Österreich:
Verzögern hilft sparen
Österreich war jahrelang darauf bedacht,
Reparationszahlungen zu umgehen. Nun wird mit den ersten Vorauszahlungen aus
dem Entschädigungsfonds für NS-Opfer begonnen.
Von Jutta Sommerbauer, Wien
Jungle World 2 v.
11.01.2006
Drei Tage vor Weihnachten war er plötzlich in der Post.
Dagmar Ostermann holt den Brief aus einer Lade, zieht das Schreiben aus dem
Kuvert. "Sehr geehrte Frau Dagmar Ostermann", steht da geschrieben, "wir
freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass die Vorauszahlung aus dem
Allgemeinen Entschädigungsfonds nun erfolgen kann." Eine
Weihnachtsüberraschung sei das gewesen, erzählt die weißhaarige alte Dame,
als sie sich wieder auf die Couch in ihrer Wiener Wohnung setzt. "Ich habe
damit gerechnet, dass man einmal etwas bekommen wird. Aber wann das sein
würde, wusste man nicht. Denn es hat sich immer wieder verzögert."
Dagmar Ostermann ist eine der ersten, die eine Vorauszahlung aus den Mitteln
des von der Republik Österreich und österreichischen Unternehmen mit 210
Millionen Dollar ausgestatteten Entschädigungsfonds für die Opfer des
Nationalsozialismus erhalten werden. Voraussetzung dafür war, dass sie eine
Verzichtserklärung auf alle weiteren Ansprüche abgab und sich damit
einverstanden erklärte, einer Zahlung zuzustimmen, über deren Summe noch
Unklarheit besteht. Denn erst wenn alle 19 300 Anträge abgearbeitet sind,
werden die individuellen Beträge nach einem Verteilungsschlüssel berechnet.
Wann der Rest kommt und wie viel das sein wird, steht noch nicht fest.
"Sie haben nun die Menschen vorgezogen, die so lange gewartet haben und alt
sind und es doch noch erlebt haben", sagt Ostermann. "Es" ist mehr als 60
Jahre her. Vor einem Monat ist Frau Ostermann 85 Jahre alt geworden.
Als die Nationalsozialisten in Wien einmarschieren, ist sie 17 Jahre alt.
Ihre Mutter war Christin, ihr Vater Jude. Sie gilt nach den Nürnberger
Rassegesetzen als "Mischling ersten Grades". Den Besuch einer Wiener
Handelsschule kann Ostermann nach dem so genannten Anschluss Österreichs im
März 1938 nicht mehr fortsetzen. Im Jahr 1941 wird sie verhaftet, zuerst
nach Ravensbrück, dann nach Auschwitz deportiert. Durch Zufall bekommt sie
eine Tätigkeit als Schreiberin. Als sie am 2. Mai 1945 von amerikanischen
Truppen befreit wird, macht sie sich nach Wien auf. Mit ihrem Ehemann muss
sie ganz von vorne beginnen. Zunächst arbeitet sie in einem
Bekleidungsgeschäft, in den sechziger Jahren wird sie Kioskbesitzerin.
Die Vorauszahlungen an die NS-Opfer werden die ersten Leistungen aus dem im
Jahr 2001 eingerichteten österreichischen Entschädigungsfonds sein. Damit
sollen die Bereiche abgedeckt werden, die in der bisherigen Gesetzgebung nur
unzureichend berücksichtigt wurden, dazu gehört etwa die Entschädigung von
arisierten Konten, Versicherungspolicen, Immobilien und Mietwohnungen,
liquidierten Betrieben, aber auch der Ausgleich von Verlusten, die sich aus
dem erzwungenen Ausscheiden aus Beruf und Ausbildung ergaben.
Zur Bedingung für Auszahlungen hatte die österreichischen Bundesregierung,
ganz nach dem Vorbild Deutschlands, immer die Herstellung des so genannten
Rechtsfriedens gemacht. Diese Bedingung war erst Mitte Dezember vergangenen
Jahres erfüllt, als ein Berufungsgericht in den USA die letzte Sammelklage
von NS-Geschädigten gegen österreichische Firmen mit dem Hinweis auf die
außenpolitischen Interessen der USA abwies.
Stuart Eizenstat, der ehemalige Vertreter der USA in den Verhandlungen,
bescheinigt Österreich mittlerweile in der Internet-Ausgabe des Forward die
historische Läuterung. Österreich sei eine "Nation, die sich aus dem
Schatten der lange abgestrittenen Nazi-Mitschuld im Zweiten Weltkrieg ins
Licht der Akzeptanz der historischen Verantwortung" bewege. Kanzler Wolfgang
Schüssel sei ein Politiker, der "seine Kritiker Lügen straft, eine
historische Rolle für sein Volk einnimmt und dem ein Schlag im Kampf gegen
den Antisemitismus gelingt".
Auch in Österreich ist man in Feierlaune. Im Jubiläumsjahr 2005 (Jungle
World 11/05) hat man es doch noch geschafft, als rechts-konservative
Regierung ein Entschädigungspaket durchzusetzen. Als "krönenden Abschluss
des Gedankenjahres" bezeichnete Andreas Khol (ÖVP), Präsident des
Nationalrats und Vorsitzender des Fonds, die Auszahlungen.
Dem offiziellen Österreich kommt der Ausgang des Rechtsstreits mehr als
gelegen. Die Republik hat nun endlich die Konstruktion, die sie immer
wollte: Die störenden Klagen sind abgewiesen, und Österreich zahlt
"freiwillig" Entschädigungsleistungen an die NS-Opfer. Der Regierung
Schüssel kann nun eigentlich nichts Besseres passieren als der derzeitige
EU-Vorsitz, bei dem sie sich international profilieren kann. Schließlich
war es die misstrauische EU, die im Jahr 2000 beim Antritt der
schwarz-blauen Koalition den "Rat der drei Weisen" zur halbherzigen
Demokratie-Kontrolle nach Österreich schickte.
War man jahrzehntelang peinlich darauf bedacht, den eigenen Opferstatus zu
wahren, um Reparationszahlungen entgehen zu können, so wurden die
Entschädigungsgesetze in der Vergangenheit stets von außen angestoßen. Die
Politologin Brigitte Bailer-Galanda konstatiert, dass die Maßnahmen stets
"zögernd" unternommen wurden und von "kleinlichen und teilweise gegen die
Opfer gerichteten Argumentationsweisen" begleitet waren.
Auch diese letzte entschädigungspolitische Maßnahme wurde "von außen"
angestoßen. Erst im Jahr 1995 wurde der "Nationalfonds der Republik
Österreich für Opfer des Nationalsozialismus" eingerichtet. Ursprünglich
wollte man es bei einer einmaligen Pauschalauszahlung bewenden lassen. Im
Januar 2001 wurde im "Washingtoner Abkommen" zwischen Österreich, den USA
und jüdischen Opfervertretungen die Einrichtung eines Allgemeinen
Entschädigungsfonds für Sachwerte beschlossen, die durch die
Entschädigungsgesetze bislang nicht abgedeckt wurden. Ohne den Druck der USA
und die anhängigen Sammelklagen wäre es wohl nie so weit gekommen.
Als es vor ein paar Jahren die Möglichkeit gab, einen Antrag auf finanzielle
Entschädigung zu stellen, zögerte Dagmar Ostermann nicht. "Dafür, dass man
eben doch Verschiedenes mitgemacht hat, habe ich das als richtig empfunden",
erklärt sie. Allerdings habe sie das Wort "Wiedergutmachung" schon immer
gestört. "Man kann nichts wieder gut machen, eventuell kann man jemanden
entschädigen. Das kann man mit verlorenem Geld oder mit Sachwerten machen."
Sie selbst hat in ihrem Antrag den abgebrochenen Schulbesuch und die
fehlenden Alimente, die ihr Vater an seine geschiedene Frau hätte zahlen
müssen, als Ansprüche angemeldet.
Dass man sich in Österreich über das Ausmaß der Schädigungen anscheinend
keine Gedanken gemacht hat, zeigt ein Blick auf die Personalpolitik des
Fonds. Die Institution nahm 2001 mit 15 Mitarbeitern ihre Tätigkeit auf –
erst in den letzten eineinhalb Jahren hat man großzügig aufgestockt, sodass
der Personalstand mittlerweile bei 150 Personen liegt. Trotz dieser
Aufstockung ist noch immer unklar, ob bis Ende 2006 der ausstehende
Aktenberg abgearbeitet werden kann. Von 19 300 Anträgen sind derzeit erst 2
700 bearbeitet worden.
Wie viele der österreichischen NS-Opfer den Tag noch erleben werden, an dem
auch ihnen ein Brief ins Haus flattert, steht also in den Sternen.
hagalil.com
12-01-2006 |