Merkel im Nahen Osten:
Verpasste Chancen
Von Reiner Bernstein, München
Ob sich der
Wahlerfolg von "Hamas" tatsächlich als ein Sieg der Demokratie
feiern lässt, wie er von manchen Kommentatoren in den vergangenen
Tagen verkündet wurde, lässt sich mit Recht kritisch befragen. Man
muss nicht in die deutsche Geschichte vordringen, um manche Zweifel
darüber zu äußern, ob es der "Bewegung des Islamischen Widerstandes"
gelingen wird, sich zu einer politisch verlässlichen Kraft zu
mausern, der die Regierungsfähigkeit nach innen und außen
zugeschrieben werden kann. Bis dahin bleibt sie unberechenbar. Zu
lange hat sie ihr Image gepflegt, mit ungezügelter Gewalt Israel aus
den palästinensischen Gebieten zu vertreiben – mit dem bekannten
Ergebnis des Scheiterns. Ihre Behauptung, sie habe den Gazastreifen
von der israelischen Okkupation befreit, gehört ins Reich der
Märchen.
Wenige Tage vor
dem Besuch Angela Merkels in Jerusalem und in Ramallah
veröffentlichte das UN-Koordinationsbüro für Humanitäre
Angelegenheiten seinen regelmäßig erscheinenden Wochenbericht. In
ihm war nachzulesen, dass zwischen dem 18. und 24. Januar fünf
Palästinenser durch israelischen Beschuss zu Tode kamen und fünf
verletzt wurden. Gleichzeitig wurden sechs Israelis von
Palästinensern getötet und 32 verletzt. Doch kaum liegt das
endgültige Ergebnis der palästinensischen Wahlen vor, laufen die
europäischen Nahostexperten wie aufgescheuchte Hühner herum, wie aus
Brüssel berichtet wird. Warum denn? Ist ihnen nicht aufgefallen,
dass "Hamas" in den letzten Monaten an terroristischen Aktionen
nicht beteiligt war?
Dem deutschen
Publikum bleiben die Inhalte der Gespräche von Merkel mit Ehud
Olmert und Machmud Abbas unbekannt. Das politische Geschäft verlangt
Diskretion und Verschwiegenheit. Desto auffälliger sind die
öffentlichen Äußerungen der Bundeskanzlerin, die sie an beide
Parteien richtete. Sie zeugen, wie man in der Diplomatensprache
sagen würde, von einer gewissen Asymmetrie. Merkel nahm von der
Einmischung in innerisraelische Angelegenheiten, zu denen sie
offenkundig auch die Beziehungen zu den Palästinensern versteht,
deutlich Abstand, während sie in der Begegnung mit Abbas keinen Hehl
daraus machte, welche politischen Erwartungen sie an die neue
Regierung in Ramallah knüpft. Wenn sie vorhatte, die Kompetenz
Joschka Fischers in diesem für die Region zentralen Konflikt in den
Schatten zu stellen, so ist ihr diese Absicht gründlich misslungen.
Merkel wäre gut beraten gewesen, Fischers Lektion mit auf die Reise
zu nehmen, wie schnell die deutsche Außenpolitik ihrer
Gestaltungsansprüche im nahöstlichen Unterholz verlustig geht.
Der Antagonismus
zwischen beiden Völkern wird deshalb vom jüngsten Besuch
unbeeindruckt bleiben. Mehr noch. Unabhängig von der deutschen
Einbindung in den europäischen Rahmen setzt die neue Bundesregierung
eine Tradition fort, die ihrer Vorgängerin nicht fremd war: Sie
vertauscht die Ursache des israelischen Regimes in den
palästinensischen Gebieten mit den Folgen palästinensischer
Gewaltakte. An dieser Verwechslung krankte die "Road Map" des
internationalen Quartetts, ohne dass aus ihr die Konsequenz gezogen
ist, auch Israel auf seine Verpflichtungen gegenüber den
Palästinensern nachdrücklich hinzuweisen. Glaubt ihr wirklich,
fragte in diesen Tagen ein in der Westbank lebender Rabbiner seine
Landsleute, an einen Frieden ohne Islam? Im Gleichklang mit Arafats
chaotischem Erbe hat die Okkupation einen Zustand bewirkt, der
"Hamas" in den Augen der palästinensischen Mehrheit den Nimbus als
Partei der nationalen Errettung verliehen hat.
Es wäre zu
wünschen gewesen, dass sich Merkel die Abbas’ Ansprache am 26.
Januar hätte vorlegen lassen, nachdem der "Hamas"-Sieg feststand:
"Das Hauptziel meines Volkes und seiner Regierung ist das Ende der
Besatzung und die Schaffung eines unabhängigen Staates mit al-Quds
als seiner Hauptstadt." Statt dessen begnügte sich die
Bundeskanzlerin damit, den palästinensischen Präsidenten an seine
"sehr große Verantwortung" für Ruhe und Ordnung in der Westbank und
im Gazastreifen zu erinnern. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung"
berichtete aus Delegationskreisen, Merkel und Olmert "sprechen
dieselbe Sprache". Wer heute in Europa über den Aufstieg des
politischen Islam klagt, sollte eingestehen, dass aus falscher
Rücksichtnahme auf die israelische Regierung die energische
Unterstützung des palästinensischen Präsidenten unterlassen worden
ist.
Als Leiter des
israelischen Teams der "Genfer Initiative" Yossi Beilin hat jüngst
in einem Buch zu diesem Thema geschrieben, er habe seinen deutschen
Gesprächspartnern "oft gesagt, dass wahre Freundschaft nicht blinde
Unterstützung und diplomatische Hängepartien auf dem Rücken dessen,
was Israel auch immer tut, bedeuten darf. Sie muss statt dessen eine
klarsichtige Vision und einen offenen Meinungsaustausch über Israels
beste dauerhafte Interessen einschließen, die nach allen Erfahrungen
die Interessen des Friedens sind." Diesen beiden Sätzen wäre nichts
hinzuzufügen, wenn nicht dies: Wie lange will es sich die deutsche
Außenpolitik um ihrer eigenen Glaubwürdigkeit noch leisten, in ihrer
Ohmacht zu verharren? Glaubt sie tatsächlich, mit dem rhetorischen
Mantra des "Existenzrechts des Staates Israel" ihren Verpflichtungen
in dieser Region Genüge zu tun?
Vor mehr als drei
Jahrzehnten war ich mit einer deutschen Delegation beim damaligen
israelischen Staatspräsidenten eingeladen. Als wir unter ehedem viel
dramatischeren Umständen angesichts der arabischen
Verweigerungsfront diesen Satz in der allfälligen Grußadresse
vortrugen, wurden wir von einem Begleiter des Präsidenten mit dem
Satz beschämt: "Für unsere Sicherheit sorgen wir schon selbst."
Der Autor hat
vor kurzem das Buch
"Von Gaza nach
Genf. Die Friedensinitiative von Israelis und Palästinensern"
(Schwalbach/Ts. 2006) vorgelegt. |