Legitimation und Deutung:
Zur Hinterfragung jüdischer Selbstbilder im Zeitalter des
Staates Israel
Antrittsvorlesung von Alfred Bodenheimer, 25. Juni 2003
Institut für Jüdische
Studien der Universität Basel
Sehr verehrter Herr Dekan,
Meine Damen und Herren,
Vor neunzehn Jahren habe ich hier im Gebäude meine
allererste Vorlesung gehört, beim unvergessenen Frantisek Graus, zu dessen
zentralen wissenschaftlichen Forschungsgegenständen das Judentum des
Mittelalters zählte, und zwar nicht nur als verfolgtes, sondern auch als
Träger einer geistigen Welt. Es erfüllt mich mit Freude und Dankbarkeit,
heute selbst jüdische Religionsgeschichte und Literatur hier lehren zu
dürfen, mit einstehend für das junge Institut für jüdische Studien, von
dessen Existenz zu meiner Studentenzeit kaum jemand zu träumen wagte – außer
denen, die es dann auch realisiert haben. Auch hier hat die schon zuvor in
Basel nicht unbekannte Erkenntnis gewirkt, es sei kein Märchen, wenn man nur
wolle. Womit wir auch beim eigentlichen Thema dieses Vortrags wären, der
jüdischen Selbstbilder im Zeitalter jenes Staates, der aus Theodor Herzls
Vision hervorgegangen ist.
Wer einigermaßen bewandert ist in der jüdischen
Tora-Exegese, weiß um deren Umgang mit der Geschichte von Jakob und seinem
älteren Zwillingsbruder Esaw. Letzterer, aufgrund des berühmten roten
Linsengerichts, für das er die Erstgeburt verkaufte (und interessanterweise
nicht im Zusammenhang mit seinen ausdrücklich erwähnten roten Haaren) Edom,
der Rote, genannt, wird in der rabbinischen Literatur zur Personifikation
des römischen Reiches, später, vor allem seit den Kreuzzügen, zu der des
Christentums stilisiert, mit einer dauernden potentiellen Ausweitung auf
alles, was in seiner pointierten Ablehnung des Jüdischen als "Nichtjudentum"
zu bezeichnen wäre. Dass es dazu kommt, hat womöglich mehr als mit der
Jakob-und-Esau-Geschichte selbst mit dem Buch des Propheten Obadja zu tun,
wo Edom bzw. Esaw als großer Widersacher Israels genannt wird. Doch
wesentlicher als die Ursache dieser Personifizierung ist für uns an dieser
Stelle ihre Konsequenz.
Vor fünf Jahren veröffentlichte die israelische
Zeitschrift "Meimad" einen Briefwechsel zwischen Shmuel Hugo Bergman und
Nechama Leibowitz aus dem Jahre 1957. Bergman, ein Jugendfreund Franz
Kafkas, der jung nach Palästina ausgewandert war, seit 1928 als Professor
für Philosophie an der Hebräischen Universität in Jerusalem lehrte und
später deren erster Rektor wurde, reagierte auf eine Radioansprache seiner
Adressatin. Diese, eine Lehrerin und später an der Universität Tel Aviv
Professorin für Bibel, galt vor allem aufgrund ihrer quellenkundigen,
didaktisch aufgebauten Kommentare zu den Tora-Wochenabschnitten als
Leitfigur der modernen Orthodoxie. In der besagten Radiosendung, die im
Rahmen einer wöchentlichen, dem Wochenabschnitt gewidmeten Reihe Leibowitz'
ausgestrahlt worden war, ging es um das Wiedersehen zwischen Esaw und Jakob,
zwanzig Jahre nach Jakobs Flucht vor Esaw, der ihn aufgrund des gestohlenen
Vatersegens hatte umbringen wollen.
Leibowitz hatte verschiedene Kommentatoren zur Episode
dieses trotz Jakobs Furcht versöhnlichen Treffens und zur Frage nach der
Ernsthaftigkeit von Esaws demonstrativer Absage an alle Rachegefühle
zitiert. Nachdem Leibowitz widerstreitende Meinungen angeführt, sich selbst
aber eher der skeptischen Fraktion angeschlossen hatte, und zum einen Esaws
Ehrlichkeit bezweifelt, zum anderen die Figuration "Esaw" als grundsätzlich
und permanent feindselig gegenüber den Juden darstellt hatte, fühlte Bergman
sich zu einer Antwort herausgefordert. "Verstehen Sie nicht", schreibt er,
"daß Sie Haß im Herzen der Lernenden und Zuhörenden säen? Selbst wenn aus
historischer Perspektive die engherzige Auffassung der Erklärer zu verstehen
ist – ist es uns erlaubt, diese schreckliche, antihumane Tradition
fortzuführen, nachdem uns ein Staat erstanden ist? Werden wir auf diese
Weise den Anfang der Erlösung in eine Vollendung der Erlösung verwandeln?"
Leibowitz zeigt sich in ihrer Antwort tief getroffen vom
Vorwurf, sie könnte in irgendeiner Weise zu Hass und Menschenverachtung
aufgehetzt haben, und sie zeigt sich bereit, in einer gedruckten Version
Passagen zu ändern, die diesen Eindruck fördern könnten (was sie
offensichtlich dann auch getan hat). Zum andern aber rechtfertigt sie
durchaus die These, dass Israel unter den Völkern, mit oder ohne Staat, eine
äußerst prekäre Existenz immer geführt habe und weiter führe und zeigt
Unverständnis darüber, dass Bergman einige der bedeutendsten Exegeten des
Judentums, darunter etwa Nachmanides, einer antihumanen Haltung bezichtige.
Bergman seinerseits erklärt im Abschlussbrief seine Sorge
angesichts einer grassierenden "Selbstgerechtigkeit" (dieses Wort ist im
hebräischen Original auf Deutsch geschrieben), die er in Israel feststelle.
Was die Errungenschaft eines eigenen Staats betrifft, so erklärt Bergman,
daß er darin durchaus einen Paradigmenwechsel jüdischer Existenz erkenne:
"Wir haben aufgehört, bloß Objekt der Geschichte zu sein und sind zum
Subjekt geworden; dies zwingt uns, die Begriffe, die in früheren
Generationen gerechtfertigt waren, einer radikalen Revision zu unterziehen."
Es wird, vor dem Hintergrund dieser Korrespondenz,
vielleicht deutlich, wohin ich mit dem Titel dieser Vorlesung ziele. Bergman
konfrontiert Nechama Leibowitz mit der Fragestellung, ob in sich
verändernden historischen Konstellationen die Selbst- und Fremdbilder,
selbst dann und gerade wenn sie überzeitlichen Gültigkeitsgehalt
postulieren, nicht hinterfragt werden sollen. Um das Spezifikum seiner
Argumentation hervorzuheben, möchte ich ihr zwei Texte gegenüberstellen, die
dreieinhalb Jahrzehnte später, nämlich 1993, entstanden und von einem
inzwischen durch die Palästinenserfrage noch stark verschärften Kontext
geprägt worden sind.
Es handelt sich dabei einerseits um einen Aufsatz von
Jonathan und Daniel Boyarin, die im Phänomen jüdischer territorialer
Hegemonie den eigentlichen Verlust jüdischer Identität überhaupt sehen und
für einen Staat plädieren, der genau diesen Anspruch hegemonialer nationaler
Existenz mit ihrem Potential des aggressiven Nationalismus zurücknimmt. "Wir
würden meinen," heißt es darin, "dass die Diaspora und nicht der
Monotheismus der wichtigste Beitrag ist, den das Judentum der Welt zu geben
hat." Was die beiden amerikanischen Judaisten mit Fokus auf die
Identitätskonstruktion beanstanden, kritisiert gleichzeitig der israelische
Historiker Amnon Raz-Krakozkin in einem Artikel über die "Anti-Galutiut",
die zionistische Verneinung aller Bezüge israelischer Identität zur
jüdischen Diaspora-Existenz. Genau diese Negierung, so Raz-Krakozkin,
verhindere eine adäquate Beschäftigung mit den Palästinensern, da sie den
Blick auf die Perspektive der im Machtgefüge Unterlegenen verneble, der doch
über Jahrhunderte der jüdische Blick per se gewesen sei. Während die
Boyarins für eine Stärkung der auf Moses, also auf Nichtterritorialismus
basierenden Idee des Judentums gegenüber der Territorialideologie des
Davidischen Reiches plädieren, beruft sich Raz-Krakozkin auf das moderne
Beispiel Walter Benjamins und seine dezidiert machtkritischen Thesen zur
Geschichte, um die innere Logik eines hegemonialen Diskurses zu
hinterfragen. Bergman, zu seiner Zeit, argumentiert anders. Er selbst war in
der Zeit vor der Staatsgründung Mitglied des Brit-Schalom gewesen, einer
vornehmlich von Intellektuellen getragenen Gruppe, die einen binationalen
jüdisch-arabischen Staat anstrebte. Die arabische Gesprächsverweigerung der
vierziger Jahre und der gegen den Teilungsbeschluss und die Entstehung eines
von der UNO sanktionierten jüdischen Staates im Jahr 1948 initiierte Krieg
hatten diese Lösung während der fünfziger Jahre im israelischen Bewusstsein
in weite Ferne rücken lassen. Entsprechend kommt Bergman auf diese Option
nicht zu sprechen. Vor allem aber hütet er sich vor jeder Idealisierung der
Galut bzw. Diaspora. Bergman glaubt vielmehr daran, dass es gerade die
Existenz eines jüdischen Staates sei, die den Abschied von einer
Argumentation erlaube und erzwinge, die er (zum Entsetzen Nechama
Leibowitz') in der Deutung der Jakob-Esau-Geschichte als exilisches
Ressentiment denunziert.
Obschon ihre verantwortungsethischen Positionen gar nicht
so weit auseinanderliegen, lassen die Beispiele von Bergman einerseits sowie
den Boyarins und Raz-Krakozkin andererseits erkennen, dass auf sehr
verschiedene Weisen von Intellektuellen überkommenes jüdisches Erbe und die
Realität des existierenden jüdischen Staates als aufeinanderprallende
Wertewelten empfunden werden. Während nach Bergman dieser Staat als
Plattform für eine neue, aus dem Selbstbewusstsein heraus offenere Haltung
gegenüber der Umwelt gelten soll, die durch einen Opfergestus wie dem Jakobs
gegenüber Esaw gefährlich unterspült wird, werden auf der anderen Seite
demselben Staat und seiner Pflege des Gestus der Stärke potentiell
faschistoide Tendenzen attestiert, vor dem Hintergrund einer nicht immer
ganz leicht nachzuvollziehenden Idealisierung der Diaspora.
Die gängige Dichotomisierung von Staat und Diaspora, oder,
in anderen Worten, von Zionismus und Judentum, lässt sich exemplarisch und
mit wiederum anderer Ausrichtung auch an zwei Artikeln zeigen, die im
vergangenen Jahr in der israelischen Zeitung Haaretz erschienen sind. Die
Publizistin Avirama Golan hat am 19. November, wenige Tage nach einem
Terroranschlag beim Patriarchengrab in Hebron, der zwölf Menschenleben
forderte, die dortigen Siedler bezichtigt, gezielt Szenarien
heraufzubeschwören, die einem einst verfolgten Judentum der Diaspora glichen
und sich der entsprechenden viktimologischen Ideologie zu bedienen. Bereits
im Februar 2002 hatte der Schriftsteller Awraham B. Jehoschua einen Beitrag
veröffentlicht, in dem er (vergleichbar Raz-Krakozkin) eine stärkere
israelische Auseinandersetzung mit dem Trauma der Palästinenser forderte,
zugleich aber auch für eine radikale räumliche Trennung beider Völker
eintrat, in dem die Herrschaftsbereiche klar abgesteckt würden. Mit der
fortdauernden Besetzung und Besiedlung der Westbank und des Gazastreifens,
so Jehoschua, habe Israel David Ben-Gurions zionistische Doktrin von klarer
Souveränität in klaren Grenzen verraten. Dieses Sprengen von
unmissverständlich umrissenen Grenzen bezeichnet Jehoschua als einen
jüdischen Akt, denn gerade das Judentum habe eine Existenz und Identität
gepflegt, die sich von festen territorialen Grenzen gelöst habe. Damit
greift Jehoschua natürlich genau jene nationalreligiöse Doktrin an, gemäß
derer in der Besiedlung des ganzen biblischen Eretz Israel tatsächlich erst
die jüdische Mission des Zionismus erfüllt ist und die genau in dieser
jüdischen Mission die zielführende Idee des Zionismus überhaupt sieht. Seine
These wird allerdings dort problematisch, wo er behauptet, es sei diese
grenzüberschreitende "jüdische" Präsenz in nichtjüdischen
Mehrheitsgesellschaften als solche (abgesehen von den Übeln der
Besatzungspolitik in den Palästinensergebieten), die nicht nur die
Palästinenser reize, sondern die schon Auschwitz verursacht habe. Naiver
können historische Parallelen, alleine auf dem Raster des Gegensatzes
Staat-Diaspora beruhend, kaum hergestellt werden.
Es scheinen sich also die Existenz eines Staates Israel
und das Judentum in einem aporistischen Verhältnis zueinander zu befinden:
Wird der Staat Israel als Zielsetzung oder schrittweise Erfüllung des
Judentums gedeutet, so wird dadurch die Religion als Galuterscheinung (wie
bei den säkularen Zionisten der Gründergeneration) grundsätzlich abgelehnt,
sie wird entsprechend ihren Entwürfen jüdischer Selbstbilder als
reformbedürftig betrachtet (wie bei Bergman), oder sie wird zur Leitlinie
der Staatsgestaltung erkoren (wie in Kreisen der Nationalreligiösen), womit
aber letztlich jede staatliche Handlung im Sinne der eigenen Einstellung
religiös verbrämt, somit der demokratische Charakter des Staates
unterminiert wird. Wird der Staat Israel in seiner grundlegenden Form
hingegen als Verrat am Jüdischen an sich verstanden, so entsteht eine
zuweilen schwierig zu akzeptierende Verklärung der Diaspora-Situation, die
deren theologischen Charakter und oft auch faktische Existenzform als
negativ erfahrenes Exil schlicht zu übergehen scheint. Auch die Boyarins
räumen ein, ihr Begriff Diaspora orientiere sich an einem idealisierten
Diasporamodell, das sich an jenen historischen Situationen orientiere, in
denen Juden relativ frei von Verfolgung und zugleich mit starker jüdischer
Identität existierten. Ob dieses Modell, das der Autor Philip Roth unter dem
Schlagwort "Diasporismus" in seinem ebenfalls 1993 erschienenen satirischen
Roman Operation Shylock in seiner ganzen Zwiespältigkeit thematisiert, eine
real taugliche Alternative zum wie immer verbesserungswürdigen zionistischen
Modell bietet, sei zumindest als Frage formuliert.
Demgegenüber sind Modelle für ein Miteinander von Judentum
und Staatlichkeit abseits unseliger fundamentalistischer Verschränkungen
oder Abstossungen, abseits auch grundsätzlicher Revisionen des jüdischen
Selbstbilds, sei es der Kritik, sei es der Verklärung des Diasporajudentums
als existentieller religiöser Daseinsform, nicht billig zu haben und
erfordern sowohl vom religionshistorischen wie vom im weiteren Sinne
metaphysischen Denken höchste Anstrengung. Es soll hier mit der Hilfe zweier
Gewährsleute versucht werden, sich dieser Aufgabe, einer Versöhnung der
Legitimität eigener Ansprüche und der Deutung von Realität mit betont
jüdischer Perspektive, anzunähern. Ich möchte mit dem zweiten, dem späteren
der beiden Gewährsleute beginnen:
Ein Jahr nach dem Tod des 1998 verstorbenen Historikers
Jacob Katz ist postum sein letztes Werk erschienen, ein kurzer, meisterhaft
konziser Gesamtblick über die jüdische Geschichte seit der Zerstörung des
zweiten Tempels. Der letzte Teil dieses Buches ist der Entstehung des
Staates Israel und einzelner Entwicklungen darin gewidmet. Die neue
Bedeutung der Staatlichkeit im jüdischen Paradigma skizziert Katz anhand
eines Ereignisses wenige Wochen nach der Staatsgründung. Damals beschoss die
israelische Armee auf Befehl des Premier- und Verteidigungsministers
Ben-Gurion die Altalena, ein vor Tel Aviv ankerndes Schiff der
Untergrundbewegung Etzel, weil deren Befehlshaber Menachem Begin nicht
bereit war, die auf dem Schiff geladenen Waffen ohne Verhandlungen an die
staatliche Armee zu übergeben. Dutzende von Toten waren die Folge. Dazu
meint Katz: "In Abwesenheit einer jüdischen Regierung war es in der
Diaspora, und während der Mandatszeit auch innerhalb der jüdischen
Bevölkerung Palästinas, üblich gewesen, daß Gegensätze zwischen jüdischen
Gruppen und Parteien zu einer Lösung durch Verhandlung, jedenfalls aber ohne
Gewaltanwendung gelangten. Die jüdische Sentimentalität forderte, daß dieser
Zustand unter der Souveränität eines jüdischen Staates fortdauere, und
vielleicht sogar an Gewicht gewinne. Nur wenige nahmen den Standpunkt ein,
und die meisten lernten ganz langsam, wenn überhaupt, dass diese Erwartung
einen inneren Widerspruch darstellte. Ein jüdischer oder nichtjüdischer
Staat kann auf den Einsatz von Gewalt nicht verzichten und muss sich von
Fall zu Fall fragen, ob deren Anwendung unabwendbar ist. Ein Abweichen von
der richtigen Linie würde als Vergehen ausgelegt, und zwar in beiden
Richtungen: Sich ohne Not der Gewalt zu bedienen, oder auf sie zu
verzichten, wenn die Stunde es gebietet."
In seiner nüchternen Beschreibung dessen, was er "raison
d'état" nennt, zeigt Katz auf, dass der wie immer geartete religiöse oder
sonstige Charakter eines Staates, genauso wie die Vorgeschichte seines
Volkes, grundsätzlich mit der Zweckbestimmung des Staates an sich nicht zu
interferieren haben. Entsprechend erteilt er auch der Idee, bzw. wie er es
abschätzig nennt, der "Parole" eines nach der Halacha, dem jüdischen
Religionsgesetz, geführten Staates, eine deutliche Abfuhr. "Tatsache ist,
dass die Halacha nur in wenigen Bereichen der Bedürfnisse von Regierung und
Rechtsprechung, in denen sie auch im Leben der Gemeinden in der Diaspora
funktioniert hat, eine Rolle zu spielen imstande ist:
Familienangelegenheiten, Heiraten und Scheidungen, bestimmte zivilrechtliche
Fragen und Ähnliches." Kein Wunder deshalb, so Katz, dass außer Maimonides
kein Gelehrter, der sich mit Rechtsauslegung beschäftigte, Fragen von
Staatsform, Strafrecht und anderem überhaupt behandelt habe.
Ob das Judentum als Exilsreligion Vorzüge oder Nachteile
besitzt und ob die Jüdinnen und Juden in ihrem Charakter von diesen Vor- und
Nachteilen affiziert worden sind, beschäftigt Katz nicht. Es geht ihm
lediglich darum zu zeigen, dass ein von Juden regierter Staat, den er als
historische Errungenschaft durchaus würdigt und unterstützt, mit Mitteln des
jüdischen Denkens oder der jüdischen Gesetzlichkeit weder bekämpft noch
regiert werden kann und darf.
Zur Ergänzung von Katz' dezidiert entmystifierendem Ansatz
zu Judentum und Staatlichkeit möchte ich den eher transzendent
ausgerichteten Franz Rosenzweigs, meines zweiten Gewährsmannes, anführen. Im
Herbst 1919 hielt Rosenzweig in seiner Geburtsstadt Kassel einen Vortrag
über "Geist und Epochen der jüdischen Geschichte". Die Kernthese des
Vortrags, der erst 1937 erstmals publiziert wurde, lautet: Epochen im Sinne
einer idealistischen Geschichtsschreibung, die die Geschichte in
vorwärtsgerichtete Schritte einteilt, gibt es in der jüdischen Geschichte
nicht. Die jüdische Geschichte beginnt (bei Abraham) mit dem Wandern, die
jüdische Volkskonstituierung findet unter Moses in der Wüste statt, und das
Land selbst wird in der Tora ausdrücklich als "Lehen" Gottes an das Volk
bezeichnet, zu dem eine wie immer auch natürliche Herkunftsbeziehung nicht
besteht. Die Gründung der Gelehrtenschule von Jawne nach der Zerstörung des
Tempels im Jahre 70, aus der später dann die Niederschrift der Mischna
hervorgeht, zeigt auf besonders eindrückliche Weise, dass sich der Verlust
nicht nur eines eigenen Staates, sondern auch eines territorialen kultischen
Zentrums durch eine mobile geistige Institution, die berühmten "vier Ellen
der Halacha", ersetzen ließ. Damit wurde das Exil letztlich bloß zu einem
anderen Aggregatszustand, nicht aber zu einer qualitativen Grunddifferenz
jüdischer Existenz, die, so Rosenzweig, "von Exil zu Exil" gehe.
"Der jüdische Geist", so Rosenzweig gegen Ende seines
Vortrags, "bricht die Fessel der Epochen. Weil er selber ewig ist und Ewiges
will, so leugnet er die Allmacht der Zeit. Er geht unberührt durch die
Geschichte. Kein Wunder, dass die Geschichte und was in ihr lebt, ihm gram
sind. Denn die Zeit will, dass Alles was lebt ihr den Zoll der Zeitlichkeit
erstatte. Hier aber wird ein Leben in die Ewigkeit hineingelebt und die Zeit
kann, ein unbefriedigter Gläubiger, sehen wie sie ihre Schuld eintreiben
mag. Der Jude erkennt ihre Forderung nicht an. Er hält der Zeit in seiner
eigenen Ewigkeit ein Ewiges entgegen, über das sie keine Macht hat." Denn
die Zeit, die Epochen schafft, hat, wie wir wissen, nur Bedeutung für den
durch seinen Raum Definierten. Was zeitlich unendlich ist, so lehrt auch die
Physik, muss es räumlich ebenfalls sein.
Entsprechend bedeutet die Existenz des Judentums, in
welcher seiner Ausprägungen auch immer, für Rosenzweig ein paradoxes Ferment
in jenem Ablauf, den die Welt "Geschichte" nennt. Auf seine eigene Umgebung
blickend, betont er, das von den Assimilanten auf vorbildliche deutsche
Staatsbürgerschaft ebenso wie das von den Zionisten (vor allem von Herzl
selbst) auf den Judenstaat als Projekt sozialer Gerechtigkeit ausgerichtete
Programm enthalte – bewusst oder unbewusst – die seit jeher
unerschütterliche Grundhaltung des Judentums: "das Ewige zu fordern, zu
predigen, zu verheißen – mitten in der Zeit."
Zunächst scheint Rosenzweigs Ansatz vorwiegend
situationsbezogen gelesen werden zu müssen. Zu einer Zeit, die von den
Zeitgenossen als Epochenbruch schlechthin empfunden werden musste, ein Jahr
nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg, als Mitteleuropas
Staatsund Staatenordnungen in einem Augenblick zerfallen waren, in einer
Atmosphäre, wo die Morde an Rosa Luxemburg und Kurt Eisner ebenso wie die
Niederschlagung der Münchner Räterepublik tiefen Einblick in verbreitete
antisemische Grundstimmungen eröffneten, wo der Zionismus, der vom
deutsch-jüdischen Bürgertum weitgehend als Delegitimierung seiner formalen
Emanzipation angesehen wurde, durch die Balfour-Deklaration in Deutschland
von einem spleenigen Intellektuellenbund zu einer weltpolitisch relevanten
Bewegung mutiert war – hier schien die Bestätigung unhintergehbarer Ewigkeit
und Epochenlosigkeit etwas Beruhigendes für die Zuhörer zu besitzen – umso
mehr dann noch beim Erstdruck 1937.
Doch wenn Rosenzweig mit seiner Aufhebung des
Epochendenkens in der jüdischen Geschichte den Anspruch erhebt, ihn auf
einige tausend Jahre rückblickend aufrecht erhalten zu können, sollte man
zumindest die Probe machen, ihn auf die für ihn unabsehbaren Entwicklungen
des 20. Jahrhunderts auch nach vorne auszudehnen. Und dabei entwickelt er
gerade in Verbindung mit Katz' achtzig Jahre später formuliertem Ansatz ein
erstaunliches analytisches Potential für die heutige Situation, das Katz'
Postulat auch über die spröde Formel einer "Trennung von Staat und Religion"
hinaus, nämlich gezielt jüdisch zu lesen erlaubt. Rosenzweig macht jenes
Movens transparent, das bei Katz nur noch als Irrweg, als gefährlicher
Abgrund des Irrationalismus, wahrgenommen wird, der niemals mit der Politik
interferieren dürfte: Nämlich den utopischen Gedanken, der, als Verheißung,
wie Rosenzweig es nennt, das Judentum weiterträgt und der notgedrungen allen
seinen Projekten unterlegt ist.
Rosenzweig und Katz verbindet eine Übereinstimmung, die in
dieser Formulierung beide nicht aussprechen: Sie beide verstehen das
Judentum als defensive Religion. Defensiv soll meinen: Auf der eigenen
Position und deren Legitimität beharrend, zugleich andere Positionen nicht
(sei es durch Gewalt oder durch Überzeugungsversuche) attackierend. Defensiv
soll auch heißen: Ohne Anspruch auf eine Position in einem physischen bzw.
territorialen Machtgefüge über die Bedingungen der eigenen Existenzsicherung
hinaus. Und genau hier besteht die Möglichkeit der Zusammenschau von Katz
und Rosenzweig. Ein Staat, der sich als Schutzgefäß einer defensiven
Religion betrachtet, kann auch die nicht dieser Religion zugehörigen Bürger
gleichberechtigt behandeln (ein Hauptkritikpunkt der Boyarins ist die
Degradierung der nichtjüdischen Bürger Israels), er kann auch erkennen, daß
die Religion dort, wo sie allenfalls offensiven Beweggründen dient (oder
diese kaschiert), ihrer Ausrichtung, und damit dem Staat, in dem sie ein
bestimmtes Maß an moralischem Mitbestimmungsrecht besitzt, nicht mehr treu
ist. Als defensive Religion ist das Judentum seit jeher an geordneter
Machtausübung des Staates interessiert und lehnt staatlichen Machtmissbrauch
ab.
Ist auf solcher Basis nun, um auf das anfängliche Problem
zurückzukommen, die Rezeption der Geschichte von Esaw und Jakob im Zeitalter
des Staates Israel umzuschreiben? Sie ist es, insofern ein staatliches
Subjekt besteht, das sich unter keinen Umständen Vorrechte aus einer
imaginären Opfersituation herausinterpretieren darf. Sie ist es nicht,
insofern hier eine jüdische Konzeptgeschichte gelesen wird, die, jenseits
wechselnder historischer Konstellationen genau jene defensive Strategie
vertreten hat, die Jakob Esaw gegenüber bei ihrem Wiedersehen einnahm,
bereit, gegenüber Esaw alles zu leisten – außer einer Attacke und außer
einer Kapitulation. Der Haifaer Judaist Ehud Luz fordert solches in seinem
Buch über Macht, Moral und jüdische Identität (das sinnigerweise den Titel
"Kampf am Jabbokfluss" trägt, sich also auf Jakobs Kampf mit dem Engel in
der Nacht vor dem Treffen mit Esaw bezieht). Im berühmten mittelalterlichen
Werk "Kusari", jenem Religionsdialog zwischen dem König der Chasaren und
einem jüdischen Gelehrten, dem sogenannten Chawer, den der Dichter und
Philosoph Juda Halevi verfaßt hat, rühmt sich der Chawer, seinem Volk sei
das Ausüben von Gewalt gegenüber anderen Völkern fremd. Daraufhin kontert
der Chasarenkönig, die Juden hätten ja aufgrund ihrer Exilsituation auch die
Möglichkeit zu solchem Verhalten nicht. Luz sieht in einem Vereinen
staatlicher Macht mit der vom Chawer genannten Tugend Chance und
Herausforderung eines eigenen Staates. Somit kann gerade das Jakobische
Konzept defensiven (nicht passiven) Widerstandes durchaus dem Esawschen
Kozept zumindest potentiell aggressiver Ausbreitungspolitik entgegengestellt
werden, ohne dass dafür die diasporische Matrix gewählt werden müsste, die
in sich schon immer eine mitschwingende Grundbedingung der Selbstschwächung
trägt und sich allzu sehr von der dauernden konsensuellen Einbindung des
Gegenübers abhängig macht. Das Judentum in der Rolle eines auratischen
(nicht autoritativen) Regulativs des Staates ist in diesem Sinne
vorstellbar. Bewusst wähle ich den Terminus "vorstellbar", da ich diese Idee
der defensiven Religion hier weder als normative noch als in allen Details
anwendungsbereite, sondern vielmehr als theoretisches Angebot verstanden
wissen will – als ein Angebot freilich, das analytische Auseinandersetzung
mit solch emotional befrachteten, für das jüdische Selbstverständnis der
Gegenwart unendlich wichtigen Fragestellungen erst ermöglicht.
Meine Damen und Herren, ich habe in dieser
Antrittsvorlesung den Versuch unternommen, einen synthetischen Ansatz zu
entwerfen für ein zukunftsweisendes Selbstbild des Judentums, das sich
offenbar reichlich unvorbereitet und in einiger Unklarheit über die Last der
Implikationen im letzten Jahrhundert als staatsdominante Religion
wiedergefunden hat. Diese Vorlesung sollte aber, die Gelegenheit packend,
auch grundsätzlich dazu dienen, die Wichtigkeit biblischer Gestalten wie
Jakob und Esaw, Abraham und Moses für jüdisches Selbstverständnis im 20. und
21. Jahrhundert sowie das Überblicken und Abwägen verschiedener Konzepte
jüdischer Geisteswelt und –geschichte aus der Tiefe der Jahrhunderte bis
heute exemplarisch und zugleich programmatisch vor Ihnen auszubreiten. Wie
Sie sicher erkannt haben, sollte damit auch der Versuch verbunden werden, zu
differenzieren zwischen diskursbeherrschenden Stereotypen und herleitbaren
Tatsachen zur jüdischen Religion und Geschichte. Dies alles ist es auch, was
ich als meinen Auftrag an dieser Universität betrachte und nach bestem
Wissen in Forschung und Lehre einzubringen gedenke.
Institut für Jüdische
Studien der Universität Basel
hagalil.com 16-10-2005 |