Acht Kalaschnikows, elf Geiseln:
Was 1972 wirklich in München passierteAaron J.
Klein über den Anschlag auf Israels Olympiamannschaft
Von Igal Avidan
Am 5. September 1972 stand Shmuel Lalkin, der Leiter der israelischen
Olympia-Delegation, auf einem Balkon im Olympischen Dorf und musste mit
ansehen, wie palästinensische Terroristen die israelischen Geiseln aus dem
Gebäude stießen. Die Augen der Sportler waren verbunden, sie waren
aneinander gebunden, die Hände vor sich gefesselt. Ihre Hilflosigkeit weckte
böse Erinnerungen in Lalkin. „Sie waren wie Lämmer, die zur Schlachtbank
geführt wurden. Das war entsetzlich.“
Der Terrorismus wurde bereits vor den Münchner Spielen geboren. Im Februar
1970 verübten Palästinenser einen Anschlag auf israelische Flugpassagiere in
München, töteten einen und verletzten elf von ihnen. Im Mai 1972 ermordeten
japanische Terroristen auf dem Flughafen Lod bei Tel Aviv 25 Menschen.
Dennoch waren die Israelis und die Deutschen völlig unvorbereitet auf
Terroranschläge, schildert der ehemalige Geheimdienstler Aaron Klein. Als
Erstem gelang es ihm, den streng geheimen Untersuchungsbericht über die
Sicherheitsmängel in München zu veröffentlichen. Damit formuliert er eine
Anklageschrift sowohl gegen die Deutschen als auch gegen die Israelis. Die
Israelis verließen sich vollkommen auf die Deutschen, und diese wiederum
waren entschlossen, an das Gute im Menschen zu glauben.
Ein Zollbeamter am Flughafen Köln zum Beispiel forderte ein sehr auffällig
wirkendes arabisches Paar auf, eine seiner Taschen zu öffnen. Dann ließ er
die beiden unbehelligt über die Grenze. Hätte er auch die drei weiteren
Gepäckstücke überprüft, hätte er acht Kalaschnikows, Dutzende von Magazinen
mit Patronen und zehn Handgranaten entdeckt. Mit Hilfe dieser Waffen wurden
die elf Sportler als Geiseln genommen. Dass das israelische Team trotz aller
Warnungen im Erdgeschoss eines für jedermann zugänglichen Gebäudes
untergebracht wurde, erleichterte die Geiselnahme ebenso wie die
Entscheidung, keine Polizisten im Olympischen Dorf zuzulassen. Den
symbolisch wirkenden Zwei-Meter-Zaun konnten die Geiselnehmer der
Terrorgruppe Schwarzer September leicht überwinden.
Klein liefert eine Fülle peinlicher Details über die beiden gescheiterten
Rettungsversuche. Ein Beispiel: 15 Minuten vor dem Einsatz zur Befreiung der
Geiseln beschlossen die Polizeibeamten einstimmig, die Operation
einzustellen. Nach dem Feuergefecht weigerte sich die Feuerwehr eine Stunde
lang, sich dem brennenden Hubschrauber zu nähern. In dieser Zeit starb der
nur leicht verletzte David Berger an Rauchvergiftung.
München stellte eine Zäsur in der israelischen Geschichte dar. In dieser
Geburtsstunde des Terrorismus 27 Jahre nach dem Holocaust musste Israel
beweisen, dass der Staat seine Bürger überall auf der Welt schützen wird.
Diese fürchteten am meisten Terroranschläge gegen israelische Flugzeuge im
Ausland. Im Oktober 1972 beeilte sich Willy Brandts Regierung scheinbar
bereitwillig, die drei noch lebenden palästinensischen Terroristen der
Münchner Olympischen Spiele freizulassen. Andere europäische Staaten folgten
immer wieder. Ermutigt setzte der Schwarze September seine Offensive fort
und verschickte 65 Briefbomben an israelische Diplomaten, die einen Israeli
töteten. Auf sich allein gestellt, machte Israel Attentate zum Kampfmittel
gegen Terroristen.
An erster Stelle in der Terrorbekämpfung stand die Prävention, an zweiter
die Abschreckung. Die neue Strategie sollte die palästinensischen
Terroristen zwingen, einen Großteil ihrer Zeit und Energie auf den eigenen
Schutz zu verwenden. Premierministerin Golda Meir versprach: „Wo immer ein
Anschlag vorbereitet wird und Menschen die Ermordung von Juden und Israelis
planen – genau dort müssen wir zuschlagen.“ Klein beschreibt detailliert und
sachlich diese Jagd. Nicht der Mossad selbst, sondern ein Ministergremium
unter Führung des jeweiligen Regierungschefs erteilte die Genehmigung für
Tötungsmissionen und verlangte eindeutige Beweise. Nach dem Fiasko von
Lillehammer wurden Tötungsmissionen beinahe eingestellt. In der norwegischen
Kleinstadt tötete der Mossad 1973 einen unschuldigen Araber, und sechs
Agenten wurden zu Haftstrafen verurteilt.
Diesem vorsichtigen Vorgehen verdankte PLO-Chef Jassir Arafat sein Leben,
obwohl er den Münchner Anschlag gebilligt hatte und weitere Terroranschläge
organisierte. 1974 erfuhr der Geheimdienst, dass sich Arafat zu Besuch im
Hauptquartier der Fatah in Libanon aufhält. Binnen Minuten genehmigten Golda
Meir und Verteidigungsminister Moshe Dajan einen Tötungsplan unter einer
Bedingung. Es muss eindeutig nachgewiesen werden, dass der hohe Gast
tatsächlich Arafat war. Vier Jagdflugzeuge wurden mit Bomben bestückt, eine
Aufklärungsmaschine machte Luftaufnahmen. Minuten später meldete der
Luftaufklärer: dichte Wolken, Sichtweite null. Arafat verdankte den Wolken
sein Leben.
Manchmal strich der Mossad auch Namen wieder von seiner Todesliste. Abu
Daud, der das Münchner Attentat geplant und geleitet hatte, wurde bei einem
Anschlag einer rivalisierender Palästinensergruppe schwer verletzt. Er fand
Zuflucht in Ost-Berlin bei der Stasi. 1996 durfte er sogar israelisches
Gebiet betreten auf Befehl des damaligen Premierminister Schimon Peres.
Klein konnte das Vertrauen von 50 ehemaligen Offizieren des Mossad und des
militärischen Nachrichtendienstes aller Hierarchieebenen gewinnen. Ihre
Aussagen verifizierte er anhand von Dokumenten. Kein einziger seiner
Gesprächspartner hatte Ähnlichkeiten mit Avner, dem Mossad-Agenten in dem
Buch „Die Rache ist unser“ von George Jonas, auf das sich Spielbergs Film
„München“ stützt. „Keiner beim Mossad kannte Spielbergs Kronzeugen Juval
Aviv, und keiner verspürte Schuldgefühle oder Reue wie Avner“, so Klein.
Auch 30 Jahre danach seien sie immer noch stolz auf ihre Tätigkeit und sehen
sie als heilig an.
Im Epilog stellt Klein die Frage, ob die Liquidierungen als Mittel gegen den
Terror auch heutzutage etwas gegen Anführer von Terrorgruppen wie Hamas oder
Islamischer Dschihad bewirken. Sie funktionieren nur manchmal und nur für
kurze Zeit, stellt er fest. Für eine Lösung des israelisch-palästinensischen
Konfliktes reichen sie allerdings nicht aus.
Einen
Hoffnungsschimmer bietet immerhin die Geschichte einer berühmten
palästinensischen Familie. Ali Hassan Salameh war der Sohn von Hassan
Salameh, dem Anführer einer militanten arabischen Gruppe, der in den 30er
Jahren im damals britisch verwalteten Palästina fanatisch gegen die
Zionisten und die Briten kämpfte und fiel. Ali Hassan organisierte den
Anschlag auf die israelischen Sportler in München. Von Arafats Büro aus
plante er weitere Terrorangriffe in Israel, bis der Mossad ihn 1979 in
Beirut durch eine Autobombe tötete. Sein Sohn Hassan ließ sich als
Geschäftsmann in Ramallah nieder. „Ich habe eine andere Mentalität als die
Kämpfer der Vergangenheit“, sagte der 29-Jährige. „Ich habe den echten
Wunsch nach Frieden.“
– Aaron J. Klein:
Die Rächer. Wie der israelische Geheimdienst die Olympia-Mörder von München
jagte. DVA, München 2005. 288 Seiten, 17,40 Euro.
s.auch
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