Israel 10 Jahre nach dem Mord an Rabin:
Wer ist der Nächste?
Von Moshe Zimmermann
Die Sondersitzung des israelischen Parlaments am 2.
November widmete sich dem Andenken an einen ermordeten israelischen
Politiker und General - aber nicht Jitzhak Rabin, sondern Rechavam Seevi.
Ministerpräsident Sharon sprach bewegt von einem ehrlichen und aufrichtigen
politischen Kampfgefährten, der zum Kontrahenten wurde; der
Parlamentspräsident erinnerte die Zuhörer an einen Patrioten, der das Land
Israel innigst liebte, und sogar der Vorsitzende der liberalen
Oppositionspartei Shinui rühmte den Mythos Gandhi, Seevis absurder
Spitzname.
Unerwähnt blieb, dass der nach dem jüdischen Kalender vor
genau vier Jahren von Palästinensern ermordete Politiker der Führer einer
rechtsradikalen Partei war, der sich vehement für den Transfer (Klartext:
die Vertreibung) der Palästinenser einsetzte. Sogar die Vertreter der Linken
vermeiden es - nicht nur während der Sitzung -, den "Patrioten" Gandhi
anzuprangern, diesen Schandfleck der israelischen Demokratie, der zwei Mal
den Posten eines Ministers bekleiden durfte: De mortuis nihil nisi bene.
Das kommt nicht von ungefähr. Seit vier Jahren bemüht sich
die israelische Rechte, die stärkste politische Kraft im Land, um die
Aufwertung des Mythos Gandhi und um die Rehabilitierung seiner Ideologie als
Gegengewicht zum Mythos Rabin. Seit vier Jahren ist ein Prozess der
Aufrechnung im Gang. Mit außerordentlichem Erfolg.
In einer Gesellschaft, die das Wort Patriotismus großschreibt
und das Land für heilig hält, klingen Vorwürfe gegen die Person Gandhi
nahezu als Verrat. Noch wichtiger: Die Kritiker werden zum Schweigen
gebracht, weil sie Angst vor der Gegenkritik haben, vor der Kritik und
Verleumdung des "Gegenspielers" Rabin. Man verzichtet auf die Verurteilung
von Gandhis Transfer-Ideologie, um von der Gegenseite das Thema "Oslo" nicht
als Vorwurf ins Gesicht geschleudert zu bekommen. Denn das Abkommen von Oslo
aus dem Jahr 1993 gilt in Israel spätestens seit 2000, also seit Beginn der
Intifada, nicht als Anfang eines Friedensprozesses, als verpasste Chance,
sondern als Erbsünde, die dem palästinensischen Terror zum Erfolg verhalf.
Rabin wurde ja deshalb ermordet, weil er die Prinzipien von Oslo in eine
konsequente Friedenspolitik umsetzen wollte. Jetzt, zehn Jahre nach dem
Attentat, meidet sogar die israelische Linke die Assoziierung Rabins mit
Oslo, weil die Mehrheit in der Bevölkerung das, woran der Mörder von Rabin
glaubte, unreflektiert billigt: "Oslo ist unser Unglück."
Vom Opfer zum Mörder
Es war also ein Glücksfall für die seit der Ermordung Rabins
verunsicherte Rechte, dass sechs Jahre danach Gandhi ermordet wurde. Nun
konnte man, über den Versuch hinaus, Rabins Politik retrospektiv zu
diskreditieren, einen Held des "patriotischen, nationalen Lagers" als
Gegenspieler aufbauen, die in der kollektiven Erinnerung mit dem ermordeten
Helden Rabin konkurrieren kann.
Per Gesetz ist nun nicht nur der Jitzhak-Rabin-Gedenktag,
sondern auch der Rechavam-Seevi-Gedenktag im offiziellen Terminkalender
verankert. Per Gesetz soll das politische und ideologische Vermächtnis von
Rabin, aber auch das von Seevi in der israelischen Gesellschaft tradiert, in
den Schulen gelehrt werden. Nur fällt es absurderweise schwerer, Rabins
Vermächtnis zu definieren: Gandhi steht makellos für Eretz Israel, für
Patriotismus, während Rabin eher für eine gescheiterte Friedenspolitik
verantwortlich gemacht wird. Ergo bemühen sich Rabin-Sympathisanten um das
Aufpolieren seiner Gestalt als Soldat, als Sieger im Sechs-Tage-Krieg auf
Kosten seines Beitrags zu jenem 1993 begonnenen Prozesses, den man außerhalb
Israel Friedensprozess nennt.
Am
3. November haben protokollgemäß die Zeremonien zum 10. Jahrestag der Ermordung
Rabins begonnen. Der Staatspräsident, der Regierungschef und andere haben
wiederholt aus der Mottenkiste die Klischees geholt, die Ermordung Rabins als
tiefstes Trauma des Volkes bezeichnet und die Person Rabins hoch gelobt. Doch in
der Gedenkstunde wie überhaupt im innerisraelischen Diskurs der letzten Jahre
machte sich eine zusätzliche Verlagerung des Schwerpunkts in der Debatte um
Rabin bemerkbar - von Rabin zu seinem Mörder Ygal Amir, der mittlerweile von
vielen Israelis wie ein Popstar verehrt wird. Darin unterscheidet sich doch der
Fall Rabin vom Fall Seevi - der Täter war Jude. Die brennende Frage ist, ob er
begnadigt werden darf, ob seine Sünde als schwerwiegender zu werten ist als ein
gewöhnlicher Mord. Zwar betonte der Staatspräsident, dass er den jüdischen
Mörder des jüdischen Ministerpräsidenten Rabin nie begnadigen werde, doch sein
Versprechen weist auf den Charakter der heutigen Diskussion hin: War es
tatsächlich falsch, den Vertreter einer falschen Politik zu beseitigen? Darf man
Rabin im Nachhinein nicht kritisieren und delegitimieren?
Dabei geht es keineswegs mehr um die angemessene Strafe für
den Rabin-Mörder, sondern um den nächsten politischen Mord. Sharons Rückzug
aus Gaza ist bis heute, post factum, heftig umstritten. Mehr als 80 Prozent
der Israelis rechnen mit weiteren politischen Morden von Juden an Juden.
Das, nicht das politische Vermächtnis bereits ermordeter Politiker, ist das
wahre Anliegen der Israelis, wenn sie des Mordes an Rabin gedenken.
Der Autor lehrt Geschichte an der Hebräischen Universität
von Jerusalem. Goliaths Falle:
Israelis und
Palästinenser im Würgegriff
Die biblische Geschichte von David gegen Goliath gab den
Titel für eine im Aufbau Taschenbuchverlag herausgegebene Sammlung von
Zeitungsbeiträgen des israelischen Historikers Moshe Zimmermann...
hagalil.com 08-11-2005 |