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Ungarn:
Nationalkultur und Ausgrenzung

Von Magdalena Marsovszky
Erschienen in: Kulturpolitische Mitteilungen, Zeitschrift für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. Deutschlands, 111, IV/ 2005, 14-16.

"Interessieren sich die Westeuropäer überhaupt ausreichend für die Belange der Mittel- und Osteuropäer, verstehen sie sie?" wurde der ungarische Schriftsteller Péter Nádas unlängst in einem Interview gefragt. "Nein", antwortete er, "sie sind uninteressiert und dementsprechend uninformiert, auf eine Weise, dass man nur staunen und lachen kann. Richtig lachen kann man aber nicht, weil sie eben auch Entscheidungen treffen".

Diese harten aber klaren Worte drücken ein Jahr nach dem EU-Beitritt das Empfinden aus, was man in Ungarn allgemein die 'westliche Ignoranz' nennt. Nach dem auch in Deutschland bekannten und kürzlich verstorbenen ungarischen Schriftsteller, István Eörsi fing dies bereits mit der 'Lüge vom Gulaschkommunismus' an, das heißt, damit, dass der Westen, vor allem Deutschland zwar den real existierenden Sozialismus anprangerte, doch was 'drüben' wirklich geschah, nicht zur Kenntnis nahm. Es wollte die kleine, für die Menschenrechte kämpfende Gruppe, aus der später die demokratische Opposition erwuchs, nicht wahrnehmen, statt dessen hätte es zur Konservierung des status quo im realsozialistischen Ungarn beigetragen. Doch, was war dieser status quo?

Einigen wenigen aufmerksamen Beobachtern, wie z.B. Hans Magnus Enzensberger ist bereits in der ersten Hälfte der 80er Jahre der Kulturnationalismus aufgefallen, der eine Art Widerstand gegen die alles okkupierende und Unterschiede nivellierende realsozialistische Doktrin bedeutete. Doch, wie er bereits damals bemerkte, ging er mit Antisemitismus einher. Der Ursprung dieses Kulturnationalismus ist die völkische Bewegung im wilhelminischen Deutschland, ist also an sich deutscher Import, der in Ungarn Ende des 19ten Jahrhunderts allerdings auf einen äußerst fruchtbaren Boden fiel. Die Ideologie der ungarischen völkischen Literatur geht, wie die der deutschen völkische Bewegung, auf die herdersche Vorstellung von Kultur, Volk und organischem Volkscharakter zurück und schlug sich in einem seit den 20er Jahren des 20sten Jahrhunderts andauernden Kulturstreit, bekannt als der 'Streit zwischen den Urbanen und den Volksnationalen', nieder, in der die 'Urbanen' immer die 'Anderen' und 'Fremden' waren, die ausgegrenzt werden sollten. Während jedoch das völkische Denken in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nach und nach demokratisiert werden konnte, wurde es in Ungarn durch den realsozialistischen Universalismusanspruch unterdrückt und erhielt deshalb ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre als kulturnationalistischer, völkischer Widerstand neue Triebe. Da in Mittel- und Osteuropa Kunst und Kultur damals einen elitären Charakter hatten (und zum großen Teil auch heute noch haben) und die Rolle eines "nationalen Orakels" erfüllten, nahmen an diesem Widerstand in erster Linie Schriftsteller, Publizisten und Philosophen teil.

Das Erstarken des nationalen Mythos vom 'kleinen aber reinen Magyarentum in der Rolle des Opfers fremder Großmächte' bedeutete für die Gesellschaft eine Kohäsionskraft. Gegen den Universalismusanspruch des Realsozialismus verstand sich der Widerstand also auch als ein ethnischer Widerstand des Magyarentums als 'ethnos', d.h. als imaginäre Gemeinschaft der Abstammung und Affiliation. Da der Kulturnationalismus durch den von ihr propagierten nationalen Mythos mit der herrschenden (paternalistischen, autoritätsgläubigen) Ideologie verwandte Reflexe entwickelte, wurde er vom Regime als Opposition geduldet, und der tolerierte Widerstand wurde somit zum gesamtgesellschaftlichen Konsens. Auch Züge einer Solidargemeinschaft konnten damals beobachtet werden: Obwohl die 'Urbanen' in ihrer Sozialismuskritik den Weg des westlichen Liberalismus einschlagen wollten, sprach man mit ihnen. Einen Dialog konnte man das jedoch nicht nennen, denn die Zügel der offiziellen realsozialistischen Kulturpolitik waren im Hinblick auf die Aktivitäten der 'Urbanen' besonders straff angezogen, zudem war die antisemitische Konnotation des 'Urbanen' als 'Jude' im Lande, wenn auch unausgesprochen, dennoch jedem geläufig. Ehemalige Dissidenten ('Urbane') beklagen heute, dass auch die deutschen Politiker und Journalisten, die infolge von Brandts Ostpolitik vermehrt Ungarn besuchten, mit ihnen nicht nur keinen Kontakt pflegten, sondern sie sogar als "Fantasten" abtaten und das Land somit indirekt am Prozess der Demokratisierung hinderten. Trügerisch war dieser Zusammenhalt auch deshalb, weil er nicht etwa durch die Demokratie, sondern durch das gemeinsame Feindbild der Besatzermacht Sowjetunion zusammengehalten wurde.

Nach der Wende schwanden die Kohäsionskräfte, die aus dem gemeinsamen Feindbild resultierten, aber es blieb der nationale Mythos, die Vision vom 'Widerstand des Magyarentums gegen die Besatzer'. Mit dem Erscheinen westeuropäischer, vor allem deutscher Kapitalgesellschaften sofort nach der Wende wurde die Gesellschaft praktisch über Nacht mit dem Prozess konfrontiert, den man allgemein 'Globalisierung', 'Westeuropäisierung' oder 'Amerikanisierung' nennt und der Traditionen und vertraute Lebensumstände zum Teil radikal wegfegte. Dieser Prozess verstärkte die ethnisierenden Tendenzen in der Gesellschaft und die Besinnung auf die Nationalkultur. Gegen die 'neuen Besatzer' entstanden nun 'patriotische' Kulturkonzepte. Auch Ungarns Kulturpolitik unterliegt seit der Wende ein - je nach Einstellung der Regierungen unterschiedlich intensiv ausgeprägter - nationalistischer Kulturbegriff, dessen Basis das romantische Ideal der Nation und ein ethnischer Volksbegriff bilden. Dieser Kulturnationalismus basiert auf der Volks- und Kulturbodenthese, wonach die 1920 infolge des Vertrags von Trianon abgetrennten Gebiete kulturell noch immer zu Ungarn gehörten und die dort lebenden ungarischen Minderheiten (symbolisiert durch die "Heilige Krone" St. Stephans aus dem 10. Jahrhundert) als "Magyarentum" zusammengefasst würden.

Doch die Auffassung des Volkes als 'ethnos' kann (im Gegensatz zu 'demos') bekanntlich zum Entstehen von kulturellem Ethnozentrismus beitragen, was notwendigerweise zur Bildung von 'ingroups' und 'outgroups' führt. Weil nach der ungarischen Auffassung zum 'Magyarentum' auch die in den Nachbarländern lebenden ungarischen Minderheiten gehören, die es kulturell zu integrieren gilt, wurden außerhalb der Landesgrenzen 'ingroups' bestimmt, was bereits in den ersten Jahren nach der Wende zum Erstarken des 'Großreich-Mythos' führte, während gleichzeitig innerhalb der Landesgrenzen 'outgroups', 'Fremde' konstruiert wurden, was sich als Antisemitismus niederschlug. Er nahm im Lande in den letzten 15 Jahren in dem Maße zu, in dem sich die Tendenzen der 'Globalisierung' verstärkt wahrnehmbar wurden. Der moderne Antisemitismus richtet sich jedoch zunächst nicht gegen reale Juden, sondern gegen ein kulturelles Konstrukt, denn die Protagonisten der 'nationalen Erneuerung' schreiben Menschen, die als 'Juden' bestimmt werden, eine solche Menge an gesellschaftlich negativen Eigenschaften zu, die keine materielle Entsprechung haben können und je haben konnten. Der Antisemitismus ist also in Ungarn (wie im Allgemeinen) nicht affirmativ als 'Judengegnerschaft', sondern im erweiterten anthropologischen Sinne als 'kultureller Code' oder als 'Weltanschauung' und somit als kulturelle Haltung aufzufassen. Hinter abstrakte Begriffe, wie 'liberal', 'kosmopolitisch', 'universalistisch' usw. werden 'Juden' oder 'vermeintliche Juden' gesetzt, und all diejenigen, die im Gegensatz zum Mythos von dem 'Vaterland' und der 'durch das eigene Blut getränkten Heimaterde' (nach dem Blut- und Bodenmythos) den Kosmopolitismus, die Urbanität und die Intellektualität verkörpern, werden als 'jüdisch' bestimmt.

Die Denkstrukturen dieser Form der Ausgrenzung richten sich auch gegen jene, die außerhalb geltender Normen vermutet werden, so z.B. auch gegen Roma und Homosexuelle. Nur so ist es zu verstehen, dass der Antisemitismus im heutigen Ungarn das konstitutive zusammenhaltende Element der Nationalkonservativen ist. Sie fühlen sich als 'die Nation' schlechthin, als die 'Rechten/ Richtigen' und 'echten Ungarn', die von den 'Linken', den 'Feinden des Volkes', den 'nicht-ungarischen', 'identitätslosen' und 'hungarophoben Vaterlandsverrätern' tiefe mentale Gräben trennen. Diese dienen ihnen als Projektionsfläche für ihre Probleme, Ängste und Sorgen, für patriotische Projekte zur Stabilisierung des Selbstbewusstseins, zur Erklärung krisenhafter Erscheinungen, und sie werden zur Zuweisung von Schuld benutzt. Die 'Sorge' um das eigene 'Volk' führt zur Rückbesinnung auf die eigenen 'authentischen' Werte, was jedoch die Rückbesinnung auf erfundene Traditionen und auf eine Ideologie mit antimoderner Stoßrichtung bedeutet. Menschen, die sich aus irgend einem Grund sozial wurzellos oder politisch unterdrückt fühlen, projizieren ihre Frustrationen auf den Prototyp dessen, was sie als 'fremd' bestimmen. Als 'fremd', 'wurzellos', 'identitätslos' und für die 'nationale Kultur zerstörerisch' wird aber auch die eigene, gegenwärtige (seit 2002 regierende) sozialistisch-liberale Regierungskoalition empfunden, weshalb die Nationalkonservativen permanent auf die 'Fremdbesetzung der Nation' anspielen und sie z.B. als 'Seelenfremde', 'Vasallen, verlängerter Arm der Globalisierung' und brüsseltreue 'Brüsseliten' (dies ist die Abwandlung des ehemaligen moskautreuen 'Moskowiten') bezeichnen.

Auch Verschwörungstheorien blühen auf. Begriffe wie "Tel Aviv – New York – Brüssel – Achse" oder "Euro-Zionismus" spiegeln die Aggressionen im Zusammenhang mit der (erlebten) Integration wider und stehen für eine vermeintliche jüdische Weltverschwörung mit der EU. Den Nationalstaat in Frage zu stellen, wird als Zeitgeist-Phänomen im Denken eines einflussreichen Teils der eigenen Elite angesehen. Dieses Denken sei als Strategie der politischen Eliten mächtiger Staaten darauf gerichtet, die kleinen Länder zum Verschwinden zu bringen. Die 'europäische Idee' wird in dieser Sichtweise ad absurdum geführt und mutiert zu einer neuen imperialen Herrschaftsideologie. So wird die Integration allgemein vielfach als "Anschluss", als "Kolonisierung" oder als einfacher Wechsel von der "Ost-EU" (Sowjet Union) in die "West-EU" (Europäische Union) erlebt.

Die zwischen 1994 und 1998, sowie seit 2002 regierenden sozialistisch-liberalen Regierungskoalitionen vermochten und vermögen dem nicht viel entgegenzusetzen. Erstens, weil sie keinen alternativen (demokratischen) Kulturbegriff anbieten können. Zweitens, weil sie offenbar fürchten, dass jede - so auch eine demokratische - Werteorientierung den Verdacht der Zensur und damit einer möglichen Nähe zu den ehemaligen realsozialistischen Machthabern wecken könnte. Drittens, weil sie auf eine gestaltende Kultur- und Medienpolitik verzichten. Da Kulturpolitik im Realsozialismus für die 'Erziehung des sozialistischen Menschen' zuständig war, ist sie kein Gegenstand progressiver örtlicher politischer Diskurse und ist eher als Schimpfwort gebräuchlich. Demgegenüber fasst die nationalkonservative Rechte Kultur im weiten Sinne gesellschaftspolitisch auf, wobei ihre kulturpolitische Zielsetzung 'Schutz des Magyarentums' an sich ausgrenzend und deshalb nicht demokratisch ist. Da sie jedoch eine konsequent durchdachte, 'volksnahe' und interaktive Kultur- und Medienpolitik betreibt, wächst ihr Einfluss im gesellschaftspsychologisch geteilten Land Ungarn dramatisch.

Forschungen beweisen eindeutig: Die beschriebenen Tendenzen sind, wenn auch nicht so ausgeprägt, auch für die anderen postkommunistischen Länder charakteristisch und hängen vor allem mit der Tatsache zusammen, dass in den letzten Jahren kapitalstarke, allen voran deutsche und amerikanische multinationale Unternehmen ganze Wirtschaftszweige aufkauften und mangels einer örtlichen Zivilgesellschaft und Interessenvertretungen für das Entstehen eines wilden Kapitalismus sorgten. Dies hat im Bereich der öffentlich-rechtlichen Medien eklatante Folgen, da der Konvergenzdruck in den letzten Jahren zu einem Niveauverfall von nie da gewesenem Ausmaß führte. Die Art, in der die Integration bisher verlaufen ist, hat den Demokratisierungsprozess in Mitteleuropa nicht nur nicht gefördert, sondern ihn sogar verhindert und den Integrationsgegnern weitere Argumente geliefert.

Trotz dieses – für ganz Europa gefährlichen - Prozesses bleiben Politiken und Programme, die das kulturelle Feld betreffen, in der EU eher auf "harmlose Bereiche" wie Austausch und Kooperation beschränkt, was einerseits die Verengung des Kulturbegriffes, andererseits die Stabilisierung des demokratischen Defizits in den Strukturen der Kulturpolitik der postkommunistischen Staaten bewirkt. Auch die in den alten EU-Ländern als Reaktion auf die neuen Nationalismen in Mittelosteuropa entstandene 'Kerneuropa-Konzeption' führt zum Circulum vitiosum, denn sie fördert ihrerseits wiederum die nationalistischen Tendenzen in den postkommunistischen Ländern.

Hilfreich wäre also, endlich zur Kenntnis zu nehmen, was 'drüben' wirklich geschieht und die Wechselwirkungen aufzudecken. Dies könnte in einem 'Ost-West-Dialog' der kritischen Öffentlichkeit geschehen, der sich mit der kulturellen Dimension der europäischen Integration auseinandersetzt. Dieser Dialog müsste ein progressives Verständnis von Diversität haben, das nicht nur die Differenzen zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten oder Regionen, sondern sie auch innerhalb dieser berücksichtigt, also auch von der Denkweise in nationalstaatlichen Kategorien Abstand nimmt, die Auseinandersetzung mit politischen, sozialen und ökonomischen Entwicklungen wie Migration oder aktuellen Prozessen zunehmender Differenzierung und Individualisierung in der Gesellschaft einschließt und Sorgen, Ängste und Anomalien aufgreift. Denn: Eine auf Ängste und daraus folgend auf ein 'patriotisches' Kulturkonzept aufgebaute Kulturpolitik führt immer zu Ausgrenzung, mehr noch, sie bringt immer wieder aufs Neue Ausgrenzung hervor und automatisiert sie.

Die Autorin hat ihren Beitrag mit reichlich Quellen versehen, die hier nicht aufgeführt werden konnten. Vgl. auch www.antisemitismus.net/osteuropa/ungarn.htm.

hagalil.com 26-01-2006

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