Manès Sperber:
Der Philosoph des Irrtums
Zum 100. Geburtstag des Individualpsychologen und Schriftstellers Manès
Sperber.
Von Birgit Schmidt,
Jungle World
Während Sigmund Freud zumindest dem Namen nach bekannt
ist, tut sich die große Mehrheit heute schwer mit seinem großen Konkurrenten
Alfred Adler. Adler, der ursprünglich praktischer Arzt war, veröffentlichte
1907 seine Studie über die Minderwertigkeit von Organen und deren Reaktion
auf die Minderwertigkeit, in der er seine Theorie von der Organsprache
aufbaute. Er entwickelte eine Neurosenlehre und gilt als Entdecker des
Minderwertigkeitskomplexes bzw. der Minderwertigkeitsgefühle, die in seiner
Theorie eine zentrale Stellung einnehmen.
Nach seinem Tod im Jahr 1937 blieb Adler allein für psychoanalytische Kreise
von Bedeutung. In den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts jedoch
hatten seine Arbeiten zahlreiche junge Menschen zu dem Versuch inspiriert,
Marxismus und Psychoanalyse miteinander zu verbinden: den Anarchisten Henry
Jacoby beispielsweise, Verfasser der Autobiografie »Von des Kaisers Schule
zu Hitlers Zuchthaus«, oder Alice Rühle Gerstel, die 1927 das Grundlagenwerk
der marxistischen Individualpsychologie »Der Weg zum Wir. Versuch einer
Verbindung von Marxismus und Individualpsychologie« vorlegte, das heute nur
noch antiquarisch zu erwerben ist, und in dem sie schreibt: »Angst ist
Ausdruck der negativen Selbsteinschätzung. Diese Selbsteinschätzung sagt:
Ich bin minderwertig, darum muss ich mich schützen und wehren. Gut,
entmutigter Mitmensch. Da eine andere Anschauungsform als die des Messens
dir heute nicht zur Verfügung steht, suche diese zum Heil zu verwenden.
Erkenne: Wir sind alle minderwertig. Nicht einer gemessen am andern. Sondern
alle gemessen an der Forderung des Lebens.«
Unter dieser Forderung des Lebens verstand man den Sozialismus, an dem Rühle
Gerstel bis ans Ende ihres Lebens ebenso festhielt wie an der
Individualpsychologie Adlers. Noch Ende der dreißiger Jahre notierte sie in
ihrem Tagebuch über einen Streit mit Leo Trotzki, dem sie im mexikanischen
Exil begegnet war: »Ich entwickle nun meinen Adlerischen Standpunkt, Trotzki
aber zeigt mehr Sympathie für Freud. Ich versuche darzustellen, dass Freud
zwar gescheiter, wissenschaftlicher, tiefer ist, Adler wohl flach und voller
Ungenauigkeit im Denken, aber der letztere doch eine sozialistische
Grundhaltung habe, während Freuds Einstellung im Vergleich dazu reaktionär
sei. Das will Trotzki gar nicht sehen: eine Wissenschaft kann doch keine
›Einstellung‹ haben!«
Nur kurze Zeit darauf war Trotzki tot, ermordet von einem Schergen Stalins,
der ihn im mexikanischen Coyacan aufgespürt und sein Vertrauen erworben
hatte. Und wiederum nur wenige Jahre später, nachdem sie den Tod ihres
Mannes Otto Rühle festgestellt hatte, öffnete Alice Rühle Gerstel ein
Fenster und sprang in den Tod – genauso wie sie es ihrem Freund, Genossen
und Mitstreiter in der Individualpsychologie, Manès Sperber, einst
angekündigt hatte.
Zablotow – Wien
Im Gegensatz zu ihr und zu so vielen anderen hat Manès Sperber immer Glück
gehabt, wenn Glück das reine physische Überleben meint, denn er starb erst
im Jahre 1984 in Paris eines natürlichen Todes. Mehr als einmal ist er davon
gekommen in seinem Leben. Immer knapp, was man von all denen nicht sagen
kann, die wie Sperber um die letzte Jahrhundertwende in einem galizischen
Schtetel – also als Juden – geboren worden waren. In Sperbers Fall war es
der 12. Dezember 1905. Wie ein anderer Überlebender, sein enger Freund, der
Schriftsteller Arthur Koestler, der am 5. September 1905 in Budapest zur
Welt kam, wäre auch Sperber in diesen Wochen hundert Jahre alt geworden.
Das galizische Städtchen, in dem Sperber geboren wurde, hieß Zablotow.
Armut, aber nicht Armseligkeit machte das Leben im Schtetl aus, sollte er
später schreiben, für ihn versinnbildlicht in denjenigen, die den etwas
wohlhabenderen Familien das Wasser heranschafften und dafür karg entlohnt
wurden, diese Entlohnung aber in religiöse Bildung investierten: »Die
Wasserträger Gottes« – so nannte er die Ärmsten der Armen, mit denen er sich
identifizierte, und so heißt auch der erste Band seiner dreiteiligen
Autobiografie »All das Vergangene«. Über Zablotow heißt es darin: »Die
dreitausend Einwohner waren zu neunzig Prozent Juden: Handwerker, viel mehr
als man je brauchen konnte, Händler mehr als Käufer – Händler ohne Kapital,
welche die Waren, die sie anboten, zumeist selbst noch nicht bezahlt hatten.
Sie wurden sie nicht los, weil die ruthenischen Bauern, die sich jeden
Dienstag zum Wochenmarkt einstellten, zu wenig zu verkaufen hatten und für
ihre Produkte schlechte Preise erzielten.«
In diese ökonomische Misere brach der Erste Weltkrieg. Die Front zwischen
Österreich und Russland verlief mehrere Male durch Zablotow, und aus diesem
Grund verschlug es die Familie Sperber 1916 nach Wien, wo Manès sich einer
jüdischen Gruppe innerhalb der erstarkenden Jugendbewegung anschloss.
Die deutsche und österreichische Jugendbewegung ist im Nachhinein stark
verklärt worden. Das hat sie nicht verdient, wenn sie seinerzeit auch alle
Jugendlichen mitgerissen hat, denen es um ein naturverbundenes und somit
gegen die Stadt, die Arbeits- und die Elternwelt gerichtetes Leben ging.
Fortschritt und Reaktion – beides war gleichermaßen angelegt in dieser
Jugendbewegung, aus der Rätekommunisten, Anarchisten, Kommunisten und
Reformpädagogen ebenso hervorgegangen sind wie Völkische und
Nationalsozialisten. Diese setzten sich durch – das hatte sich schon 1913
gezeigt, als die deutsche Jugendbewegung anlässlich des 100. Jahrestags der
so genannten Völkerschlacht von Leipzig zu einem sehr deutschnational
ausgerichteten Massentreffen auf dem Hohen Meißner getrommelt hatte.
1913 war auch das Jahr, in dem die österreichische Jugendbewegung auf die
deutsche einwirkte, dass sie einen so genannten Arierparagrafen einführte
und auch von den Deutschen forderte, »Juden, Slawen und Welsche« aus ihren
Reihen auszuschließen. Der Historiker Walter Laqueur berichtet in seiner
ausführlichen Studie der Jugendbewegung über einen Artikel der Wandervogel
Führerzeitung, dessen Tenor sich bald darauf durchsetzte: »Die Juden wurden
beschuldigt, das deutsche Volk auszubeuten, seine Kultur zu schänden,
deutsche Jungfrauen zu verführen und ein finsteres System des Mädchenhandels
zu organisieren. Der Jude sei hinterlistig, niemals harmlos, sein Mangel an
innerer Vornehmheit sei angeboren. Die Presse, die Sozialdemokratie, das
Theater, die großen Verlage, die Banken, der Handel – alles sei verjudet.«
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass jüdische und nicht jüdische
Jugendliche in den Folgejahren getrennt wanderten; auch Sperber marschierte
in einer jüdischen Jugendgruppe durch die Wälder um Wien, wandte sich aber
gleichzeitig dem zu, was die Stadt neben großer Armut und zahlreichen
sozialen Problemen an Positivem zu bieten hatte. Wien war nicht nur die
Stadt Sigmund Freuds, sondern auch seines ehemaligen Schülers Alfred Adler,
mit dessen Arbeit Sperber sich seit 1921 intensiv beschäftigte und mit
dessen Unterstützung er nach einer gewissen Zeit des theoretischen Lernens
auch therapeutische Arbeit an Schwerkranken leistete. Nicht immer im Sinne
des Patienten, denn der Therapeut selbst war zu diesem Zeitpunkt noch extrem
jung und verfügte über wenig Erfahrung. Das war ein Umstand, den Sperber
später erkannt und seinem ehemaligen Mentor auch vorgeworfen hat, doch
vorerst blieb er Adlerianer und entschloss sich 1927, nach Berlin zu gehen,
um dort psychoanalytisch und politisch zu arbeiten.
Wien – Berlin
Berlin, weil Berlin »in« war: in linken, in künstlerisch-experimentellen und
in psychoanalytischen Kreisen. Zugleich galt Berlin als Hauptstadt der
europäischen Arbeiterbewegung, als Hauptstadt des deutschen Proletariats,
auf das Lenin bis zu seinem Tod im Jahr 1924 all seine revolutionäre
Hoffnung gesetzt hatte. Sperber selbst geschahen zwei wichtige Dinge nach
seiner Ankunft: Er lernte Alice Rühle Gerstel kennen, die gerade »Der Weg
zum Wir« veröffentlicht hatte und in der Nähe von Dresden gemeinsam mit
ihrem Mann, dem Rätekommunisten Otto Rühle, den Verlag »Das andere Ufer«
leitete, und er begeisterte sich für den organisierten Kommunismus, für den
Bolschewismus, an dem er in den Folgejahren trotz besseren Wissens
festhalten sollte.
Er begeisterte sich, wurde und blieb KPD-Mitglied trotz besseren Wissens,
oder sagen wir: trotz besseren Ahnens, denn mehr als einmal wurde er gewarnt
in diesen Jahren. Man hatte ihm vom Vorgehen gegen die als Kulaken
bezeichneten Bauern in der Sowjetunion berichtet. Im Sommer 1931 war er
selbst in der Sowjetunion und hatte Ohren zu hören und Augen zu sehen, doch
der Psychologe wusste das Gesehene (noch) nicht zu deuten, weil es nicht in
seinem Sinne war: »Als ich etwa zwei Wochen später in einer belebten Straße
in Charkow einige gefesselte Männer mit blutig geschlagenen Gesichtern sah,
die von GPU-Leuten eskortiert wurden, auch da empfand ich jene seltsame
Herzschwäche, die eine plötzliche, besonders schwere und in ihren Folgen
bedrohliche Enttäuschung in uns hervorruft. Aber sie verschwand bald wieder
– ich sagte mir, dass es sich gewiss um gefährliche Verbrecher handeln
musste, um jene Saboteure, die die Ernte ganzer Kolchosen verbrannten, in
den Dörfern Traktoren vernichteten, somit wohl um eingeschmuggelte
Weißgardisten.«
Sperber verdrängte all die vergeblichen Warnungen und kehrte nach Berlin
zurück. Im Nachhinein wunderte er sich darüber, wann er in dieser Zeit wohl
schlief, denn dort hetzte er wieder zwischen psychoanalytischer Arbeit,
Vorträgen und der Parteiarbeit hin und her. Insbesondere das
Partei-Engagement stieß bei Adler selbst, der sein Lebenswerk weder
politisch noch religiös vereinnahmt sehen wollte, auf Ablehnung.
Deswegen kam es im Jahr 1932 zum endgültigen Bruch zwischen dem Lehrer und
dem Schüler, den Sperber nur schwer verschmerzte. Noch in seiner
Adler-Biografie aus dem Jahr 1970 sollte er mit dem Bruch hadern, aber
Angriffe in umgekehrter Richtung, also auf die Psychoanalyse, blieben auch
von kommunistischer Seite nicht aus. 1933 kulminierte die Abneigung der KPD
gegenüber jenen, die die Massenbasis der Nationalsozialisten zu erklären
versuchten – eine Massenbasis, die Komintern und KPD schlicht negierten – in
dem berühmten Streit um Wilhelm Reich. Der hatte im dänischen Exil »Die
Massenpsychologie des Faschismus« vorgelegt und wurde als »Pornograph«
kurzerhand aus der Partei ausgeschlossen und diffamiert.
All die vergeblichen Warnungen traten mit der Machtübernahme Hitlers im
Januar 1933 noch mehr in den Hintergrund. Die Kommunisten brauchten die
Hoffnung, dass es eine Kraft gab, die Hitler hinwegfegen und stattdessen die
langersehnte Diktatur der Proletariats errichten würde, nötiger als je
zuvor. Sie richteten sich auf eine Phase des Überwinterns und des illegalen
Kampfes ein.
Gut beraten mied Sperber seine eigene Wohnung und schlief des Nachts bei
verschiedenen Freunden und Freundinnen; einmal aber, nur einmal, kehrte er
in seine eigene Wohnung zurück. Ausgerechnet zum falschen Zeitpunkt, denn am
15. März 1933 führten als Polizisten getarnte SA-Truppen einen Angriff auf
die so genannte Künstlerkolonie am Laubenheimer Platz in Berlin-Wilmersdorf
durch. Hier hatten die Berufsgenossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger und
der Schutzverband deutscher Schriftsteller zwischen 1927 und 1929 Wohnblocks
mit preiswerten Wohneinheiten für ihre Mitglieder errichten lassen.
Wohnblocks, die im Nachhinein berühmt geworden sind, denn hier lebten
kommunistische und andere linke Künstler oder Schriftsteller wie Ernst
Busch, Erich Weinert, Ernst Bloch, Arthur Koestler, Walter Hasenclever,
Gustav Regler, Karl Otten und viele andere. Und eben auch Sperber, der wie
all die anderen, deren die SA an diesem Tag habhaft werden konnte, verhaftet
und verschleppt wurde.
Es gibt ein Foto, auf dem man fünf Männer mit erschrockenen Gesichtern auf
einem Wagen sitzen sieht, die gerade von der SA abtransportiert werden.
Felicitas Bothe-von Richthofen gibt in »Widerstand in Wilmersdorf« an, dass
es sich bei diesen fünf Männern um (den Journalisten) Walter Zadek, den
(jugoslawischen Arzt und Schriftsteller) Theo Balk, (den Schauspieler)
Günter Ruschin, (den Schauspieler) Curt Trepte und um einen unbekannten
Ausländer handele. Dieser ist Manès Sperber, der in der Mitte sitzt und nun
Bekanntschaft mit dem deutschen Volkszorn macht.
In seinen Erinnerungen heißt es: »An die 30 bis 40 Männer und Frauen
umstanden den Wagen in losen Gruppen, fast keine Kinder und nur wenige
Jugendliche. SA-Leute gingen von Gruppe zu Gruppe und klärten sie darüber
auf, dass wir da oben bolschewistische Verbrecher, Brandstifter, Verräter
wären, eine schändliche Brut, eine Pestbeule am deutschen Volkskörper, die
man endlich ausbrennen würde – aber gründlich. Das Pulver war zu gut für
uns, uns erwartete der Strick oder das Beil. Auch das wäre noch zu gut für
solche Halunken, warf eine ältere Frau ein, die noch vom Laufen atemlos war.
Sie stieß einen der Gefangenen in die Rippen, glitt dabei aus und schrie
auf. Danach stürzten sich zwei andere auf den Angegriffenen, schlugen ihm
auf den Rücken; ein Junge sprang auf und spuckte ihm ins Gesicht. Bald
nahmen alle Umstehenden an der Aktion teil, die die Nazipresse gewöhnlich
mit dem gerechten Volkszorn erklärte und als nachahmenswertes Beispiel
empfahl. Nun erst erreichte der Volkszorn seinen Höhepunkt. Wir fünf auf der
hintersten Bank waren ihm völlig ausgeliefert, denn wir bildeten eine allen
Seiten zugängliche Angriffsfront. Die Schläge, die von unten nach oben
geführt wurden, trafen nicht immer, sie taten zwar weh, aber waren
erträglich. Alle spuckten uns an, der Speichel traf nur selten das Gesicht,
öfter den Rock, die Hosen, die Hände.«
Dennoch hatte Sperber Glück, unerhörtes Glück: Wegen seiner österreichischen
Staatsangehörigkeit wurde er am 20. April 1933 wieder entlassen und konnte
Deutschland in Richtung Jugoslawien verlassen.
Berlin – Paris
Nach einer Auszeit in Jugoslawien, die ein Jahr dauerte und wo er auf
zahlreiche Menschen traf, die uns als Protagonisten in seinem Romanzyklus
»Wie eine Träne im Ozean« begegnen, ging Sperber nach Paris, wo er sich als
KPD-Mitglied an allen Aktivitäten der an Stalin orientierten Linken
beteiligte. Deren Anstrengungen, insbesondere kultureller Art, waren
zahlreich: Zu ihnen gehörte die Gründung einer »Deutschen
Freiheitsbibliothek« in Paris, die Herausgabe zahlreicher Zeitschriften und
zweier »Braunbücher«, von denen das erste eine aus der historischen Distanz
nur schwer nachvollziehbare Verleumdung des Reichstagsbrandstifters Marinus
van der Lubbe darstellt, sowie nach 1935 das gemeinsame propagandistische
Umschwenken von der Sozialfaschismusthese zur Volksfrontlinie, die nun mit
den Bekämpften von gestern das breite Bündnis suchte.
All diese propagandistischen Anstrengungen der deutschen Kommunisten in
Paris standen unter der Kontrolle von Willi Münzenberg, einem Vertrauensmann
der Komintern, der bereits während der Weimarer Republik die kommunistische
Presselandschaft in Deutschland in deren Sinne organisiert und gesteuert
hatte. »Münzenberg«, schreibt Hans Sahl in seinen Erinnerungen »Das Exil im
Exil«, »war berühmt geworden durch seine Taktik des trojanischen Pferdes,
d.h. er besetzte alle Schlüsselpositionen mit seinen Leuten, die dann die
Politik in seinem Sinne beeinflussten. So wurde auch der Schutzverband
Deutscher Schriftsteller im Exil, dessen Ehrenpräsident Thomas Mann war,
insgeheim von den Beschlüssen des Zentralkomitees geleitet. Zu den
Vorstandsmitgliedern gehörten damals unter anderen Anna Seghers, Alfred
Kantorowicz, Bodo Uhse, Manès Sperber, Hans Marchwitza, Rudolf Leonhard.«
Über Sahls eigenen Bruch mit der Kommunistischen Partei heißt es in »Das
Exil im Exil«: »Es fällt mir schwer, über die Vorgänge zu berichten, die zu
meiner Absage an die politische Emigration und zu meinem Austritt aus dem
SDS (Schutzverband Deutscher Schriftsteller) führten. Es war um die Zeit des
Hitler-Stalin-Paktes, als die Hakenkreuzfahnen auf dem Kreml wehten. Am
Abend ging ich ins Café de Flore, wo ich Egon Erwin Kisch traf. Ich war
aufgebracht, ich war empört. ›Beruhige dich‹, sagte Egon Erwin Kisch,
›Stalin denkt für uns.‹ Da wusste ich, dass die Zeit gekommen war, eine
Entscheidung zu treffen, die schon längst fällig gewesen war.«
Für Sahl war die Zeit endgültig gekommen, als der SDS ihn aufforderte, ein
Papier zu unterschrieben, in dem der nicht linke, aber zweifellos
demokratisch gesinnte Herausgeber einer bekannten Zeitschrift, Leopold
Schwarzschild, als Agent von Goebbels diffamiert wurde. Sahl warf Manès
Sperber vor, ihn zum Unterzeichnen dieser Denunziation gedrängt zu haben,
fügte seinen Vorwürfen aber hinzu: »Ich möchte hier sofort einfügen, dass
Manès Sperber einige Jahre später, wie man in seinen Memoiren nachlesen
kann, aus der Partei austrat. Die Szene, die ich hier beschrieben habe,
spielte sich kurze Zeit vorher ab und zeigte einen Manès Sperber, der sich
noch an die Weisungen der Partei hielt und nicht davor zurückschreckte,
Freunde, die sich unbequem erwiesen, politisch unschädlich zu machen.«
Sahl muss sich jedoch geirrt haben: Der sogenannte Hitler-Stalin-Pakt, von
dem er eingangs spricht, wurde erst im Spätsommer des Jahres 1939
geschlossen. Und Sperber hatte bereits im Oktober 1937 – vor dem Hintergrund
der ersten beiden großen Prozesse in Moskau und der Verfolgung der nicht
kommunistischen Linken in Spanien – mit der Partei gebrochen. Zuvor jedoch
war er, das ist richtig, offenbar begeisterter und treuer Parteigänger der
KPD und somit der KPdSU gewesen: Neben seiner Funktion im SDS und einer
zeitweiligen Tätigkeit für das Komintern-Büro »Institut pour l’étude du
fascisme« war er aber vor allem eines gewesen: Ein Mann Willi Münzenbergs.
Das konnte er bleiben, denn Münzenberg war seinerseits auf Distanz zur
Komintern gegangen: »Im Laufe des Jahres 1937 war es deutlich geworden, dass
Münzenberg sich von den Kommunisten getrennt hatte.« So beschrieb es seine
Lebensgefährtin Babette Gross in einer Biografie, die sie über ihn
verfasste. Sie wies aber auch darauf hin, dass Münzenberg (wie zahlreiche
andere so genannte Renegaten) noch lange davor zurückschreckte, die UdSSR
öffentlich zu kritisieren. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt aber griff er zur
Feder und bezichtigte Stalin öffentlich des Verrats: »Du hast Lenins alte
Kampfgenossen verleumdet, entehrt und ermordet: Kamenew, Sinowjew, Bucharin,
Rykow und andere, deren Unschuld dir wohl bewusst war ... Wo ist die alte
Garde? Sie lebt nicht mehr. Du hast sie erschossen, Stalin!«
Nur wenige Monate danach war Münzenberg tot. Er hatte sich gemeinsam mit
anderen aus einem der Lager entfernt, in denen Frankreich die vorgeblich
feindlichen Ausländer/innen interniert hatte, um sich gen Süden
durchzuschlagen. Dann hörte man nichts mehr von ihm; im November 1940 wurde
seine stark verweste Leiche in einem Waldstück geborgen. Einen Selbstmord
schloss Babette Gross kategorisch aus. Bis zu ihrem Tod glaubte sie an einen
Fememord von Stalinisten, schließlich hatte Münzenberg in den Jahren vor
seinem Tod resp. seiner Ermordung Die Zukunft herausgegeben, eine
Zeitschrift mit antifaschistischer, aber auch dezidiert antistalinistischer
Ausrichtung. Der erste Chefredakteur der Zukunft war Arthur Koestler, der
die KPD 1938 verlassen hatte; ein Mitarbeiter der ersten Stunde war Manès
Sperber.
Der deutsche Überfall auf Frankreich, die Internierung aller Deutschen, egal
wie antifaschistisch bzw. antinationalsozialistisch sie auch gesinnt waren,
ob Juden oder nicht, machte auch der Zukunft den Garaus. Wer konnte, floh
aus den Lagern und/oder schlug sich in den Süden durch, hoffte von dort aus
auf eine weitere Fluchtmöglichkeit über Lissabon nach Übersee oder wartete
in großer Angst, von den Deutschen verhaftet zu werden.
Flucht und Auflösung – das bedeutete auch, dass mit politischen Gegnern
abgerechnet werden konnte und abgerechnet wurde. Doch im Gegensatz zu seinem
ehemaligen Chef Willi Münzenberg und anderen Renegaten, also Kritikern von
Stalins Politik, gelang es Sperber noch einmal, nicht nur der Gestapo,
sondern auch seinen ehemaligen Genossen zu entkommen.
Paris – Schweiz – Paris
Das im Juni 1940 zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich abgeschlossene
Waffenstillstandsabkommen bedeutete: Frankreich lieferte die jüdischen und
politischen Flüchtlinge sowie die eigenen jüdischen Bürger und Bürgerinnen
an Deutschland aus. Ab März 1942 rollten die Deportationszüge gen Osten;
achtzigtausend französische und ausländische Jüdinnen und Juden wurden in
die Vernichtungslager im Osten verschleppt und dort ermordet.
Die KPD hatte ihre Mitglieder aufgefordert, sich der Gestapo auszuliefern.
So unglaublich das klingt, es entspricht dennoch der Realität. Denn nachdem
Frankreich kapituliert hatte, gab die KPD-Führung den Befehl aus, dass die
in den Lagern internierten deutschen Kommunisten, unter ihnen die ehemaligen
Brigadisten aus Spanien, die nicht mit der Todesstrafe rechneten, sich mit
ihrer Auslieferung an Nazi-Deutschland einverstanden erklären sollten. Eine
so genannte Kundt-Kommission der Gestapo hatte bereits die noch jenseits der
Demarkationslinie befindlichen Lager bereist und die Kommunisten dazu
aufgefordert, sich in die Rückkehrerlisten einzutragen. Fluchtmöglichkeiten
nach Übersee standen nur für Parteifunktionäre zur Verfügung. Einfache
deutsche Brigadisten und/oder Kommunisten verschwanden also in den deutschen
Konzentrationslagern, oder hatten, wenn sie auf das »Angebot« der
Kundt-Kommission nicht eingingen, nur die Möglichkeit, sich zur
französischen Fremdenlegion zu verpflichten, wie Koestler es tun musste, um
sein Leben zu retten und dann bei erster Gelegenheit zu fliehen.
Sperber entkam knapp, aber er entkam: »Freunde, junge Menschen, die mir in
keinster Weise verpflichtet waren, griffen ein. Sie verschafften mir eine
falsche Identitätskarte, mit der ich mich gegebenenfalls als Elsässer
ausweisen konnte. (...) Mit diesem Personalausweis in der Tasche fuhr ich
als Bergsteiger mit einem leichten Rucksack in eine savoyische Bergstation,
wo mich ein junger Mann namens Henri ansprechen und in eine Hütte zu einem
Häusler bringen sollte, der Flüchtlinge über einen Bergpass in die Schweiz
schmuggelte. Henri, der von meinen Freunden in Nizza engagiert worden war,
mich so zu retten, war ein Trotzkist, der wusste, dass ich mit der Partei
gebrochen, aber mich seitdem weder den Trotzkisten noch sonst irgendeiner
Gruppe angeschlossen hatte. Ohne, dass ich es merkte, fuhr er im gleichen
Zug wie ich, und danach im gleichen Autobus bis zu jenem Ort, von dem aus
wir die Bergwanderung in die Schweiz antreten sollten. Es war nicht das
erste Mal, dass er solche Reisen unternahm, er hatte bereits mehreren
Männern und Frauen in dieser Weise uneigennützig geholfen. Das Geld, das er
dafür bekam, ging an den Hilfsfonds seiner politischen Kampfgruppe.«
Sperbers Leben in der Schweiz war mühsam, armselig und immer existenziell
bedroht, wie das all der anderen Exilanten in der Schweiz, die keinen Anlass
hat, sich – was ihren Umgang mit jüdischen und/oder politischen Flüchtlingen
anbetrifft – auf die Schulter zu klopfen. Internierung, illegale
Tätigkeiten, um das Überleben zu sichern, nur wenige Möglichkeiten, seine
gleichfalls in der Schweiz lebende zweite Ehefrau Jenka und den gemeinsamen
Sohn zu sehen, stetige Angst vor den Behörden – wer will, lese das
detailliert nach. Flüchtlingsalltag eben.
Andere wollen nie davon gewusst haben, Sperber hingegen erfuhr im Jahr 1943
vom Holocaust und erahnte dessen Ausmaß. Bis zu diesem Zeitpunkt war er
Kommunist gewesen; er war noch Atheist, aber nun wurde ihm deutlich eines
vor Augen geführt, nämlich dass er vor allen Dingen Jude war: »Ich bin ein
europäischer Jude, der jeden Augenblick dessen bewusst bleibt, ein
Überlebender zu sein, und der nie die Jahre vergisst, in denen ein Jude zu
sein ein todeswürdiges Verbrechen gewesen ist.«
In »Die vergebliche Warnung« wundert er sich über sich selbst, wenn er an
die Nacht zurückdenkt, die auf den Tag folgte, an dem Hitler Reichskanzler
geworden war: »Erst Jahre später stellte ich, mich dieser Nacht besinnend,
mit Staunen fest, dass ich in jenen Stunden beinahe an alle Gefahren gedacht
habe außer an eine, die sich womöglich noch deutlicher abzeichnete als die
anderen: Ich hatte keinen Augenblick erwogen, was die Nazis den Juden antun
würden, nun da sie die Macht hatten, ›Juda verrecken‹ zu lassen.«
Auch Manès Sperber hatte sich ausschließlich als Kommunist in Gefahr
gesehen; wie seine Genossen konnte auch er sich nicht vorstellen, dass die
Nationalso-zialisten außerhalb der Logik des Kapitals agieren könnten, dass
sie die systematische Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas über jedes
Staats-, über jedes Kriegsinteresse und über jede Kapitallogik stellen
würden. Aber der Bruch mit dem Kommunismus hatte die vorgegebenen Denkmuster
und -schablonen gesprengt: »Als ich mit dem Kommunismus endgültig,
unwiderruflich brach«, heißt es in Sperbers Erinnerungen, »gewann ich
mühelos die Freiheit des Erkennens und des Urteilens wieder. Es mag
prätentiös klingen: seither habe ich mich in der Einschätzung der Ereignisse
und ihrer Folgen recht selten geirrt.«
Nachdem er vom Holocaust erfahren hatte, entschied Sperber sich dafür, nicht
wie eigentlich geplant, nach dem Kriegsende nach Berlin zurückzugehen,
sondern er ging 1945 in die ehemalige Emigrantenstadt Paris. In Frankreich
und in anderen europäischen Ländern erschienen zahlreiche Aufsätze, die
Ergebnisse seiner Auseinandersetzung mit dem Holocaust, die 1979 unter dem
Titel »Churban oder die unfassbare Gewissheit« auf Deutsch veröffentlicht
wurden. Sperber reiste, auch dies ein Resultat seiner Überlegungen,
insgesamt vier Mal nach Israel, dem »Ergebnis eines neuen Beginnens (…) von
unüberbietbarer Bedeutung. (…) Dank diesem kleinen, bedrohten Staat wird es
nirgends mehr so leicht sein, Juden zu morden.«
Auseinandersetzung mit dem Holocaust und seinen Ursachen, das bedeutete aber
auch Auseinandersetzung nicht nur mit dem Nationalsozialismus, sondern mit
dem Totalitarismus, denn: »In Wahrheit bleibt man verständnislos vor der
jüdischen Ka-tastrophe, wenn man sie nur auf den traditionellen
Antisemitismus zurückführt und nicht auf den Totalitarismus, der überall
antijudaistisch ist.«
Manès Sperbers literarisches Hauptwerk, die Trilogie »Wie eine Träne im
Ozean«, deren ersten Teil »Der verbrannte Dornbusch« er im Jahr 1940 zu
schreiben begonnen hatte, und der im Jahr 1949 erschien, arbeitet in erster
Linie die Geschichte einer stalinistischen Linken auf, die von Land zu Land
und durch mehrere Diktaturen hetzt oder getrieben wird und ihre eigenen
Glücksversprechungen für die Zukunft oftmals umso vehementer vertritt, je
aussichtsloser sie geworden sind. Den zweiten Teil (»Tiefer als der
Abgrund«) und den dritten (»Die verlorene Bucht«) schrieb Sperber während
der Jahre 1950 und 1951.
Die auf diese Jahre folgende realsozialistische Realität hat ihm, der sich
nur noch selten irrte, Recht gegeben: Valentine (Vali) Adler, eine der
Töchter Alfred Adlers, die einst als überzeugte Kommunistin in die
Sowjetunion gegangen war, wurde dort verschleppt und verstarb in einem
sibirischen Lager. Und die nach Osteuropa exportierte realsozialistische
Realität reicht vom offen antisemitisch ausgerichteten so genannten
Slánsky-Prozess 1952 in Prag (bei dem ein anderer ehemaliger
Münzenberg-Protége, Otto Katz, erklärte: »Ich betrachte mich als Verbrecher,
ich bin Jude! Ich stehe vor dem Staatsgerichtshof als Hochverräter und
Spion!«), bis hin zum Jahr 1968, als die sozialistische Volksrepublik
Polen ihre jüdischen Bürger und Bürgerinnen vertrieb.
In der Zwischenzeit konnte, wer wollte, weitere Anzeichen dafür finden, dass
Antisemitismus und Parteikommunismus sehr wohl miteinander vereinbar sind:
bei der Hysterie um die so genannten jüdischen Kreml-Ärzte, die angeblich
für den Tod Stalins im Jahr 1953 verantwortlich waren; bei der
antisemitischen Verfolgungswelle in der frühen DDR; beim erneuten
Aufflackern von aggressivem Antisemitismus 1956 in Ungarn.
Sperber beobachtete die Entwicklung in den in seinen Augen
totalitaristischen osteuropäischen Staaten, beobachtete auch die Entwicklung
Israels und ging mehrere Male nach Deutschland, um dort Kulturarbeit zu
leisten: »Ebenso aufschlussreich ist die Tatsache, die man überall
feststellen konnte: ein unglückliches Bewusstsein, ein unabweisbares Gefühl
der Mitverantwortlichkeit für die im Namen Deutschlands verübten Verbrechen
fand man nur bei Männern und Frauen, die immer Gegner des Nazismus gewesen
waren und unter ihm selbst sehr gelitten hatten. Sie, die Unschuldigen,
haben das Gefühl der Scham über das Geschehene spät oder nie überwunden.«
Die große Masse der Deutschen sah hingegen wenig Anlass zur Scham; sie war
ihm Forschungs- und Interessegegenstand, der jedoch umso weniger auszusagen
vermochte, je mehr er aus den gebildeten Ständen kam: »Der Reisende fragt:
›Wie ist all das möglich gewesen?‹ Und der Gebildete beklagt sich über das
Volk, die Massen, die Dummen, die nicht alle werden. Ja, alle waren schuld,
nur er war es nicht.«
Diese Beobachtungen Sperbers stammen aus dem dritten Teil (»Bis man mir
Scherben auf die Augen legt«) der Autobiografie »All das Vergangene«, an der
er zwischen 1972 und 1977 schrieb. Zuvor hatte er als Publizist, als
Schriftsteller, als Lektor und als Redakteur der deutschsprachigen Programme
des französischen Rundfunks gearbeitet. Er gehörte einer Organisation an,
dem »Kongress für kulturelle Freiheit«, von der er sich im Gegensatz zu den
meisten anderen Mitgliedern auch dann nicht distanzieren wollte, als sie in
den Ruch kam, finanziell von der CIA unterstützt worden zu sein.
Auf die europäische, insbesondere auf die französische Studentenbewegung von
1968/69 reagierte er gereizt. Aber andererseits ist aus Sperber, anders als
beispielsweise Margarete Buber-Neumann, niemals ein erbitterter
Antikommunist geworden; seine Töne blieben bis zum Schluss moderat. Manès
Sperber, der am 5. Februar 1984 in Paris gestorben ist, blieb bis ganz zum
Schluss ein Philosoph des Irrtums: »Die Ziele, für die ich von Anbeginn
hatte kämpfen wollen, schienen mir auch weiterhin durchaus erstrebenswert,
aber seit Jahren war mir offenbar, dass der Weg, den ich wie zahllose andere
eingeschlagen hatte, zum Irrweg geworden war. In der Wahl des Übels, das ich
bekämpfen wollte, hatte ich mich so gut wie nie geirrt, aber oft genug in
der Wahl dessen, wofür ich mich einsetzte, und am schlimmsten war ich in der
Wahl jener fehlgegangen, an deren Seite ich in das ›letzte Gefecht‹ zu
ziehen glaubte.«
hagalil.com
11-12-2005 |