Zurück ins Lot:
Ariel Sharon, Demokratie und Rechtsstaat
Von Reiner Bernstein
Seitdem klar ist, dass Ariel Sharon seine Amtsgeschäfte
nicht wieder aufnehmen kann, scheint er bei israelischen und internationalen
Kommentatoren zum Friedensfürsten aufgestiegen zu sein. Fast kein Beitrag
hat es versäumt, seinen politischen Mut beim Rückzug aus dem Gazastreifen zu
rühmen und daran große Hoffnungen auf weitere Verzichtsleistungen in der
Westbank zu knüpfen, die den Palästinensern endlich einen souveränen und
lebensfähigen Staat bescheren würden. Die Überwindung des Jahrzehnte alten
Nahostkonflikts komme damit in Reichweite.
Der plötzliche Optimismus nach der Epoche der Beschimpfungen,
die Sharon über sich ergehen lassen musste, wird von hochkomplexen
Spekulationen über die Metamorphose begleitet, die Sharon zugeschrieben
wird. Die Abkehr von der Gewalt gibt Amos Oz mysteriöse Rätsel auf, und der
politisch integre David Grossman macht auf die Verdienste der "Genfer
Initiative" aufmerksam, um im selben Atemzug zu bedauern, dass Sharon wie
früher Ben-Gurion erst im achten Lebensjahrzehnt den Weg zum Frieden als
schmerzhaft, aber unvermeidlich entdeckt habe – eine "erstaunliche
politische Kehrtwende", wenn auch "unter Außerachtlassung des
palästinensischen Partners".
Sharons Handlungsmaximen sind mit pauschalen Hinweisen auf
das abgrundtiefe Misstrauen der Mutter gegen "die" Araber und auf das
innerpalästinensische Chaos als Vermächtnis Arafats nur unzureichend
erklärt. Näher kommt man der Antwort, wer seine Gesamtpersönlichkeit und
sein Verhältnis zu den Prinzipien der Demokratie und des Rechtsstaates in
Augenschein nimmt, um daraus Annäherungen an sein Politikverständnis zu
finden. Die Erfahrungen zeigen, dass für Sharon Israels bilaterale und
internationale Vereinbarungen zur Bedeutungslosigkeit mutierten, soweit sie
die Beziehungen zu den Palästinensern verbessern sollten, wenn sie seinen
Vorstellungen von der strategischen Überlegenheit Israels widersprachen. Die
"Road Map" des Quartetts hat er durch zahlreiche Auflagen so verwässert,
dass sich in aller Welt die Auffassung verfestigt hat – gestärkt durch
palästinensische Extremisten –, dass erst die palästinensische Gewalt ein
Ende finden müsse, bevor Israel überhaupt zu Konzessionen bereit sei.
Dem Ministerpräsidenten ist zwar nach der Libanon-Invasion
laut dem Votum der damaligen Untersuchungskommission das Amt des
Verteidigungsministers versagt, aber den Aufstieg ins Spitzenamt hat es
nicht verhindert. Nachdem schon in den fünfziger Jahren vor seiner
Unberechenbarkeit gewarnt worden war, die auch Menschenleben nicht schonte,
hat Sharon die politische Kultur seines Landes in einem Maße verändert, die
über die Zeit seines öffentlichen Wirkens weit hinausreichen wird und
bedenkliche Konsequenzen signalisiert. Meinungsumfragen warnen seit langem
vor großen Sympathien für einen "starken Mann", die auf die Militarisierung
aller Bereiche des öffentlichen Lebens einschließlich des fast nahtlosen
Übergangs von Generälen in politische Spitzenämter zurückführen. Doch erst
die aktuellen Klagen über ein drohendes Führungs- und Machtvakuum nach
Sharons Abgang unterstreichen die ganze Dimension einer Misere, die er wie
kein anderer Politiker seines Landes typologisch repräsentiert: Sein
politischer Stil drückt einmal mehr die systemische Schwäche der als
einzigartig gerühmten Demokratie im Nahen Osten aus. Richtig ist zwar die
Gefahr vor einer zu starken Reduktion des Konflikts auf einen Verursacher,
aber Sharon schaffte es, große Teile der Öffentlichkeit seinen Kategorien
der Alleinherrschaft zu unterwerfen, so dass die Prophezeiung, mit dem
physischen Ausscheiden seien die Tage seiner politischen Philosophie
gezählt, viel zu kurz greift.
Der lange Schatten Sharons wird die Politik Israels noch
lange verfolgen, auch seiner "Kadima" dürften unter Ehud Olmerts Führung
noch schwere Zeiten bevorstehen. Der Jerusalemer Politologe Ehud Sprinzak
hat schon vor anderthalb Jahrzehnten einen "Eliten-Illegalismus" beklagt,
der sich politisch in einer augenfälligen Distanz zur Demokratie
niederschlägt. Die Empfehlung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag
zum Verlauf der "Trennungsmauern" vom Februar 2004 war Sharon kaum mehr als
eine unwirsche Anmerkung wert. Gegenüber dem Terror von Siedlern tritt die
Staatsmacht nur zögerlich auf. Rufe nach einer gründlichen Reform der
Beziehungen zum arabischen Bevölkerungsteil wie denen der Kommissionen unter
dem Vorsitz von Theodor Orr nach dem Tod von zwölf Arabern israelischer
Staatsangehörigkeit im Oktober 2000 landeten in den Schubläden der
Ministerien. Benjamin Netanyahu hatte die Phantasie von einem
ethnisch-homogenen Staat in seinem Buch "A Place Among the Nations" Anfang
der neunziger Jahre auf die Formel gebracht, dass die arabische Bevölkerung
im eigenen Land für die Zukunft Israels bedrohlicher sei als die
Palästinenser in den besetzten Gebieten, weil ihnen Rechte zustehen, die man
den Menschen in der Westbank und im Gazastreifen vorenthalten kann. Das
Szenario hat in der Konfiguration vom "demographischen Faktor" in den
öffentlichen Diskurs Eingang gefunden und bestimmt theoretisch die
Entscheidungen über den Verlauf der "Trennungsmauern" weit jenseits der
"Grünen Linie" von 1967 in der Westbank, obwohl er praktisch ein Potential
von vielen zehntausend Palästinensern ohne israelische Staatsbürgerschaft in
Israel generiert. Kompromissbereitschaft in Jerusalem lag Sharon fern.
Die Missachtung demokratischer Spielregeln hat auch die
Innenpolitik nicht verschont. So blieb es dem gegenwärtigen Präsidenten der
Knesset vorbehalten, die Kontrolle des Parlaments durch das Oberste Gericht
als "Staatsstreich" abzuqualifizieren, wenngleich es sich in vielen Fällen
nur bedingt Respekt verschaffen kann und in "Sicherheitsangelegenheiten"
machtlos ist, obwohl diese längst eine mythische Gestalt angenommen haben.
Unteren Ebenen der Judikative wird politische Befangenheit vorgeworfen, die
nicht aus der Luft gegriffen ist. Dass die israelischen Medien am Tage der
Einlieferung Sharons ins Krankenhaus meldeten, er und seine Familie hätten
nach Angaben der Polizei widerrechtlich drei Millionen Dollar von einem
australischen Magnaten für die politische Arbeit erhalten, schadete seiner
politischen Reputation ebenso wenig wie die Meldung, dass sich das
israelische Militär von der politischen Führung emanzipiert, indem es jüngst
die Westbank faktisch durch Abriegelungen und "fliegende Kontrollstellen" in
zwei Teile zerschnitten hat, wodurch die Bewegungsfreiheit von 800.000
Palästinensern weiter eingeschränkt worden ist.
Wie kein anderer Premier vor ihm handelte Sharlon nach der
Maxime "Der Staat bin ich". Schwere Vorgänge, von denen etwa Ben-Gurion in
der Lavon-Affäre heimgesucht wurde, hat er gegenüber den Siedlern im
Gazastreifen exzellent bestanden. Mit George W. Bush verband ihn die
Missachtung des internationalen Rechts, aber anders als der US-amerikanische
Präsident, der die "checks and balances" im demokratischen System nicht ganz
aus den Augen verlieren darf, ist es Sharon gelungen, nahezu alle
Hindernisse gegen seine Autokratie beiseite zu schieben. Die
Parteienlandschaft steht vor einer Neuordnung. Sein Geschöpf aus den
siebziger Jahren, der "Likud", taumelt von einer Personalkrise zur nächsten.
Der Anspruch der Arbeitspartei als gestaltende Kraft in der israelischen
Politik unter ihrem neuen Vorsitzenden Amir Peretz bleibt ungewiss. Tommy
Lapids "Shinui" hat sich gespalten, während Yossi Beilin – welch Ironie,
oder sollte man sich mit der Interpretation eines taktischen Spagats
begnügen? – gewillt zu sein scheint, sein "Yachad/Meretz"-Bündnis in die
künftige Koalition einzubringen. Die nächste Knesset, so Beilins Begründung,
verspreche unter Führung von "Kadima" die erste parlamentarische Versammlung
in der Historie des Staates mit einer Mehrheit für die Zweistaatenlösung zu
werden. Wie lange ist es her, dass Sharon und seine Hilfstruppen die "Genfer
Initiative" in Grund und Boden verdammt haben?
Nur die religiösen Parteien scheinen ihr Gewicht zu behalten
und blicken gelassen in die Zukunft. Bezeichnenderweise sei Sharon selten
ohne eine Karte unter dem Arm fotografiert worden, schrieb der israelische
Architekt Eyal Weizman, der vor einigen Jahren für die ausgezeichnete
internationale Ausstellung "Territories" verantwortlich zeichnete, ohne sich
die Prognose ersparen zu wollen, dass Sharon nach dem Verzicht auf Gaza als
Architekt von Ruinen in die Geschichte Israels eingehen werde. Der Publizist
Tom Segev gab sich indessen keinen Illusionen hin, als er die historische
Tradition "Möglichst viel Territorium, möglichst wenige Araber" schon in der
Frühzeit des politischen Zionismus im Lande entdeckte.
Der in München lebende Autor verantwortet die deutsche
Homepage der israelisch-palästinensischen "Genfer Initiative" -
www.genfer-initiative.de. |