Scharon:
Ein großer General und ein loyaler Freund
Prominente Israelis trauern bereits um den todkranken Ministerpräsidenten
Scharon. Schriftsteller Kaniuk glaubt nicht mehr an ein Wunder und schaut,
wie andere Kommentatoren auch, ratlos in die Zukunft. Deutlich wird der
große Respekt, den Scharon auch bei seinen Gegnern genießt.
Von Igal Avidan, Israel
«Etwas Schreckliches ist heute geschehen,» klagt der
renommierte israelische Schriftsteller Yoram Kaniuk. «Es ist eine
Katastrophe! Wohin gehen wir jetzt? Ariel Scharon hat einen Plan zur Räumung
vieler Siedlungen eingeleitet und war die einzige Person, die das auch
realisieren konnte. Was wird jetzt werden? Wer kann ihn ersetzen? Ich selbst
habe mit dem Tod gerungen. Vielleicht erlebt auch Scharon ein Wunder, aber
ich glaube kaum daran.»
Kaniuk teilte Scharons politische Absichten in den letzten Jahren oft nicht,
zählt sich aber zu Scharons Bekannten. «Vor zwei Wochen rief er mich an, um
sich für einen Kommentar zu bedanken. Ich hatte darin erklärt, warum ich
Scharon wählen würde.» Für Kaniuk war Scharon «ein sehr angenehmer Mensch,
lustig, aber eher einsam. Seine fantastische Frau Lili hat ihm geholfen,
glücklich zu leben. Er war sehr sinnlich und sehr aktiv.»
Der Schmerz von 1967
Scharons ursprüngliche Vision war laut Kaniuk, dass die Palästinenser einen
Staat in Jordanien gründen sollten. «Mit Hilfe der libanesischen Christen
wollte er die Palästinenser nach Jordanien vertreiben. Daran aber war der
brutale General kläglich gescheitert.
Yoram
Kaniuk, Foto: privat
Vor zwei Jahren jedoch wurde er ein anderer Mensch. Er
wollte als derjenige in die Geschichte eingehen, der Israels östliche Grenze
bestimmt. Die Grüne Linie war schließlich nur eine Waffenstillstandslinie
und keine internationale Grenze. Scharon glaubte nicht an einen Frieden mit
den Palästinensern.»
Als Scharons Sohn Gur mit zehn Jahren 1967 starb (ein Nachbarskind erschoss
ihn beim Spielen), tröstete ihn Kaniuk und erlebte dabei, wie schrecklich
Scharon litt: «Scharon war sehr loyal gegenüber seiner Familie und seinen
Freunden,» sagt Kaniuk. Scharons Vaterfigur sei Ben Gurion gewesen. Dieser
«hatte vier Ziehsöhne: Mosche Dayan, Igal Alon, Itzhak Rabin und Ariel
Scharon.»
Freundschaft über politische Grenzen hinaus
Die renommierte Schauspielerin Gila Almagor, die Grande Dame der
israelischen Bühne, erlebte Scharon wie «einen Helden der griechischen
Tragödie. Aus meinem ganzen Herzen bete ich darum, dass er den Kampf um sein
Leben gewinnt.»
Almagor kennt Scharon seit Ende der sechziger Jahre. «Damals spielte ich in
einem Theater in Tel Aviv, das Scharon und seine Frau Lili oft besuchten,»
sagt Almagor. Im Laufe der Zeit wurde aus dieser Bekanntschaft eine enge
Freundschaft, die wegen des Libanon-Krieges aber für Jahre unterbrochen
wurde.
«Ich moderierte die Demonstration der 400.000 Israelis im Jahr 1983 (nach
dem Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila).
Am nächsten Tag habe ich Scharon geschrieben, dass für mich eine
Freundschaft über allem steht, aber nicht über dem Tod vieler Menschen in
diesem verfluchten Krieg, den er zu verantworten hatte. Trotz des
politischen Risses waren Arik und Lili die ersten, die mich nach dem Tod
meiner Mutter besuchten.
Er war ein Freund, wie es nur wenige Menschen sein können. Als Lili 1999
erkrankte, wurden wir wieder Freunde. Gerade vor einer Stunde erhielt ich
einen Brief, von ihm eigenhändig geschrieben, in dem er mir für das
Interesse an seiner Gesundheit nach dem ersten Herzinfarkt dankt. Vor zwei
Tagen haben wir telefoniert. Er war in guter Laune, voller Humor und Wärme
sprach er während einer Autofahrt. Wegen der enormen Sicherheitsvorkehrungen
konnte er als Premier nicht mehr ins Theater kommen.»
Oft war Almagor in Scharons Farmhaus zu Gast, «das wie in einem Western
wirkte, von Lili schön geschmückt. Er war ein großer, komplizierter General,
der emotional zum Kind wurde, sobald er die Erde oder eine Blume berührte.»
Freund und Feind
Ein tragischer Held sei Scharon, so Almagor, weil der siegreiche General des
Sechs-Tage-Krieges im Oktober 1967 seinen Sohn begraben musste. «Gur starb
in seinen Händen, erschossen in einem tragischen Unfall durch den
Nachbarssohn. Und jetzt passiert ihm so etwas wieder gerade in dem Moment,
in dem er an der Spitze seiner Popularität steht und so viele Israelis an
ihn glauben und ihm folgen.» Scharon bleibt für sie «ein großer,
empfindlicher, warmer, lustiger Mensch, der zuhören und Aufmerksamkeit
schenken kann, eine Führungsperson, ein Mensch, ein echter Israeli.»
Uri
Milstein, Foto: privat
Der Militärhistoriker Uri Milstein kennt Scharon seit
1960. «Damals schrieb ich die Geschichte der Armee und interviewte auch
Scharon. Ich war 20 und er mit 32 bereits ein charismatischer Mensch, der
mit jedem sprechen konnte, als wäre er sein bester Freund. Zugleich machte
er aber immer klar, wer oben und wer unten ist.»
Nach dem Massaker in Beirut verklagte Scharon das Time-Magazin, das ihn
beschuldigt hatte, das Massaker der Palästinenser initiiert zu haben.
Scharon bat Milstein, als Experte aufzutreten, und dieser sagte unter der
Bedingung zu, dass er kein Honorar erhalte.
«Bei einem Treffen damals machte Scharon einen Witz über mich und bat mich
sofort um Verzeihung, falls er mich beleidigt haben sollte. Er brauchte mich
schließlich. 'Ich bin zwar sensibel, aber werde nicht leicht von Gefühlen
überwältigt,' sagte ich ihm. Da hellten sich seine Augen auf und er
antwortete: 'Uri, jetzt verstehe ich mich selbst, denn auch ich bin so
einer.'»
Ein General wie Patton
Scharons Tugenden waren laut Milstein: Er konnte führen und war ein
Bulldozer, der Tatsachen schaffte. Seine Nachteile: Er war kein
Intellektueller oder Stratege und verstand nur das Jetzt und Hier. «David
Ben Gurion sagte mir einmal, dass Scharon der beste Feldkommandant Israels
gewesen ist, was er in den zwei Kriegen von 1967 und 1973 auch beweisen
konnte. Er ähnelte Generälen wie Patton oder Napoleon.
Aber als Stratege scheiterte Scharon kläglich, sowohl im Libanon als auch
mit der zweiten Intifada und mit der Errichtung des Trennungszauns. Er
beschloss, Siedlungen zu räumen und den Zaun zu errichten, weil er begriffen
zu haben glaubte, dass Israel die Kassam-Raketen der Palästinenser nicht
verhindern konnte.»
Israeli Caesar
«Haaretz»-Redakteur Uzi Ben-Ziman schrieb 1985 eine Scharon-Biographie mit
dem Titel «Hält nicht bei rot» (Auf Englisch hieß es «Israeli Caesar»).
Darin beschreibt er Scharon als einen hemmungslosen Menschen, einen
Opportunisten, der nur an die Macht glaubt. Dazu steht der Autor auch heute
noch.
«Aber nur so einer konnte Gaza räumen und sein eigenes Lebenswerk begraben»,
meint Ben-Ziman heute. Und er hat auch Positives über Scharon zu sagen: «Er
ist sehr begabt und ambitioniert, ein ausgezeichneter Politiker, ein
charismatischer Führer. Wegen der Gaza-Räumung verzeihe ich ihm alles, denn
er hat die Trennung Israels von den besetzten Gebieten eingeleitet.»
Wer kann nun regieren?
Scharon verklagte Ben-Ziman 1992, weil er behauptet hatte, Scharon hätte im
Libanon-Krieg den damaligen Premier Menachem Begin betrogen. Scharon verlor
in zwei Instanzen und hat Ben-Ziman niemals verziehen. Der Journalist
unterstützte dennoch Scharons Gaza-Plan und blickt ebenfalls etwas ratlos in
die Zukunft.
Wer wird Israel nun regieren? «Das Problem ist, dass wir eine virtuelle
Führungspartei haben,» sagt Ben-Ziman. «Ehud Olmert könnte sie zwar führen,
aber er wird sicherlich keine 40 Mandate zusammenbringen können (von
insgesamt 120). Persönlich wünsche ich Scharon gute Besserung. Es tut mir
Leid für seine beiden Söhne Omri und Gilad, die ihn so sehr lieben.»
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