Gaza:
Offene Grenzen bedeuten noch keine Freiheit
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
"Die Wände zitterten, als Condolezza Rice Muhamad Dahlan,
Salam Fayyed und Rassan El Chatib anschrie, mehr Flexibilität zu zeigen." So
beschreiben Hotelangestellte die Kampagne der amerikanischen
Außenministerin, eine Einigung über die Grenzübergänge vom Gazastreifen zur
Außenwelt zu erzwingen. Um Mitternacht waren die israelischen Unterhändler
an der Reihe, sich die Vorhaltungen der Amerikanerin anzuhören. Um vier Uhr
Morgens entließ Rice sie mit dem Befehl an Verteidigungsminister Schaul
Mofas, um acht Uhr morgens in ihrer Suite anzutreten. Nur zwei Stunden
Schlaf gönnte sich Rice. Aber am Ende hatte sie beide Seiten
weichgeschlagen, die Grenzen zu öffnen.
Seit Israels Rückzug im August blieb der Gazastreifen nach palästinensischen
Angaben ein "riesiges Freiluftgefängnis".
Erez: Der Grenzübergang im Norden, für Diplomaten, Journalisten und eine
schwindende Zahl palästinensischer Tagelöhner mit Genehmigung in Israel zu
Arbeiten wurde immer wieder gesperrt. Mal waren es Terroranschläge und
Selbstmordattentate, dann wieder waren es die chaotischen Zustände im
Gazastreifen mitsamt Entführungen von Journalisten und ausländischen
Entwicklungshelfern, die Israel veranlassten, Erez für alle Grenzgänger zu
schließen. Zudem befindet sich der ursprünglich auf palästinensischem Gebiet
errichtete Übergang mit Elefantengehegen, Panzerglas und elektronischen
Überwachungssystem im Umzug. Die Blockhäuser der Kontrolleure wurden
provisorisch auf dem riesigen Parkplatz nördlich von Erez abgestellt, damit
die Palästinenser nicht behaupten konnten, Israel halte noch Teile von Gaza
besetzt. Bei Erez können die Israelis bestimmen, wen sie in ihr Land
einreisen lassen, aber Rice forderte, den Übergang nicht mehr "willkürlich
und nur bei Verdacht" zu schließen, sondern nur noch bei "akuter Gefahr".
Gemäß einem Zeitungsbericht werden die Israelis künftig den Amerikanern
konkrete Begründungen und Beweise für eine Schließung mitteilen müssen.
Willkür, von den Palästinensern als "Kollektivstrafe" bezeichnet, will Rice
ausschließen.
"Sichere Passage": Von Erez werden Palästinenser in geschlossenen Bussen im
bewachten Konvoi ins Westjordanland wechseln dürfen. Die Straßenschilder für
die einst ausgehandelten alternativen Strecken der "sicheren Passage" stehen
noch seit Mitte der Neunziger Jahre. Doch Ministerpräsident Jitzhak Rabin
stoppte die Umsetzung der Passage durch israelisches Territorium, nachdem
palästinensische Polizisten mit ihrer Dienstwaffe tödliche Anschläge in
Jerusalem verübt hatten. Damals hatten die Palästinenser gefordert, Israel
bewaffnet und unkontrolliert passieren zu dürfen. Sonst wären sie "in ihrer
Ehre" verletzt. Rice zwang die Palästinenser, auf ihre Ehre zu verzichten
und die Israelis, eine direkte Verbindung zwischen beiden Teilen der
Autonomiegebiete zuzulassen.
Karni ist ein Warenumschlagplatz. Millionen Kubikmeter israelisches
Trinkwasser, Benzin, Kochgas und Strom fließen hier nach Gaza. Zement und
andere lebensnotwendige Waren werden nach kostspieliger Durchleuchtung
umgeladen. Es gibt keine direkte Berührung zwischen Lastwagenfahrern beider
Seiten, aus Angst vor Terror. Obgleich Karni die wirtschaftliche Nabelschnur
des Gazastreifens ist, gab es auch hier tödliche Anschläge der Hamas. Die
Schließungen hatten fatale Folgen für die Menschen im Gazastreifen, denn
auch Medikamente und Babymilch werden über Karni importiert. Israel musste
sich verpflichten, den Übergang 24 Stunden am Tag offen zu halten und die
Kapazitäten der Sicherheitskontrollen zu erhöhen, um die Abfertigung zu
beschleunigen.
Rafah, der Grenzübergang von Gaza nach Ägypten, wurde beim Rückzug von den
Israelis verlassen und von Palästinensern überrannt. Die Ägypter und
Palästinenser schlossen ihn wieder, weil es vertragliche Verpflichtungen
gegenüber Israelis gab. Ein neuer Kontrollmechanismus musste erst
ausgehandelt werden. Die Israelis wollen keine unerwünschte Personen in den
Gazastreifen einreisen lassen und Waffenschmuggel verhindern. Die
Palästinenser wollten sich von den Israelis nicht bevormunden lassen,
mussten aber einer Überwachung mit Videokameras per Fernlenkung zustimmen.
Auf israelische Initiative wurde den Europäern angeboten, als "Dritte"
aufzupassen. Der italienische Carabinieri, Major-General Pietro Pistolese,
64, wird ein Trupp von 70 EU-"Grenzexperten" befehligen. Ob die lediglich
den Palästinenser helfen, ihren ersten Grenzübergang zur Außenwelt in
eigener Regie zu verwalten, oder ob sie Terroristen verhaften und
geschmuggelte Waffen beschlagnahmen, wie die Israelis das erwarten, wird
sich erweisen. Israel argwöhnt, dass sich die EU-Beamten im Ernstfall nicht
mit den Palästinensern anlegen wollen. Die EU weiß, dass von ihrem Verhalten
beim ersten politisch-militärischen Einsatz in diesem Konfliktgebiet
abhängt, ob Israel ihr weitere Rollen als Friedenstruppe einräumen mag.
Der Flug- und Seehafen, weitere Tore zur Welt, sind noch zerstört oder nicht
fertig gebaut. Wann und ob die geöffnet werden und wie sich da die
Sicherheits- und Zollkontrollen gestalten werden, soll erst beschlossen
werden, sowie sich die neuen Regelungen in Rafah, Erez und Karni bewährt
haben.
Solange die Palästinenser aus eigenem Interesse an einer Währungs-,
Wirtschafts- und Zollunion mit Israel festhalten, wird Jerusalem bei allen
Kontrollen zwischen den Palästinensergebieten und der Außenwelt mitreden,
damit nicht die eigene Wirtschaft durch Schmuggelware untergraben werde.
© Ulrich W. Sahm / haGalil.com
hagalil.com 17-11-2005 |