksbetrieben im Deutschen Reich, die unter Zwang
geschlossen werden. Irgendwann in dieser Zeit sagt Franz zu Sally,
»Wenn mal was ist, kannst du dich melden.« Sally Simoni ist Jude.
Franz Künkel nicht. »Wir helfen dir, soweit möglich.« Als
Sozialdemokrat hat er in etwa eine Vorstellung davon, was Verfolgung
heißt.

Im Frühjahr 1943 ist es soweit. Am 27. Februar wird
Sally Simoni an seiner Arbeitsstelle, den Märkischen Kabelwerken in
der Berliner Jungfernheide, verhaftet. Die Massenverhaftung der über
10.000 noch in Berlin verbliebenen Juden, die mit einem arischen
Ehepartner verheiratet sind, einer solchen Ehe entstammen oder in
einem kriegswichtigen Betrieb arbeiten, wird gefolgt von der
Deportation von mehr als 6.000 Juden zwischen dem 1. und 4. März
1943. Hertha Bock, eine der beiden Schwestern von Sally, und ihr
Mann Kurt gehören zu den Deportierten. Auch in Breslau, Dresden und
in anderen Städten werden Juden verhaftet, die – wie Sally – in der
Rüstungsproduktion Zwangsarbeit leisten. Die
mit Hilfe der Waffen-SS überfallartig durchgeführte Razzia der
Gestapo steht unter dem Motto »Berlin wird judenfrei«. Auf Lastwagen
werden die jüdischen Zwangsarbeiter morgens um acht Uhr von ihren
Arbeitsplätzen in den Hof der ehemaligen Synagoge in der
Charlottenburger Levetzowstraße geschafft. Im ersten Durcheinander
gelingt es Sally Simoni, sich unbemerkt unter einen der Lastwagen zu
werfen. Stundenlang harrt er dort aus, ohne sich zu bewegen. Es ist
bereits Nacht, als die Türen des Fahrerhauses aufgerissen werden und
der Motor anspringt. Der 38-jährige Sally Simoni klammert sich an
dem öligen Gestänge unter dem Lastwagen fest und schafft es, sich
daran festzuhalten, während der LKW das Tor passiert und in die
Straße einbiegt. An der nächsten Ecke lässt Sally los. Noch im
Aufschlagen auf dem Pflaster sieht er die rot leuchtenden
Schlusslichter, der Wagen rumpelt weiter. Sally Simoni verliert
keine Zeit. Bereits im Gehen reißt er den Stern von der Jacke ab,
dann erst klopft er den Straßenstaub von seinen Sachen. Auf direktem
Weg läuft er den weiten Weg quer durch die Stadt bis zur Landsberger
Allee. Er weiß, dass seine Eltern noch zu Hause und ebenfalls in
Gefahr sind, deportiert zu werden. Er lässt ihnen kaum Zeit, eine
Strickjacke oder Wäsche zum Wechseln in eine Tasche zu packen, bevor
sie die vertraute Umgebung hinter sich lassen...
"Ich besaß einen Garten
in Schöneiche bei Berlin"
von Jani Pietsch
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Broschiert - 300 Seiten - Campus Verlag, Erscheinungsdatum: März
2006
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