Drei neue Berge:
Zwei ErdbebenUri Avnery
EIN POLITISCHES Erdbeben ist immer ein seltenes Ereignis. Wenn zwei große
politische Erdbeben schnell auf einander folgen, so ist es beinahe
einzigartig. Ein solches Erdbeben war die Wahl von Amir Peretz als Führer
der Laborpartei. Das andere ist die Tatsache, dass Sharon den Likud
verlassen hat, um eine neue Partei zu gründen.
Plötzlich hat sich die politische Landschaft so verändert, dass sie nicht
wieder zu erkennen ist. Bis vor kurzem gab es zwei Berge. Nun sind es drei –
und keiner von ihnen steht dort, wo die beiden anderen vorher standen.
Der Likud hat sich während der letzten 28 Jahre zu einer
Mitte-Rechts-Partei entwickelt. Ihre extrem nationalistischen Ansichten
haben sich mit Opportunismus und ständig wachsender Korruption verwässert.
Ihre Führung hat sich mit den Ultra-Reichen verbunden, die die
Wirtschaftspolitik diktieren, obwohl die meisten ihrer Wähler zu den
Unterprivilegierten gehören.
Die Labor-Partei ist zu ihrem eigenen Grabstein geworden. Sie
wandelte sich zu einer blassen Kopie des Likud, einer Art Likud 2. Ihr
Haupttotengräber, Shimon Peres, war auch ihr Hauptvertreter und gleichzeitig
Sharons Hauptpropagandist in der ganzen Welt.
Diese Landschaft besteht nicht mehr.
IN DER NEUEN LANDSCHAFT gibt es drei Berge, die nach drei verschiedenen
Richtungen ausgerichtet sind.
-- DER LIKUD ist zu dem zurückgekehrt, was er war, bevor er 1977 an
die Macht kam: eine radikale Partei des rechten Flügels. Dies ist die
klassische Herut-Partei, die an Gesamt-Israel glaubt (auf Hebräisch: "Erez
Israel haschlemah, das ganze Land Israel"), vom Mittelmeer bis zum
Jordanfluss.
Er ist gegen jedes Friedensabkommen mit dem palästinensischen Volk und will
die Besatzung aufrechterhalten, bis es die Umstände erlauben, die besetzten
Gebiete zu annektieren. Da er auch einen homogenen jüdischen Staat wünscht,
ist in diesem Wunsch eine versteckte Botschaft: die Araber müssen dahin
gebracht werden, das Land zu verlassen. In der Redeweise des rechten Flügels
wird dies „freiwilliger Transfer“ genannt. Doch ist die Partei zu
vorsichtig, dies offen auszusprechen.
Der Likud mag sich jetzt über „soziale“ Angelegenheiten auslassen, um für
die „orientalischen“ (meist nordafrikanischen) Wähler in Konkurrenz mit
Peretz zu treten. Aber seit die Herut-Partei in den Sechzigern sich mit der
nicht mehr funktionierenden Liberalen Partei verbunden hatte, diente sie nur
mehr den Interessen der Reichen.
--DIE SHARON-PARTEI (Kadimah „Vorwärts“ genannt) wird auf eine Lüge
gebaut. Sharon erklärte, die Road Map sei seine einzige politische
Grundlage. Aber die Road Map war schon tot, bevor sie geboren wurde. Nicht
einmal im Traume denkt Sharon daran, auch nur seinen Teil der ersten Phase
der Realisierung durchzuführen: die Auflösung der hundert neuen Siedlungen
(„Außenposten“), die nach 2000 errichtet wurden, und an das Einfrieren der
Siedlungsaktivitäten.
Sharon macht aus seinen wirklichen Absichten keinen Hehl: 58% der Westbank
zu annektieren, einschließlich der sich weiter ausdehnenden
„Siedlungsblöcke“ wie auch der verschiedenen „Sicherheitszonen“ (das
ausgedehnte Jordantal und die Straßen zwischen den Siedlungen) und
Groß-Groß-Jerusalem, einschließlich der Maale Adumim-Siedlung. Da es keinen
palästinensischen Partner für solch eine „Lösung“ geben kann, plant er die
Erfüllung derselben durch ein einseitiges Diktat, das ohne jeden Dialog mit
den Palästinensern - mit Gewalt - durchgesetzt wird.
Soweit es Sharon betrifft, sind soziale Probleme nur ein Ärgernis. Er wird
natürlich ein soziales Programm verkünden, um mit Peretz und dem Likud
konkurrieren zu können – in Wirklichkeit interessiert es ihn nicht.
-- Die LABOR-PARTEI von Amir Peretz wird sich auf
sozial-wirtschaftliche Probleme konzentrieren und hofft so, die Massen der
„orientalischen“ Bevölkerung zu gewinnen, die bis jetzt den Likud und Shas
(die Partei der orthodox-orientalischen Juden) wählten. Hier liegen die
Chancen eines Sieges. Amir Peretz unterstützt ein ernst zu nehmendes
Friedensprogramm: Verhandlungen mit den Palästinensern und die Errichtung
eines palästinensischen Staates auf der Basis der Grenzen von 1967. Er wird
dies in einem sozialen Kontext darstellen: das im Krieg durch Besatzung und
Siedlungen vergeudete Geld ist den Armen gestohlen worden und vergrößerte so
die Kluft zwischen arm und reich.
Peretz’ Berater werden ihn zu überzeugen versuchen, dass er „Mitte wird“
(dafür gibt es im Hebräischen ein neues Wort) und seine Friedensbotschaft
abschwächt, um die Stimmen „in der Mitte“ zu gewinnen. Falls er dies tun
würde, sähe es aus, als würde es ihm an Selbstvertrauen, Glaubwürdigkeit und
einem klaren Programm fehlen. Auf jeden Fall aber wird Peretz versuchen, die
sozialen Probleme zu betonen und die Themen, die mit Frieden und Sicherheit
zu tun haben, auf den zweiten Platz zu verweisen.
EINES der Hauptprinzipien militärischer Strategie ist, dass die Seite, die
das Schlachtfeld bestimmt, die besseren Chancen hat, die Schlacht zu
gewinnen, da ihre Wahl natürlich ihre speziellen Bedingungen widerspiegelt.
Das gilt auch für die Wahlschlacht.
Sharon ist ein siegreicher General, und deshalb ist er daran interessiert,
„Sicherheit“ in die Mitte seiner Wahlkampagne zu setzen. Hier hat er einen
großen Vorteil gegenüber Peretz, der nur Hauptmann einer Wartungstruppe war.
Wenn Gefahr für die Sicherheit Israels besteht, wird das Volk Sharon
vertrauen, dem Sabra (dem im Lande geborenen) aus dem Dorf Malal mit der
Aura eines militärischen Führers.
Peretz ist Gewerkschaftsführer, ein Mann, der in Marokko geboren wurde und
in einer kleinen israelischen Stadt armer Immigranten aufwuchs. Deshalb ist
er daran interessiert, die sozial-wirtschaftlichen Probleme in den
Mittelpunkt der Wahl zu stellen. Wenn Hunderttausende unterhalb der
Armutsgrenze leben und die soziale Kluft als ihr Hauptproblem ansehen,
können Sicherheitsprobleme zweitrangig werden.
Peretz muss die Massen dahin bringen, die Formel „Frieden = Verringerung der
sozialen Kluft“ zu verinnerlichen. Das ist ziemlich schwierig. Während
meiner zehn Jahre in der Knesset hielt ich Dutzende Reden genau zu diesem
Problem – und hatte keinen Erfolg. Im öffentlichen Bewusstsein existiert
eine seelische Blockade: wenn man über die Wirtschaft spricht, wird der
nationale Konflikt ignoriert. Spricht man über den nationalen Konflikt, will
man nichts über die Wirtschaft wissen. Peretz muss diesen Graben überwinden
und eine Verbindung zwischen beidem herstellen. Nach so vielen Opfern von
Blut und Geld sollte die Öffentlichkeit dafür reif sein.
Deshalb wird die Hauptschlacht um das Schlachtfeld selbst sein: ob die
Sicherheit oder die soziale Kluft das Hauptthema sein wird. Peretz muss an
seiner Agenda festhalten, auch wenn alle möglichen Ratgeber und Medienleute
ihn davon abbringen wollen und auf die Angriffe seiner Gegner reagieren.
Und natürlich wird jeder „Terroristenangriff“ in Sharons Hände spielen und
den Likud unterstützen. (Notorische Sharon-Hasser behaupten sogar, er sei
fähig, selbst solche Angriffe zu provozieren, indem er militärische Aktionen
initiiert und so zu Racheakten einlädt.)
WIE UNTERSCHEIDET sich die neue politische Landschaft von der alten? Es ist
seltsam genug: die meisten Kommentatoren ignorieren die offensichtlichste
und entscheidendste Tatsache:
Den Linksruck des gesamten Systems.
Der Likudkern ist rechts stecken geblieben, wo er immer war. Aber alle
anderen haben sich bewegt.
Die Sharon-Partei, die sich vom Likud abgespalten hat, hat ihren
Hauptglaubensartikel aufgegeben: das ganze Eretz Yisrael. Sie stimmt für die
Teilung des Landes. Sharon selbst hat einen Präzedenzfall geschaffen, indem
er die Siedlungen im Gazastreifen auflöste. Wie schlimm auch sein
politisches Programm sein mag, verglichen mit seiner früheren Position und
der des Likud, ist sie weniger rechts. Er hat sich deshalb nicht in „Labor
2“ verwandelt, wie seine Likudgegner behaupten, er hat sich aber nach links
bewegt.
Die Wahl von Amir Peretz stellt eine große Bewegung der Labor-Partei zur
wirklichen Linken dar.
Dies trifft genau so für die Lösung des israelisch-palästinensischen
Konflikts zu, wie auch für das soziale Problem. Peretz bringt selbst nicht
nur eine sozial-demokratische Agenda mit, er zwingt auch alle anderen
Parteien, sich in diese Richtung zu bewegen – oder mindestens dies
vorzugeben.
Sogar ShaS erinnert sich plötzlich daran, dass sie nämlich die Partei der
unterprivilegierten „orientalischen“ Judensind. Nach mehreren Jahren auf der
extremen Rechten erinnern sie sich, dass sogar ihr einziges gesitiges
Oberhaut der Rabbi Ovadia Yossef sich vor Jahren äußerte, die Gebiete seien
zurückzugeben.
Seit Jahren hat in Israel eine anormale Situation vorgeherrscht und die
Sozialwissenschaftler wahnsinnig werden lassen: nach allen öffentlichen
Meinungsumfragen wollte der größte Teil des Volkes Frieden und war bereit,
fast alle notwendigen Konzessionen zu machen – aber in der Knesset war diese
Position so gut wie nicht vertreten.
Während all dieser Jahre hat mein Optimismus viele Leute irritiert. Ich
sagte: dies kann so nicht lange weitergehen. Ohne dass wir voraussehen
können, auf welche Weise, wird eines Tages dieser anormale Zustand sich
selbst in Ordnung bringen. So oder so wird sich die politische Szene der
öffentlichen Meinung anpassen.
Ein Erdbeben verursacht Veränderungen an der Oberfläche, wird aber selbst
von Kräften, die tief in der Erde liegen, verursacht. Dies gilt auch für das
politische Leben: die tief im öffentlichen Bewusstsein verborgen liegenden
Veränderungen haben schließlich sichtbare Wandlungen zur Folge. Das Ergebnis
ist schnell und plötzlich, ist aber die Folge eines langen, langsamen
unterirdischen Prozesses. Ich bin stolz auf die Rolle, die meine Partner und
ich in diesem Prozess spielten.
Was wird nun geschehen? Das hängt von vielen Faktoren ab. Auch von uns.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert)
Eine weitere Einschätzung:
Wahlkampfparolen:
Eine Zusammenfassung
für diejenigen, die schon jetzt die Nase voll haben
Der Wahlkampf hat mit aller Wucht begonnen. Schon bald werden
wir ihn satt haben. Hier deshalb ein Versuch, die allgemeinen Linien der
Wahlpropaganda der großen Parteien zusammenzufassen... |