Von 1938 bis heute:
Raub, Betrug und Hakenkreuze
Wie das Jüdische Theater im Nestroyhof unseren
Umgang mit vergewaltigter Kultur in Frage stellt.
Von Warren Rosenzweig
Jüdisches Theater Austria, www.jta.at
[ENGLISH]
Die seit 2001 bestehende Initiative des Jüdischen
Theaters Austria zur Rettung des ehemaligen jüdischen Theaters im
"Nestroyhof" in der Praterstrasse 34 ist nicht erfolglos gewesen. Jetzt,
nach Jahren des Ringens mit desinteressierten Vertretern der Stadtverwaltung
und den verschwiegenen Hausherren einer Immobilie, die im Zuge des
Nationalsozialismus einverleibt und durch äußerste Ungerechtigkeit
einbehalten wurde, scheint es nun endlich klar, dass dieses Juwel
österreichischen und jüdischen Kulturerbes vor weiterer Zerstörung bewahrt
wird. Es wird nicht wieder als Supermarkt missbraucht werden (wie es für
Jahrzehnte der Fall war), noch wird es zu dem werden, wofür sich zumindest
einer der Hausherren aus der Familie Polsterer, Martin Gabriel, sogar noch
im Juni 2004 engagierte: ein kommerzielles Center für Business, Gastronomie
und Clubbing.
Wird es aber wieder ein jüdisches Theater sein, wie zu der
Zeit, als es Gabriels Vorfahren durch deren Kollaboration mit den Nazis von
Anna Stein stahlen? Trotz der Bemühungen der Familie Polsterer, auch
weiterhin unbekümmert dem Problem auszuweichen, wie sie das schon seit
vielen Jahren tut; trotz der bedrohlichen Hakenkreuze, deren Entfernung von
den Innenwänden seines geerbten Raubeigentums Herr Gabriel so lange
verweigert hat; und trotz der Nachlässigkeit des Wiener Stadtrates für
Kultur, Andreas Mailath-Pokorny, der Angelegenheit die gebührende
Aufmerksamkeit zu widmen, wird das Theater im Nestroyhof wieder ein Ort für
Kunst und Kultur sein. Aber wird es Gerechtigkeit geben?
Jeder weiß, dass es in Österreich aussichtslos ist, im
Angesicht weiter bestehender "Arisierung" um Gerechtigkeit zu kämpfen.
Zumindest wird mir oft gesagt, dass es aussichtslos sei und dass dies jeder
wisse. Es ist für Politiker kein Problem, vollmundige Reden darüber zu
halten, wie sie für die Gerechtigkeit eintreten. Für Akademiker ist es in
Ordnung, über das Problem der Ungerechtigkeit zu theoretisieren und zu
dozieren und für Theologen, darüber zu predigen. Aber es ist nicht in
Ordnung, tatsächlich etwas zu tun. Ein Jude sollte nicht einmal darüber
sprechen. Aber ist es für einen Juden in Ordnung, nicht darüber zu sprechen?
Und ist es in Ordnung, nichts zu tun? Und was ist mit einem unabhängigen
Juden – kein jüdischer Offizieller – sondern ein Mensch, dem seine
kulturelle Herkunft ein Anliegen ist und der die Freiheit besitzt, zu
sprechen und der frei ist zu handeln. Ist es in Ordnung frei zu sein?
Wir leben in einem gut organisierten Staat. In unserem
Alltag genießen wir die vielen Vorteile politischer, sozialer und
ökonomischer Organisation. Aber wie wir wissen, hat diese Organisation ihren
Preis. Unabhängigkeit, zum Beispiel, wird von den Köpfen unseres gut
organisierten Staates nicht gerne toleriert. Als Folge der elaborierten
Mechanik der Zentralisierung wird die Unabhängigkeit nicht einmal in der
Kunst toleriert. Dennoch bleibt sie ein hoch geschätztes persönliches
Attribut – eine Qualität, die wir an kreativen und großartigen Frauen und
Männern besonders verehren und die wir oft mit Verantwortung und Gewissen
assoziieren.
Aber ich habe gefragt, "Wird es Gerechtigkeit geben?" als
ich von Gedanken an Unabhängigkeit, Verantwortung und Gewissen unterbrochen
wurde. Die den Nestroyhof betreffende Frage ist keine philosophische sondern
eine
praktische. Es ist keine Frage der Ideen, sondern eine des
Handelns ...
Seit Jahren sind weder die Familie Polsterer, die über den
Nestroyhof bestimmt, noch Andreas Mailath-Pokorny, der über das riesige
öffentliche Kulturbudget der Stadt bestimmt, bereit, das Vorhaben zu
diskutieren, das frühere jüdische Theater in seiner ursprünglichen
Funktionalität wieder instand zu setzen. Meine Kollegen und ich haben uns
durch diese Umstände nie davon abbringen lassen, uns für die künstlerische,
kulturelle und gerechte Sache einzusetzen, das Theater vor weiterer
Zerstörung zu bewahren und es wieder neu zu beleben, als internationales,
interkulturelles Zentrum für darstellende Kunst und eine lebendige jüdische
Identität (siehe
www.nestroyhof.at). Die
Tatsache, dass die Polsterers jetzt schließlich doch gewillt sind, zu
gestatten, dass ihr gestohlener Besitz wieder als ein Theater verwendet
werden kann, ist Beweis dafür, dass sogar die Profiteure der Arisierung
dazulernen können, wenn sie müssen.
Anstelle des üblichen Schweigens, der Verleugnung und der
Desinformation wird die Familie bald zugeben müssen, dass der Nestroyhof
arisiertes jüdisches Kulturerbe ist. Sie werden kaum eine Wahl haben. Seit
Jahren hat das Jüdische Theater Austria auf die Tatsachen aufmerksam
gemacht. Die Familie wird endlich zugeben müssen, dass sie die Gerechtigkeit
verhöhnt hat und beizeiten werden wir zu einem Punkt kommen, an dem die
Frage nicht länger lauten wird: "Was geschah?" sondern "Was kann
jetzt getan werden?". Die Antwort sollte klar sein: die Polsterers
können zeigen, dass sie bereit sind, mit dem Vermächtnis des Diebstahls zu
brechen, indem sie dieses eine Stück geraubten Eigentums an die Gemeinschaft
zurückgeben, damit es seiner ursprünglichen kulturellen Funktion wieder
gerecht werden kann. Haben sie nicht lange genug mit jüdischem Blut Geld
gemacht?
Weniger optimistisch bin ich was den mächtigen
Kulturstadtrat betrifft, der mir zum ersten mal im Februar 2002 klar gemacht
hat, dass er den Plan, das jüdische Theater zu reetablieren, nicht
unterstützt. Aber warum sollte man sich dann überhaupt eine politische
Intervention wünschen, die ja typischerweise ihren Preis hat: den Preis
politischer Abhängigkeit, Kriecherei und Zensur. Warum sich nicht
stattdessen Mailath-Pokornys "Nicht-Intervention" wünschen? Lass den
Politiker zur Abwechslung mal zu Hause, während kreative Kultur einen
gesunden Willen zur Unabhängigkeit durchsetzt.
Aber Kritiker werden wissen wollen woher die Finanzierung
für die Renovierung, die Wiedereröffnung und den Betrieb des jüdischen
Theaters kommen soll, wenn nicht von Onkel M.P.? Sie sagen, dass es ohne
seine Unterstützung nicht getan werden kann. Einige sagen, dass es ohne
seine Unterstützung nicht getan werden soll. Und viele werden darauf
aufmerksam machen, worauf der Stadtrat selbst die ganze Zeit bestanden hat:
dass die Stadt es sich nicht leisten kann, den Plan zu unterstützen.
Jahrzehnte zentralisierter Finanzierung von Theaterkunst –
der Abhängigkeit des Künstlers von politischer Vetternwirtschaft und
"Lobbyismus" – haben uns ein wenig wie Zirkuselefanten werden lassen, die
sich an die kleinen Schwänzchen vor unseren großen Nasen klammern. Wir haben
gelernt, dem Schnalzen der Peitsche zu folgen und unsere Positionen im Ring
zu halten. Halt dich gut fest, dann wird’s vielleicht eine Handvoll Erdnüsse
geben, nach der Show. Lass los und du bekommst den Elektroschock des
Zirkusdirektors zu spüren. Dann nehmen wir dein Elfenbein und der Rest von
dir ist Leim!
Ich habe keinen Rat für Zirkuselefanten. Aber jüdische
Kultur in Wien war in der Manege der hoch umfeierten zweiten Republik von
Anfang an nicht willkommen.
Das jüdische Theater im Nestroyhof kann und soll
idealerweise mit so wenig Einmischung durch die Regierenden wie möglich
reetabliert werden.
Aber Kritiker werden sagen, dass ungeachtet der Situation
vor 1938, die jüdische Gemeinde in Wien heute zu klein ist um ein jüdisches
Theater zu rechtfertigen. Wer wird sein Publikum sein? Sogar unter den Juden
– wie viele Leute in Wien verstehen denn jiddisch (oder heißt es hebräisch)?
Warum sollte eine assimilierte Gemeinde an jüdischen Themen interessiert
sein? Was hat Religion mit Theater zu tun? "Jüdisches Theater" bedeutet
"Ghettotheater" und ist grundsätzlich rassistisch. Die Torah selbst warnt
vor der Verderbtheit des Theaters. Seit wann braucht jüdische Identität ein
Theater um sich auszudrücken? Nebenbei bemerkt, haben wir bereits jüdisches
Theater – die städtischen Theater haben oft Arbeiten jüdischer Autoren
aufgeführt und eines dieser Theater wird sogar von einem Juden geleitet.
Bei einer vor kurzem abgehaltenen Konferenz in Wien, hat
ein Sprecher in bester Absicht seine grundsätzliche Unterstützung für
unseren Plan, das jüdische Theater zu reetablieren, zugesagt, mit dem
Vorbehalt, dass es ein Ort sein muss, an dem "jüdische und arische
Schauspieler zusammen auf der selben Bühne auftreten werden".(1) Das einzige
Ghetto im Wien der Gegenwart ist das Ghetto der vorsätzlichen Ignoranz. In
diesem Garten Eden, wo die falsche Sicherheit des Aberglaubens andauernd
über das Wissen triumphiert, fürchten sich seine alteingesessenen Bewohner
sogar heute noch davor den allegorischen Apfel zu kosten ...
Herr Gabriel hat eingewendet, dass der Saal im Nestroyhof
nicht immer ein jüdisches Theater gewesen ist. Aber er war nichts anderes
von September 1927 bis zum Anschluss im März 1938. Worüber er (noch)
nicht spricht ist, wie seine Familie dazu kam, das Eigentum von Anna Stein
Ende 1940 in Besitz zu nehmen. Weiters vermeidet er (noch), die
zutiefst jüdische Geisteshaltung des zionistischen Architekten Oskar
Marmorek zu erwähnen, sowie die unzähligen anderen "jüdischen"
Charakteristika des Gebäudes und seiner Geschichte. Glücklich ist wer
vergisst, was nicht mehr zu ändern ist. Wie Herr Gabriel es dargelegt
hat, "It’s time to go on with our lives." Ich stimme zu – es ist Zeit
weiterzuleben, aber nicht ohne wiederherzustellen was wiederhergestellt
werden kann.
Die Familie könnte sagen, dass sie gezwungen wurde
ihr arisiertes Eigentum im Jahre 1950 zu restituieren und, dass sie dieses
erst ein paar Monate später von den damals rechtmäßigen Erben (2) legal
wieder erworben hat, recht und billig für 3.500 Schilling. Falls Anna Stein
heute noch Erben hat, die zu behaupten wünschen, dass sie in der
Nachkriegszeit mittels Nötigung und Betrug noch einmal beraubt wurden, wo
sind sie jetzt? Lasst sie doch sprechen! Das könnte die Familie
sagen, aber sie tut es nicht.
Aber warum beseitigen sie ihre Hakenkreuze nicht?
Herr Gabriel verspricht Journalisten bereits seit einem Jahr, dass er dies
tun würde. In der Zwischenzeit sind die Argumente, die Hakenkreuze nicht
zu beseitigen, hauptsächlich von politisch linken Individuen
gekommen. Deren Bemühungen, Raub und antisemitische Aufsässigkeit im
Interesse des persönlichen Vorteils zu beschönigen, zeigen, dass sie
zusammen mit der politischen Rechten der Mode folgen.
Am 2. Juni 2005 zum Beispiel, bei der Eröffnung einer
Fotoausstellung, die ironischerweise den Titel "Women in the Holocaust –
Frauen im Widerstand" trug, war der Name Anna Stein verboten, genauso wie
jedes Wort von der Arisierung des Nestroyhofes, von seinem fortdauernden
Besitz durch die direkten Nutznießer der Enteignung und von der
Gegenausstellung, der behüteten Hakenkreuzsammlung direkt unter den Füßen
der ahnungslosen antifaschistischen Besucher. Der Stadtrat für Kultur selbst
segnete die Veranstaltung mit einer Rede, die frei war von jeglichem Hinweis
auf das Wissen um den Nestroyhof, dessen Hintergrund ihm seit Jahren
vertraut war. Die Organisatorin des "Pro-Widerstand Events" flehte mich an,
diese Themen nicht einmal mit Leuten vor dem Eingang draußen auf der Straße
zu diskutieren: "Jedes zweite Haus in Wien" sagte sie, "hat Hakenkreuze auf
den Kellerwänden. Das ist nichts neues."
Kollaborationen gab es und wird es weiterhin geben, mit
dem Bemühen, die Geschichte der Enteignung weißzuwaschen (und der Frage der
Gerechtigkeit zu entgehen), um damit den Nestroyhof abwechselnd missbrauchen
zu können, jetzt nachdem das Jüdische Theater Austria das Leichentuch
gelüftet hat. Während einige der letzten Veranstalter behaupten, für den
Nestroyhof nur das Beste zu wollen, hängt die Nutzung der
Räumlichkeiten zur Gänze von ihrer ergebenen Loyalität gegenüber den
Profiteuren des Nationalsozialismus ab (und, falls notwendig, von ihrer
gemeinsamen Toleranz gegenüber Hakenkreuzen).
In den frühen Vierzigern, zu einer Zeit als Brot
wertvoller war als Gold, war die Familie Polsterer diejenige, die das Brot
verkaufte.(3) Je elender das Schicksal der Massen wurde, umso mehr Reichtum
und Immobilien häufte die Nazifamilie an ...
Zum Beispiel war das Gebäude in der Schottenfeldgasse 60
in Wien einst Heimstätte einer Synagoge, einer Hebräisch-Schule, und einer
Anzahl jüdischer Familien. Zusammen mit anderem höchst geschätzten
NS-Familienvermögen wie dem Nestroyhof steht es heute immer noch im Besitz
der einschlägig bekannten Familie Polsterer. Seit vielen Jahren hat sich die
alternde Inhaberin Elisabeth Polsterer-Tree erfolgreich dagegen widersetzt,
dass das Gebäude durch eine Gedenktafel gekennzeichnet wird. Im September
2004 wurde die Gedenktafel schließlich gegen ihren Willen in den Asphalt des
öffentlichen Gehsteigs, nur wenige Zentimeter von der Fassade entfernt,
eingelassen.(4) Direkt gegenüber blickt die Jugendstilfassade des "Andreas
Neider Hauses" in der Schottenfeldgasse 65 gelassen von Angesicht zu
Angesicht, mit geduldiger Ironie über die enge Gasse. Dieses weitere Werk
des jüdischen Architekten Oskar Marmorek erinnert uns daran, dass in
Unabhängigkeit, Verantwortlichkeit und Gewissen Stärke zu finden ist.
Wien, Oktober 2005
("ROBBERY, RAPE and REPITITION (from 1938 to the present) – How the Jewish
Theater in the Nestroyhof Challenges Our Ways")
Übersetzung von Josef Bacher
[ENGLISH]
Was kann getan werden?
Wenn sie die Nestroyhofinitiative unterstützen wollen, oder über hilfreiche
Informationen verfügen, kontaktieren sie uns bitte unter
office@jta.at.
Für weitere Informationen, besuchen sie bitte
www.nestroyhof.at
Anmerkungen:
(1)
http://www.ceiberweiber.at/2004/juedischestheater1.htm
(2) Aranka Rosenzweig (New York), Melanie Arend (Portland, Oregon), Leontine
Goldschmidt (San Francisco), and Michael Goldschmidt (Haifa, Israel).
(3) Polsterer Agrarhandel GmbH & Co KG (www.polsterer.co.at)
(4)
http://www.ikg-wien.at/IKG/Members/irene/1049709045631/1100703199061?
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