Abnorme Normen:
UN-Ermittlungen gegen Syrien
Von Thomas Uwer
Jungle World
44 v. 02.11.2005
Wer bei der Botschaft der Arabischen Republik Syrien ein
Visum beantragt, erhält gegen einen frankierten Rückumschlag einen
Fragebogen, der neben persönlichen Daten auch eine Antwort auf die folgende
Frage verlangt: "Waren Sie früher im besetzten Palästina?" Es erübrigt sich
die Gegenfrage, was damit gemeint ist. Wer ein israelisches Visum im Pass
hat, war im "besetzten Palästina" und darf nicht nach Syrien einreisen.
Dieser Vorgang ist "normal", zumindest wenn man darunter den Alltag unter
den arabischen Regimes versteht. In Syrien, wie in anderen arabischen
Staaten auch, stellt die "Besetzung Palästinas" den Kern der politischen
Legitimation der Staatsführung dar, während der Staat Israel sprachlich
ausgelöscht wird. Als Gründungsidee hat sich in die Arabische Republik
Syrien eingeschrieben, dass alles, was sich dem Herrschaftsanspruch der
arabischen Nationalisten widersetzt, unterdrückt oder ausgelöscht werden
muss. Wie und unter welchem Namen über solche Feinde in der Öffentlichkeit
gesprochen wird, bestimmt der Staat. Auch dies galt lange Zeit als
vollkommen "normal", waren doch die Rahmenbedingungen nahöstlicher Politik
selbst abnorm. Alles politische Geschehen in der Region orientierte sich an
der Entwicklung des Ost-West-Konflikts. Als unterstützenswert galt unter
diesen Bedingungen alles, was jeweils der eigenen Stabilität förderlich und
der des gegnerischen Bündnisses abträglich war. Normalität war die gezügelte
Aggression.
So oft die arabischen Staaten diesen Zustand auch beklagten, etwa wenn die
USA wieder einmal eine UN-Resolution gegen Israel blockierten, so sehr
profitierten sie selbst von diesem Zustand. Nur wegen des Blockkonflikts
gelang es beispielsweise, politische Unterstützung für die berüchtigte
Zionismus-Resolution von 1975 zu gewinnen, in der der Zionismus zu einer
Form des Rassismus erklärt wurde. Und nicht zuletzt bewirkte der
Blockkonflikt, dass die Frage nach der Vereinbarkeit vieler Regimes mit den
Präambeln der Vereinten Nationen erst gar nicht gestellt wurde. Umso größer
ist die Überraschung, dass die UN nun gegen den syrischen Staatsterrorismus
ermitteln.
Offensichtlich haben jene Vertreter der syrischen Staatsführung, die in den
Mord an dem ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri
verwickelt sind, nicht einzusehen vermocht, dass andere Regierungen das
Attentat schon aufgrund ihres Interesses nicht gutheißen können. Vielleicht
waren sie schlicht zu stumpf, die möglichen Konsequenzen abzusehen,
vielleicht hofften sie auch, dass der erwartbare Widerstand gegen die USA
eine Ermittlung abwenden würde. Erreicht haben sie jedenfalls das Gegenteil.
Denn dass die Mitgliedsstaaten der UN sich nicht gegenseitig auslöschen und
die Regierungsmitglieder anderer Staaten nicht nach Gutdünken umbringen
sollten, steht in den Präambeln der Organisation. Dass einzelne
Mitgliedsstaaten dies dennoch taten, war ein Ausdruck jener Abnormität, die
im Blockkonflikt zur Normalität wurde. Mit den Ermittlungen gegen die
syrische Staatsführung wegen des Mordes an Hariri wird diese Normalität in
Frage gestellt.
Damit hat die syrische Staatsführung gleich zwei Prozesse ausgelöst, die ihr
keinesfalls gelegen kommen. Im Zuge der Ermittlungen gegen den syrischen
Staatsterrorismus könnte einerseits die Legitimität der Staatsführung selbst
in Frage gestellt werden. Dies könnte zugleich eine Umorientierung der UN
mit sich bringen, die weit eher den Titel "Reform der Vereinten Nationen"
verdienen würde als alle vorgebrachten Konzepte, die sich allein darum
drehen, die Position der USA zu schwächen.
hagalil.com 03-11-2005 |