Schuld sind nicht Antisemiten, Bürokraten oder Behörden:
Kauft nicht beim Juden!
Editorial von Yves Kugelmann, Tachles, 13. Jan 2006
Bravo! Was das antisemitisch motivierte Schächtverbot
von 1893, die Kriegsjahre 1939--45 oder etwa der radikale Tierschützer Erwin
Kessler nicht schafften, haben nun Rabbiner, Funktionäre, Unternehmer
vollbracht: dass Schweizer Jüdinnen und Juden zurzeit kein neues
Koscherfleisch erhalten.
Schuld sind nicht Antisemiten, Bürokraten oder Behörden, sondern Juden. Denn
wie tachles (die Schweizer
Zeitung) bereits letzte Woche in seiner Online-Ausgabe berichtete, ist das
für die Monate Januar bis März versteigerte Kontingent für den Import von
Koscherfleisch just von jenem Akteur erworben worden, der vor drei Jahren
mit einem Boykott von orthodoxen Rabbinern belegt worden ist. Anstatt
lösungsorientiert mit der neuen Situation umzugehen, liefern sich die
Verantwortlichen auf allen Seiten einen erbitterten und peinlichen Streit,
der wenig von staatsbürgerlichem Selbstverständnis und politischer
Sachlichkeit zeugt.
Denn allesamt nehmen sie einen unvergleichlichen politischen, juristischen
und moralischen Kollateralschaden in Kauf, dessen Konsequenzen und
Implikationen die meisten gar nicht erst abzuschätzen vermögen.
Absurd. Brisant ist, dass die orthodoxen Rabbiner nun gegen ein
Boykotts-Dekret verstossen, das sie im März 2003 selbst erlassen haben und
in dem sie ihr nicht nachvollziehbares Handeln wie folgt legitimierten: «Es
ist das Anliegen und die Aufgabe von Rabbonim, ihren Gemeindemitgliedern die
Versorgung mit Koscherfleisch zu garantieren und diese reibungslos zu
gestalten.» Doch auf einmal gilt nichts mehr davon.
Die orthodoxen Rabbiner Zürichs provozieren derzeit nicht nur den
sogenannten «Chilul haSchem», sondern verhindern stur die reibungslose
Versorgung mit Koscherfleisch aufgrund einer Situation, die sie selbst
geschaffen haben und die nun Israel Rosengarten schamlos ausnutzt.
Flankiert wird die Realsatire von Funktionären und Verwaltungsräten, die
sich nicht auf die Suche nach einer Lösung machen, sondern in Kauf nehmen,
dass ihre Unternehmen das Kerngeschäft Fleischverkauf vorsätzlich und
selbstverschuldet verlieren, wie tachles-Recherchen ergeben haben (vgl. S.
6). Eine mehrfache Dummheit: So droht den Metzgereien und ihren Abnehmern
gar der Verlust von Hunderttausenden von Franken; die Zürcher Metzgerei Kol
Tuv hat bereits im letzten Jahr Darlehen bei allen ihren Aktionären
aufgenommen.
Verantwortlichkeitsklagen gegen Geschäftsleitung und Verwaltungsräte und
Haftungsanträge wären in jedem «normalen» Betrieb wohl nur eine Frage der
Zeit.
Grounding. Zwar hat der Schweizerische Israelitische Gemeindebund
(SIG) mit Rolf Halonbrenner einen kompetenten, integren und bedachten
Verantwortlichen des Ressorts «Religiöse Angelegenheiten» in seinen Reihen,
der in diesen Tagen das Gespräch mit den verschiedenen Kontrahenten und den
Behörden sucht. Doch der Dachverband hat die Brisanz der Situation wieder
einmal völlig verschlafen. Anstatt kurz entschlossen zur Sicherung der
Koscherfleischversorgung das Import-Kontingent dem Besitzer von Trevors
abzukaufen, vielleicht sogar als Übergangslösung an der kommenden
Versteigerung das Kontingent für das zweite Quartal selbst zu ersteigern und
einen Krisenstab samt rundem Tisch zu bilden, tritt er einmal mehr nur mit
schlecht formulierten Communiqués in ganz anderer Sache auf und lässt es zu,
dass Betriebe, die den jüdischen Service public sichern sollten, Gefahr
laufen zu grounden und dass die Schweizer Juden sich mit einer unnötigen
Debatte vollends lächerlich machen. Ausgerechnet der SIG, der vor 102 Jahren
gegründet wurde, um die Koscherfleischversorgung der Schweizer Juden zu
garantieren, riecht sozusagen den Braten nicht.
Chelmwyla. Was früher Antisemiten erledigten, tun Schweizer Juden
indessen schon lieber selbst. Innerjüdischer Rassismus, Ausgrenzung und
Diskriminierung in und zwischen Gemeinden, oftmals noch geschürt durch
rabbinische Entscheide, wie etwa das unglaubliche Machtkartell der
orthodoxen Rabbiner Zürichs zeigt, während die Israelitische Cultusgemeinde
Zürich sich um die Sicherstellung der Koscherfleischversorgung keinen Deut
kümmert. Die aktuelle Kontroverse allerdings ist nur ein Symptom für eine
zutiefst gespaltene jüdische Gemeinschaft der Schweiz, da die Diskrepanz
zwischen jüdischer Basis und dilettantischen Funktionären, der Bruch
zwischen jenen mit einem emanzipiertem jüdischen Selbstverständnis und
jenen, die stets gegen aussen für Juden einfordern, was sie gegen innen
nicht einhalten, immer evidenter wird und so Judentum nur noch ein
Trittbrett für Selbstsucht wird. Wie sagte doch einer so treffend: «Das
Fleisch ist willig, doch der Geist ist schwach.»
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