Krise
an Israels Nordgrenze:
Warum schoss die Hisbollah?
Kommentar von Ze’ev Schiff, Ha’aretz,
25.11.2005
Übersetzung Daniela Marcus
Seit Februar hatte die Hisbollah davon Abstand
genommen, Katyusha-Raketen auf Israel zu schießen und umfangreiche
Angriffe an der israelisch-libanesischen Grenze zu starten. Die
Situation im Libanon und in Syrien war für derlei Aktionen nicht
geeignet.
Beide Länder –und mit ihnen die Hisbollah- waren in Folge
der Ermordung des früheren libanesischen Premierministers Rafik Hariri, ins
Wanken gekommen. Frankreich schloss sich den Vereinigten Staaten bei
Äußerungen scharfer Kritik gegenüber Syrien an, und der Sicherheitsrat der
UNO verabschiedete die Resolution 1559, die die syrische Armee zwang, aus
dem Libanon abzuziehen. Was das Problem für Beirut und Damaskus noch
verstärkte, war ein Bericht über die Ermordung Hariris, der von Detlev
Mehlis, dem Leiter des Untersuchungsteams der UNO, verfasst wurde. Diese
Entwicklungen verbesserten Israels strategische Lage im Norden.
Während dieser Zeit achtete die Hisbollah darauf, alle Aktionen zu
vermeiden, die Syrien mit hineinziehen könnten. Die Organisation gab sich
damit zufrieden, zwei Drohnen zu starten, die Bilder von Nordgaliläa
machten, und im Juni einen Trupp in die Nähe der Grenze bei Har Dov zu
schicken, anscheinend in dem Versuch, einen israelischen Soldaten zu
entführen. Der Plan schlug fehl, ein Hisbollah-Mann wurde getötet und seine
Leiche zurückgelassen. Die Organisation bat Beirut, die US-Regierung zu
veranlassen, Einfluss auf Israel auszuüben, damit dieses die Leiche
zurückgäbe, was dann mit Hilfe des Internationalen Roten Kreuzes geschah.
Infolge einer internen Debatte entschied Israel, keinen Handel mit
Leichnamen zu betreiben, wie es die Hisbollah in der Vergangenheit getan
hatte, und gab die Leiche zurück.
Zu Beginn dieser Woche trat eine Änderung bzgl. der Operationen der
Hisbollah ein. Die Organisation begann mit einer umfangreichen, gut
geplanten Operation, die als Ziel die Entführung eines israelischen Soldaten
beinhaltete. Sie war gewarnt worden, ihre Operation nicht dahingehend
auszudehnen, Katyusha-Raketen weit nach Galiläa hinein abzufeuern. Doch sie
verstand, dass eine Entführung auch eine breite israelische Reaktion
provozierte. In der Tat war es das Ziel, mit dieser Operation, die
Aufmerksamkeit von den Untersuchungsergebnissen des Mordes an Hariri
abzulenken und den Druck, der auf Syrien lastet, zu erleichtern. Doch es ist
klar, dass eine solche Operation nicht ohne die Zustimmung von Syrien und
dem Iran durchgeführt werden konnte.
Der israelische Geheimdienst hatte seit einiger Zeit Informationen
erhalten und die Situation richtig eingeschätzt. Israelische Kommandeure und
Soldaten vor Ort reagierten gut und erfolgreich auf den Angriff. Und die
Hisbollah erlitt einen zweiten operativen Schaden. Sie hat in der Erreichung
ihres Zieles versagt, Mitglieder verloren und deren Leichen zurückgelassen.
Und der Sicherheitsrat beschuldigte die Organisation, den Vorfall initiiert
zu haben. Nun wird die Hisbollah Israel erneut –indirekt- bitten, die
Leichen zurückzugeben. (Anmerkung des Übersetzers: Israel hat die Leichen am
Vormittag des 25.11.05 bereits übergeben. Siehe die englische Nachricht
unter folgendem Link: http://www.haaretz.com/hasen/spages/649097.html) Und
selbst Bilder, die beschädigte Ausrüstung der israelischen Armee zeigen,
können über das Versagen der Hisbollah nicht hinwegtäuschen.
Mehrere Lektionen können aus diesem Vorfall gelernt werden:
- Wenn die Einschätzung, dass die Hisbollah –gemeinsam mit Syrien
und dem Iran- Israel in eine umfangreiche Operation im Libanon hineinziehen
will, stimmt, wird die Organisation sehr wahrscheinlich erneut versuchen,
einen Überraschungsangriff auf die israelische Armee zu starten.
- Obwohl Israel strategisch gesehen im Vorteil ist, steht es einem
komplexen operativen Problem gegenüber, denn die Initiative geht immer –oder
fast immer- von der Hisbollah aus. Israel befindet sich an der Nordgrenze in
einer Verteidigungsposition und hält von Operationen, bei denen es die
Grenze überschreiten muss, Abstand. Trotzdem haben Offizieren vor Ort
bewiesen, dass es mit Hilfe guter Geheimdienstinformationen möglich ist, die
Oberhand über die Hisbollah zu behalten.
- Syrien und der Iran fahren damit fort, intensiv im Libanon zu
agieren und besitzen teilweise die Kontrolle über das Land. Es gibt immer
noch einige Dutzend Mitglieder der Iranischen Revolutionären Garde im
Libanon.
- Die Resolution 1559 des UNO-Sicherheitsrates, die dazu gedacht
war, die syrische Armee aus dem Libanon abzuziehen und die dortigen Milizen
zu entwaffnen, wurde nicht vollständig umgesetzt.
- Der Libanon ist immer noch weit entfernt von seiner
Unabhängigkeit. Die Regierung hat keine Kontrolle über ihr Territorium und
ist unfähig, die Hisbollah zu zügeln. Beirut möchte keinen Guerillakrieg an
der Grenze zu Israel, doch es fürchtet den erneuten Ausbruch eines
Bürgerkrieges.
Dies ist ein komplexer Zustand einer Angelegenheit, die in eine
weitreichende Konfrontation zwischen Israel und Syrien ausarten könnte. Es
ist zweifelhaft, ob man sich auf den syrischen Präsidenten Bashar Assad
verlassen kann, eine solche Ausartung zu verhindern. Deshalb ist es für
Israel doppelt wichtig, seine Hände am Steuer zu halten und darauf zu
achten, sich nicht in die amerikanisch-französische Konfrontation mit Syrien
und der Hisbollah hineinziehen zu lassen.
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