MEMRI Special Dispatch – 3. Januar 2006
Umgang mit den Islamisten:
Die EU, die Hamas und die Wahlen in Palästina
Noch immer ist unsicher, ob die für den
25. Januar geplanten palästinensischen Parlamentswahlen von Mahmoud
Abbas verschoben werden. Nachdem Israel die Ankündigung zurückgenommen
hat, die in Ost-Jerusalem lebenden Palästinenser von den Wahlen
auszuschließen, steht Abbas unter wachsendem Druck von Mitgliedern
seiner regierenden Fatah-Partei. Wohl nicht zuletzt, weil der Hamas
derzeit über 40% der Sitze prognostiziert werden, wollen sie die Wahlen
erneut aufschieben. [1]
Gleichzeitig haben die Erklärungen von
Javier Solana über eine mögliche Streichung von EU-Finanzhilfen im Falle
einer Regierungsbeteiligung der Hamas scharfe Reaktionen ausgelöst. Von
Vertretern der Palästinensischen Autonomiebehörde wurden die von Solana
in Gaza gemachten Äußerungen als "schwerwiegende Verletzung des
Grundsätze der Demokratie" [2] und als Einmischung in die inneren
Angelegenheiten zurückgewiesen. [3] Auch in Kommentaren verschiedener
arabischer Zeitungen wurde Solanas Erklärung als Drohung seitens der EU
wahrgenommen und zurückgewiesen. Im Kern der Kritik stand dabei der
Vorwurf, die EU habe in der Vergangenheit - ebenso wie die USA - die
Verbreitung der Demokratie im Nahen Osten propagiert, würde nun aber die
Errichtung einer wirklichen Demokratie in Palästina verhindern. Im
Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus vier Kommentare, in denen auf
die Erklärungen Solanas eingegangen wird.
In der panarabischen Tageszeitung Al-Sharq
Al-Awsat kritisiert Ahmed Al-Rabei die Drohungen seitens der USA und der
EU als "unvernünftig". Schließlich habe in der Vergangenheit gerade das
Scheitern der islamistischen Gruppierungen in Regierungspositionen dazu
geführt, ihre Attraktivität bei den jeweiligen Bevölkerungen stark zu
verringern. [4] Aus diesem Grund sei der richtige Umgang mit den
Islamisten nicht der Ausschluss von den Wahlen, wie er von den USA und
der EU gefordert werde, sondern ihre Beteiligung und anschließende
Entblößung im politischen Prozess:
"Die Erfolge der Muslimbrüder bei den
ägyptischen Wahlen und der Hamas in einigen Städten bei den
Kommunalwahlen in Palästina bedeuten nicht notwendigerweise, dass die
Menschen von diesen Parteien überzeugt sind. Der Erfolg dieser Parteien
stellt unter Umständen vielmehr eine Botschaft an die dominierenden
Kräfte in diesen Gesellschaften und den Versuch dar, die herrschenden
Parteien zur Ordnung zu rufen. Denn diese Parteien tragen die
Verantwortung für die Herrschaft und sind für alle Fehler und
Missgeschicke des Staates verantwortlich. Mit ihrem Votum für
konkurrierende Kräfte, versucht die Bevölkerung diese Parteien zu
disziplinieren.
Dabei können die fundamentalistischen
Kräfte nur solange eine Position der Stärke aufrecht erhalten, bis sie
selbst [politische] Entscheidungen fällen müssen. Sie beschuldigen Teile
der [regierenden] Nationalpartei in Ägypten und der palästinensischen
Nationalbehörde der Korruption. Diesen Trumpf werden sie solange
ausspielen, bis sie selbst an den [politischen] Entscheidungen teilhaben
– sobald sie aber über Geld und Macht verfügen, werden die Menschen
entdecken, wie glaubwürdig diese [islamistischen] Kräfte tatsächlich
sind und wie weiß ihre Weste wirklich ist."
Laut Al-Rabei lassen sich die Erfahrungen
mit den islamistischen Regimen im Sudan und Iran mit denjenigen
vergleichen, die mit den nationalistischen Regimen im Irak und Ägypten
gemacht worden seien. Nirgendwo könnten diese Regime die Erwartungen der
Bevölkerungen erfüllen und so schließt er:
"In einer Demokratie gibt es keine andere
Wahl, als das Ergebnis zu akzeptieren. Wichtig ist allein, dass es
Instrumente gibt, welche die Einhaltung der Spielregeln garantieren und
mit denen jeder Putsch gegen die Demokratie zurückgewiesen werden kann."
Sehr viel schärfer kritisieren andere
Kommentare die Haltung der EU. So stellt beispielsweise Ali Al-Safadi
für die jordanische Tageszeitung AL-Dustour den Widerspruch heraus, der
seiner Meinung nach zwischen den Forderungen nach einer Demokratisierung
der Region und den aktuellen Drohungen seitens der EU und den USA
bestehe [5]:
"[...] Die USA mit ihren Erklärungen, dass
die Verbreitung der Demokratie der Eckpfeiler ihrer Außenpolitik sei,
die Europäische Union, mit ihrem Aufruf an die Länder der Region, den
Forderungen nach demokratischen Reformen Folge zu leisten, und Israel,
das von sich selbst behauptet, die einzige Demokratie in der Region zu
sein, dabei aber die palästinensische Bevölkerung und seine arabischen
Bürger rassistisch diskriminiert – ausgerechnet diese Kräfte sind es,
die nun Bedingungen festlegen, unter denen die palästinensische
Demokratie dahinschrumpft. Sie sind es, die für die Mängel der
palästinensischen Demokratie verantwortlich sind und eine vollständige
Beteiligung und wirkliche Repräsentation der palästinensischen Bürger in
der Westbank und im Gaza-Streifen verhindern. [...] All dies
widerspricht den einfachsten Prinzipien wie sie in der internationalen
Erklärung der Menschenrechte festgelegt sind."
In ähnlicher Weise äußert sich auch Ilyas
Sahab in einem Kommentar für die Zeitung AL-Khalij aus den Vereinigten
Arabischen Emiraten. [6] Seiner Ansicht nach war die Haltung Europas
gegenüber den arabischen Ländern schon immer ambivalent: Auf der einen
Seite habe sich Europa bemüht, mit der kolonialen Vergangenheit zu
brechen, auf der anderen Seite gebe es in den europäischen
Gesellschaften ein "Schuldgefühl" wegen der antisemitischen Verfolgungen
gegenüber den Juden, welches von Israel durch "Erpressungen, die kein
Ende zu nehmen scheinen", ausgenutzt werde.
Solanas Erklärungen bewertet Sahab als
"Besorgnis erregend", weil sie die positiven Bemühungen der
Vergangenheit um eine ausgeglichene europäische Nahostpolitik in Frage
stellen. Nun müssten die Grundlagen der EU-Politik im Nahen Osten erneut
hinterfragt werden:
"1. Würde es Solana oder irgendein
europäisches Land wagen, eine Erklärung abzugeben, die die zukünftigen
Beziehungen Europas mit ‚Israel’ vom Ausgang der dortigen Wahlen
abhängig macht? [So dass man etwa] an den Beziehungen festhalten würde,
wenn die Linke die Wahlen gewinnen würden, im Fall eines Wahlsiegs der
Rechten hingegen die Beziehungen zwischen Europa und ‚Israel’ abbrechen
oder ‚Israel’ eventuell sogar seine Anerkennung absprechen würde?!
2. Hat Europa nun endgültig die Geschichte
seiner verschiedenen nationalen Widerstandsbewegungen gegen die
nazistische Besetzung vergessen? Dieses Vergessen führt dazu, dass
Europa der palästinensischen Bevölkerung bis heute nicht das Recht
zugesteht, sich der israelischen Besetzung ihres Landes mit allen
möglichen Mitteln, darunter auch denen der Gewalt, zu widersetzen.
3. Würde es Europa wagen, seine
Beziehungen zu ‚Israel’ (ganz zu schweigen von der Anerkennung
[Israels]) in der einen oder anderen Weise von einer den UN-Beschlüssen
entsprechenden Beendigung der Besetzung der arabischen Länder durch
‚Israel’ abhängig zu machen?
Die sehr deutliche Erklärung des
Verantwortlichen für die außenpolitischen Belange der EU führt uns zum
Kern des Problems, unter dem die europäische Haltung leidet. Dieses
Problem lässt sich so zusammenfassen: Wenn Europa seinen Ur-Fehler nicht
anerkennt (um nicht wie der britische Intellektuelle Toynbee von einem
Ur-Verbrechen zu reden), dann wird jede politische Position Europas zu
allen Fragen bezüglich Palästinas haltlos bleiben – in juristischer,
moralischer und humanitärer Hinsicht. Der Ur-Fehler Europas besteht
darin, dass es das Problem des europäischen Rassismus gegenüber den
Juden zu lösen versuchte, indem sie den Palästinensern ihr Land raubten,
anstatt eine europäische Lösung für ein ursprünglich europäisches
Problem zu finden. Nur vor dem Hintergrund eines solchen historischen
Eingeständnisses dieses Fehlers aber wäre es möglich, eine vernünftige
Politik zu formulieren, zu deren Kern die Anerkennung des Rückkehrrechts
der palästinensischen Bevölkerung gehören würde.
Das Scheußlichste aber, was Solana in
seiner Erklärung über die europäische Haltung zum Ausdruck brachte,
besteht in seiner Drohung, die finanzielle Unterstützung der
Palästinensischen Autonomiebehörde im Falle eines Sieges der Hamas
einzustellen - als ob Europa mit diesen Unterstützungszahlungen der
Bevölkerung Palästina abgekauft hätte und nun über das Land und seine
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verfügen könne, wie es ihm
gefalle."
Ähnlich argumentiert auch Said Al-Lawandi
in der ägyptischen Tageszeitung al-Ahram. [7] In seinem Kommentar ‚Die
europäischen Widersprüche: Zum Beispiel die Haltung gegenüber der Hamas’
heißt es dazu:
"Zur Zeit kann man nicht mehr zwischen
einer amerikanischen und einer europäischen Nahost-Politik
unterscheiden. […] Es ist verwunderlich, dass manche in unserer Region
immer noch auf einem [angeblichen] Unterschied dieser beiden politischen
Mächte bestehen, obwohl doch schon ein schneller Blick auf die
amerikanischen und europäischen Positionen deutlich macht, dass sie auf
den gleichen Überzeugungen basieren."
Für Al-Lawandi kamen die Erklärungen
Solanas in Gaza daher nicht überraschend, sondern stünden vielmehr in
einer Kontinuität mit anderen Entwicklungen im "neuen Europa", welches
nach dem Fall der Berliner Mauer und den folgenden internationalen und
regionalen Veränderungen entstanden sei:
"Europa nimmt den Mund sehr voll und
behauptet Tag und Nacht, es sei die Zitadelle der Demokratie und als
Erbe von Athen und Sparta stehe seine Art der Herrschaft und Politik in
der Tradition des alten griechischen Denkens. Es ist bedauerlich, dass
dieses Europa – schaut man sich die Erklärung Solanas an – nicht davor
zurückschreckt, der Demokratie einen Stoß zu versetzen."
Angesichts der europäischen Osterweiterung
und der veränderten transatlantischen Beziehungen konstatiert Al-Lawandi
einen drastischen Bedeutungsverlust der europäisch-arabischen
Beziehungen: "Kurz gesagt: Europa ist inzwischen weder Partner noch
Freund. Aber wann werden wir diese Veränderungen und Verschiebungen in
der arabischen Region endlich begreifen?"
Anmerkungen:
[1] Vgl. dazu International Herald Tribune :
http://www.iht.com/articles/2006/01/02/news/mideast.php
[2] Vgl. Live-Chat mit Abdullah Abdullah, dem stellvertretenden
palästinensischen Außenminister auf Islam Online, 22. Dezember 2005.
[3] Ebenso deutlich äußerten sich auch Vertreter der Hamas. In einem
Artikel erklärte das Mitglied der politischen Führung der Hamas, Ahmed
Muhammed Bahar, die Drohungen der USA, der EU und Israels seien ein
Beleg für die "verborgene Stärke", die der Hamas von Gott gegeben sei.
Die äußeren Einmischungen ähnelten jenen Versuchen in der Vergangenheit,
mit denen schon die Ungläubigen des Stammes Quraish gegen den Propheten
Muhammed gekämpft hätten. Dieser Kampf würde heute seine Fortsetzung
finden. Gott habe schließlich, so Bahar, das palästinensische Volk für
eine besondere Rolle im Kampf gegen die "Feinde Gottes" auserwählt.
Ikhwan Online, 22. Dezember 2005.
[4] Al-Sharq Al-Awsat (Großbritannien), 20. Dezember 2005.
[5] Al-Dustour (Jordanien), 22. Dezember 2005.
[6] Al-Khalij (VAE), 23. Dezember 2005.
[7] Al-Ahram (Ägypten), 24. Dezember 2005.
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