Vergleich zwischen Israel und dem südafrikanischen Apartheidsystem:
Warum wird Israel als Horrorkabinett dargestellt?
Von Benjamin Pogrund, Ha'aretz, 13.02.2006
Übersetzung Daniela Marcus
Vor fast drei Jahren unterzog ich mich in einem
Jerusalemer Krankenhaus einer Operation. Der Chirurg war Jude, der
Anästhesist Araber. Die Ärzte und Schwestern, die sich um mich kümmerten,
waren Juden und Araber. Ich musste einen Monat lang das Bett hüten und
konnte dabei beobachteten, wie das Krankenhauspersonal anderen Patienten die
gleiche qualifizierte Pflege zukommen ließ wie mir. Etwa die Hälfte der
Patienten waren Araber und die anderen waren Juden. Alle lagen auf der
gleichen Station, wurden im gleichen OP-Saal operiert und benutzten die
gleichen Badezimmer.
Nach diesem Erlebnis fällt es mir schwer, diejenigen zu verstehen, die
Israel mit dem südafrikanischen Apartheidsystem gleichsetzen. Was ich im
Hadassah-Krankenhaus auf dem Skopusberg gesehen habe, wäre in Südafrika, wo
ich die meiste Zeit meines Lebens verbracht habe, wo ich aufgewachsen bin
und dann als Journalist an der Aufdeckung der Apartheid gearbeitet habe,
undenkbar gewesen. Es passierte nicht und es konnte nicht passieren. Denn
Schwarze und Weiße waren strikt getrennt. Schwarze bekamen das letzte und
das schlechteste. Und das Krankenhaus ist nur ein Bereich des Lebens. Busse,
Postämter, Parkbänke, Kinos – alles war per Gesetz getrennt. Demzufolge ist
keine Gleichsetzung zwischen Israel und dem südafrikanischen Apartheidsystem
möglich.
Dies kam mir in den Sinn als ich kürzlich den zweiteiligen Bericht über
Israel und Apartheid in der britischen Zeitung "Guardian" las. Der Autor,
Chris McGreal, ist ein hervorragender Journalist. Ich bewundere seine
Berichte über Israel und die palästinensische Autonomiebehörde. Tag für Tag
stellt er den Konflikt aufrichtig und korrekt dar. Doch die jetzigen Artikel
sind enttäuschend. McGreal hat seinen Weg im Dickicht der Informationen
verloren. Er war unfähig, das Wirrwarr und die Komplexität der
Gruppenbeziehungen in Israel zu lösen. Er verwickelte sich in der
Unterscheidung der Situation von israelischen Arabern, Arabern der Westbank
und Arabern in Jerusalem.
Nicht dass er vollkommen falsch liegt. Araber haben unter ernsthaften
Diskriminierungen zu leiden. Israel hält die Westbank besetzt und ist für
harte und üble Aktionen verantwortlich. Doch er scheitert darin, das Warum
und Weshalb zu erklären. Er hatte die Wahl zu entscheiden, wie er die
Situation darstellen wollte. Er hätte den Ansatz von Heribert Adam und
Kogila Moodley wählen können. Beides sind bekannte kanadische Akademiker,
die auf Südafrika und den Nahen Osten spezialisiert sind. In ihrem Buch
"Seeking Mandela", das letztes Jahr herausgegeben wurde, sagen sie: "Obwohl
Israel und die Apartheid Südafrikas oft als ‚koloniale
Siedlergesellschaften’ gleich gesetzt werden, sind wir der Meinung, dass die
Unterschiede gegenüber den Ähnlichkeiten überwiegen." Sie warnen davor, dass
die simple Annahme, das südafrikanische Modell sei ohne weiteres dafür
geeignet, exportiert zu werden, notwendige neue Lösungen verzögern könne,
indem man sich an Visionen oder Verhandlungsprozesse klammere, die in einem
anderen Zusammenhang nicht funktionierten. Diese Einschätzung ist mit
Sicherheit weitaus wichtiger als die herabsetzenden Ansichten Hendrik
Verwoerds –einem Vater der Apartheid- über Südafrika und Israel zu zitieren,
wie es McGreal seltsamerweise getan hat.
McGreal musste entscheiden, ob das Glas halbvoll oder halbleer ist. Sein
Zugang hätte derjenige sein können, dass es hier einen kleinen Staat gibt,
der vor weniger als 58 Jahren im Schatten der Schoah entstand. Seit seiner
Gründung wurde dieser Staat ständig angegriffen, und auch heute noch wird er
von Feinden bedrängt, die sich verschworen haben, ihn zu vernichten, seien
es nun Islamischer Dschihad und Hamas durch Selbstmordanschläge, die
arabischen Staaten durch ihre Weigerung, Israels Existenz anzuerkennen, der
kürzliche Aufruf zur "Auslöschung" durch den iranischen Präsidenten oder die
Aktionen und Erklärungen von allen möglichen bösartigen Mächten und
Antisemiten. All dies ruft unter Israels Juden einen Verfolgungswahn hervor.
Sie kämpfen um zu leben, und sie kämpfen nicht immer auf angenehme Art. Sie
machen schreckliche Fehler und fügen anderen Menschen Leid zu. Dies ist kein
Geheimnis. Und ich weiß nicht, warum Chris McGreal sagt, die israelische
Öffentlichkeit sei sich dessen, was diesbezüglich geschieht, nicht bewusst.
Denn Zeitungen veröffentlichen in Hülle und Fülle Details, die Diskussionen
und Aktionen hervorrufen.
Ja, Rassismus existiert in Israel. Er ist gegen Araber gerichtet und ist
auch unter Juden selbst zu finden. Von Amir Peretz, dem neuen Chef der
Arbeiterpartei, wird gesagt, er habe Probleme mit aschkenasischen Wählern
–also mit Juden, die in westlichen Ländern geboren wurden-, da er selbst in
Marokko geboren und somit ein sephardischer Jude sei. Eine Erklärung für die
Gewalt der Polizei bei der Räumung des Siedlungs-Vorpostens Amona, die
kürzlich stattfand, war der Antagonismus zwischen den protestierenden jungen
Menschen, die mehrheitlich religiöse Aschkenasen waren, und der Polizei,
deren Stab aus marokkanischen und russischen Immigranten, Beduinen und
Drusen zusammengesetzt war.
Unterscheidet sich Israel hier jedoch so sehr von anderen Ländern, die sich
ebenfalls abmühen, mit ihren Minderheiten-Gruppen klar zu kommen? Warum wird
Israel wie kein anderes Land der Welt als Horrorkabinett dargestellt?
Das Glas ist in der Tat halbvoll. In Südafrika war eine Änderung zum
besseren schlichtweg unmöglich: Das Apartheidsystem musste ausgerottet
werden. Im Gegensatz dazu ist in Israel eine Änderung möglich. Eine
Anschuldigung des arabischen Knessetmitgliedes Ahmed Tibi, nach der die
israelische Zentralbank eine diskriminierende Beschäftigungspolitik habe, da
es keine Araber unter den 800 Mitarbeitern gäbe, zog die Versicherung des
damaligen Bankdirektors nach sich, dass man Arbeitsangebote auch in Arabisch
sprechenden Medien veröffentlichen würde. Der Direktor fügte hinzu: "Die
Bank von Israel stellt Arbeiter entsprechend ihrer Qualitäten ein und macht
keine Unterschiede bezüglich Religion, Geschlecht, Rasse oder Nationalität."
Tibi hatte sich ebenfalls beklagt, dass die israelische Stromgesellschaft,
die ein staatliches Monopol innehat, keine Araber angestellt habe.
Inzwischen wurde ein Anfang gemacht, indem man sechs Araber eingestellt hat.
Es gibt ständig Fortschritte: Die Beweise dafür liegen vor. Sie sind für
jedermann, der sie sehen möchte, sichtbar. Vor zwei Jahren wurde der erste
Araber als Richter an den Obersten Gerichtshof berufen. Letztes Jahr wurde
zum ersten Mal ein Araber als leitender Direktor eines
Regierungsministeriums ernannt.
McGreal sagt, innerhalb von Israel sei 93% des Landes für Juden vorbehalten
während die Weißen in Südafrika 87% des Landes für sich beansprucht hatten.
Somit sind laut McGreal Israel und das Apartheidsystem in Südafrika ein- und
dasselbe. Doch sein q.e.d. (quod erat demonstrandum – was zu beweisen war)
ist nicht so einfach wie es uns das Anführen dieser Zahlen glauben machen
will. Laut Gesetz ist das Land in Israel offen für jedermann. In der Praxis
jedoch sind 93% des Landes durch juristische Vorgaben nur für Juden
bestimmt. Diese Vorgaben wurden jedoch von der arabischen Familie Ka’adan
durchbrochen: Nach einem 10jährigen juristischen Kampf haben sie Recht
bekommen, Land in der "jüdischen" Kommune Katzir im Norden Israels zu kaufen
und dort ein Haus zu bauen. Der Oberste Gerichtshof hat damit einen
Präzedenzfall geschaffen und entschieden, dass der Staat auf der Basis der
Religion oder Nationalität nicht diskriminierend vorgehen darf, wenn er Land
für israelische Bürger bereitstellt. Der Fall hat sich in die Länge gezogen.
Doch der Erfolg ist in Sicht. Weitere Gerichtsverhandlungen laufen. Das
Thema Landerwerb veranschaulicht sowohl die negativen wie die positiven
Aspekte des Lebens der Araber Israels: Es fördert die Diskriminierung zutage
– und die Bewegung in Richtung einer Änderung, langsam aber sicher.
Bezüglich des Themas Bildung sagt McGreal, dass getrennte und ungleiche
Bildungssysteme ein zentraler Punkt der Strategie des Apartheidsystems
gewesen seien, um schwarze Kinder auf das Ausüben körperlicher Arbeit zu
beschränken. Dies sah ich mit eigenen Augen in Südafrika und ich kämpfte
dagegen. Doch ich muss McGreals Bezug auf das, was er die gegenwärtige
Meinung arabischer Eltern in Israel nennt, in Frage stellen. Er sagt,
arabische Eltern denken, die Schulen ihrer Kinder würden absichtlich kaum
finanzielle Unterstützung durch den Staat erhalten, damit Araber dazu
verurteilt seien, nur minder qualifizierte Arbeiten tun zu können. Jedoch
bekommt jede staatliche Schule in Israel, ob sie nun jüdisch oder arabisch
ist, die gleiche finanzielle Unterstützung. Unterschiede und somit
finanzielle Ressourcen entstehen durch das, was Eltern und Kommunen
bezahlen. Die meisten Kommunen in Israel haben nur geringe finanzielle
Mittel zur Verfügung. Und arabische Kommunen haben oftmals Probleme, die
örtlichen Steuergelder von ihren Bürgern zu erhalten. Die jüdischen Schulen
sind jüdische Tagesschulen. Die arabischen Schulen sind moslemisch und der
Unterricht wird in Arabisch gehalten, wobei Arabisch eine offizielle Sprache
in Israel ist. Arabern wird nicht verboten jüdische Schulen zu besuchen. Und
manche von ihnen tun dies.
Auch die Zahlen des Gesundheitsministeriums, die McGreal bezüglich der
staatlichen Ausgaben für die Entwicklung medizinischer Einrichtungen in
arabischen Gebieten ausgewählt hat, erstaunen mich. Sie implizieren, dass
Araber nur eine geringe medizinische Versorgung erhalten. Im Gegensatz zu
dem von McGreal gezeichneten Bild, ist der Bereich Gesundheit jedoch ein
deutlicher Indikator für die Unterschiede zwischen dem südafrikanischen
Apartheidsystem und Israel. In Südafrika lag die Säuglingssterblichkeit im
Jahr 1985 bei 78 per 1.000 lebend Geborenen. In den Gruppen nach Hautfarben
sahen die Zahlen wie folgt aus: Weiße – 12, Asiaten – 20, Farbige – 60,
Schwarze – 94 bis 150. In Israel lag die Säuglingssterblichkeit in den
1950er Jahren unter Moslems bei 60,6 und unter Juden bei 38,8. Nach
wesentlichen Verbesserungen in der medizinischen Versorgung während der
1990er Jahre lag die Säuglingssterblichkeitsrate im Jahr 2001 unter Arabern
bei 7,6 (Moslems 8,2; Christen 2,6; Drusen 4,7) und unter Juden bei 4,1.
Gemäß dem Gesundheitsministerium liegt die höhere Anzahl unter den Moslems
hauptsächlich an genetischen Defekten auf Grund von Ehen zwischen nahen
Verwandten. Auch Armut ist ein Faktor. Zahlen aus anderen Ländern im Jahr
2000: Schweiz: 8,2 (12,3 bei den dort lebenden Türken); USA: Weiße – 8,5;
Schwarze – 21,3.
McGreal irrt auch wenn er sagt, Araber seien zur Diskriminierung ausgewählt,
weil sie reduziertes Kindergeld erhielten. Arabern ergeht es hier jedoch
genauso wie jüdischen ultra-orthodoxen Familien. Diese beiden Gruppen haben
die höchste Kinderanzahl und leiden gleichermaßen an den Kürzungen des
Kindergeldes, die hauptsächlich ab dem fünften Kind in Kraft treten.
Kürzlich habe ich hier in Jerusalem im Fernsehen einen BBC-Film über
Auschwitz gesehen. Ein Teil handelte von der französischen Kollaboration und
der Auslieferung von Juden an die Nazis, mit dem Ziel, die Juden zu
vernichten. Es wurde auch berichtet, wie britische Polizisten auf der Insel
Guernsey drei jüdische Frauen an die Nazis übergeben haben. Dies war eine
Erinnerung daran –falls überhaupt eine nötig ist- warum Israel existiert.
Israel existiert, um den Jahrhunderte alten Traum einer Heimat und einer
Zuflucht für Juden zu erfüllen. Der Staat ist nicht perfekt. Er kämpft, um
sich selbst als jüdischen Staat zu finden, wobei kein Konsens darüber
herrscht, was ein jüdischer Staat bedeutet. Er kämpft für eine demokratische
Gesellschaft mit vollen Rechten für Minderheiten. Er verdient Kritik für
seine Schwachstellen und Fehler. Er verdient aber auch Verständnis und
Unterstützung wenn er mit unbegründeten Angriffen konfrontiert wird.
Benjamin Poground wurde in Südafrika geboren und war
stellvertretender Herausgeber der Zeitung "Rand Daily Mail" in Johannesburg.
Er ist Autor von Büchern über Robert Sobukwe, Nelson Mandela und die Presse
im Apartheidsystem. Er lebt seit mehr als acht Jahren in Israel und ist
Gründer des "Yakar’s Centre for Social Concern" in Jerusalem – ein Zentrum
für soziale Anliegen, das den Dialog über politische und ethnische Grenzen
hinweg fördert.
Der Artikel erschien am 08.02.2006 auch im
Guardian.
hagalil.com 17-02-2006 |