
Neue Jüdische Zeitung:
"Die russischen Zuwanderer sind unsere Zielgruppe"
Mit einer Startauflage von 40.000
Exemplaren ist im September die Jüdische Zeitung erstmals erschienen. Die
Monatszeitung wird vom Berliner Werner Media Verlag herausgegeben. Lutz
Lorenz gehört zur vierköpfigen Redaktion und ist zuständig für Politik,
Zeitgeschichte und Jüdisches Leben. Der 1962 in Berlin geborene Journalist
studierte Theater- und Kulturwissenschaft und leitete zuletzt das Jüdische
Kulturfestival in Berlin. Mit ihm sprach Heike Runge.
Jungle World
41 v. 12.10.2005 Im September ist die erste
Ausgabe der Jüdischen Zeitung erschienen. Wie ist die Resonanz auf die
Zeitung?
Es gibt sehr viele positive Leserbriefe und auch viele
Anrufer, die uns zum Neustart gratulieren.
Wer freut sich denn so mit Ihnen?
Zum Beispiel der ehemalige israelische Botschafter Avi
Primor und der Vorsitzende der Linkspartei, Gregor Gysi.
Gibt es auch Kritik?
Es gibt jedenfalls viele Anregungen und ein paar davon
werden wir auch aufgreifen. Zum Beispiel die Idee einer Leserin aus Potsdam,
die vorschlug, über den Film "Paradise Now" zu diskutieren. Der Film ist ja
nicht nur in Deutschland sehr umstritten. Wir haben ihn zum Kinostart von
einem Künstler besprechen lassen, der in Israel geboren ist und in den USA
lebt und der den Film durchaus positiv beurteilt hat. Wir sind jetzt
natürlich gespannt auf das Pro und Contra.
Die Auflage geben Sie mit 40 000 an. Damit liegen Sie
erheblich über der Auflage der Jüdischen Allgemeinen. Dennoch betonen Sie,
dass Sie der Zeitung keine Konkurrenz machen wollen. Wie soll das gehen?
Der deutsche Zeitungsmarkt und insbesondere der
Leserkreis, der sich mit unserem Themenspektrum beschäftigt, gibt einiges
mehr her als nur eine einzige Zeitung. Wenn wir an die Zeit vor 1933 denken,
gab es damals eine große Zahl an jüdischen Zeitungen. Anders als die
Jüdische Allgemeine, die sich am Zentralrat der Juden orientiert, wollen wir
das jüdische Leben ein bisschen facettenreicher verstehen und uns auch
intensiv mit den Vorgängen in der Union der progressiven Juden, den
Chabat-Lubawitsch-Gemeinden und den säkularen Vereinen auseinandersetzen.
Außerdem bieten wir Seiten zur Weltpolitik und Israel.
Wen wünschen Sie sich als Leser?
Wir haben ja bereits Erfahrungen mit einer anderen
jüdischen Zeitung, die in unserem Haus erscheint. Seit vier Jahren geben wir
die russischsprachige Evreyskaya Gazeta heraus, die sich in erster Linie an
die jüdischen Zuwanderer aus den ehemaligen GUS-Staaten wendet. Diese
Migranten sprechen sowohl in ihren Familien als auch in ihrem
gesellschaftlichen Umfeld in erster Linie Russisch. Das ändert sich aber
bereits in der zweiten und dritten Generation. Diese Generation ist in
Deutschland aufgewachsen oder sogar hier geboren, wurde hier ausgebildet
oder hat hier studiert. An diese Zielgruppe wendet sich die Jüdische Zeitung
vorrangig.
Wie beschreiben Sie die Blattlinie der Jüdischen
Zeitung? Welche gesellschaftlichen Positionen möchten Sie stärken?
Da verweise ich auf unseren Untertitel, wir werden uns mit
zeitgenössischem Judentum und zugleich mit seiner Geschichte und Kultur
befassen.
Welche Bedeutung haben die Erinnerung an den Holocaust
und die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus für Ihre Zeitung?
Man wird den Holocaust in einer jüdischen Zeitung immer
thematisieren und immer thematisieren müssen. Das heißt aber nicht, dass wir
das jüdische Volk ausschließlich als Opfer verstehen, sondern, wie es einer
unserer Interviewpartner, Isaac Behar, der Gemeindeälteste der Jüdischen
Gemeinde zu Berlin, verstanden wissen wollte, als Mittler zwischen den
Generationen. Wir werden den Holocaust als ein grauenhaftes Thema innerhalb
der deutschen Geschichte darstellen, zeigen aber auch, was bereits getan
wird und was jeder einzelne tun kann, um den Holocaust aufzuarbeiten. Die
Auseinandersetzung mit der Judenvernichtung bedeutet heute auch, sich
einerseits mit dem Gedenken zu beschäftigen und den Kampf gegen die Leugnung
des Holocaust andererseits zu führen.
Für die deutschstämmigen Juden ist der Holocaust
untrennbar mit der eigenen Familiengeschichte verbunden. Welchen Zugang
haben russischstämmige Juden der zweiten und dritten Generation zum
Holocaust?
Eine besondere Schwierigkeit für die zweite und dritte
Generation ist der Umstand, dass das Judentum nicht ausgelebt werden konnte,
was ja in den Familien der alteingesessenen deutschen Juden seit Gründung
der jüdischen Gemeinden nach 1945 wieder möglich war. Wir erfahren immer
wieder von den Migranten aus den ehemaligen Republiken der Sowjetunion, dass
man dort sein Jüdischsein nicht leben konnte, dass es explizit verboten
wurde und dass es zum Teil noch heute zu Pogromen kommt. Einerseits gibt es
ein starkes Interesse der Zugewanderten, gerade auch unter den jüngeren,
sich mit Familiengeschichte und jüdischer Geschichte auseinanderzusetzen.
Andererseits haben sie, wie ihre nicht-jüdischen Altersgenossen auch, ihre
ganz eigenen Themen, die nichts mit dem Judentum zu tun haben. Generell
würde ich sagen, dass es bei dieser Bevölkerungsgruppe ein größeres
Interesse an der Beschäftigung mit dem Holocaust gibt als bei Nicht-Juden,
und das wollen wir natürlich auch fördern.
Um die Integration der russischen Zuwanderer bemühen
sich sowohl der Zentralrat als auch die Weltunion für progressive Juden. Nun
besteht zwischen der Bundesregierung und dem Zentralrat der Juden eine
Vereinbarung über staatliche Hilfen, durch die sich die liberalen jüdischen
Gemeinden ausgegrenzt sehen. Sie fordern, an den Finanzhilfen beteiligt zu
werden, und machen geltend, dass sie für die Ausbildung von Rabbinern, den
Aufbau der Gemeinden und insbesondere für die Integration von jüdischen
Einwanderern aus Russland eine Menge leisten. Welche Position nehmen Sie in
diesem Streit ein?
Sie kennen das Sprichwort, drei Juden, vier Meinungen.
Warum sollten wir als Zeitung diese vierte Meinung hinzufügen? Es ist
zunächst einmal eine Problematik, die die jüdische Gemeinschaft
untereinander diskutieren muss. In erster Linie werden wir als Zeitung
versuchen, die unterschiedlichen Meinungen der Beteiligten, also des
Zentralrats, der Union, der Chabat-Lubawitsch-Gemeinden und der säkularen
Vereine, darzustellen. Wir haben in unserer letzten Ausgabe ein sehr
ausführliches Interview mit Paul Spiegel, dem Vorsitzenden des Zentralrats
der Juden, gedruckt und planen für unsere Dezember-Ausgabe ein Gespräch mit
Ruth Cohen, der Präsidentin der Weltunion der progressiven Juden. Sich zum
gegenwärtigen Zeitpunkt, wo die gerichtliche Klärung in Deutschland noch
aussteht, in die Auseinandersetzung einzuschalten, wäre nicht produktiv.
Die Jüdische Zeitung erscheint in keinem klassischen
Verlagshaus, sondern in einer Holding, die ganz unterschiedliche Branchen
integriert. Die Werner Media Group gibt Zeitungen heraus und betreibt
zugleich einen Versandhandel mit Non-food-Produkten aus den GUS-Staaten. Was
planen Sie als nächstes?
Wir haben gerade unseren ersten Supermarkt mit russischen
Waren in Berlin eröffnet und planen eine Reihe weiterer Retro-Märkte in der
Hauptstadt. Die Retro-Kette bietet den Geschmack der Nostalgie, die
Erinnerung und wendet sich vor allem an die russischsprachige Bevölkerung.
Aber Kaviar und Wodka dürften auch für nicht-russische Kunden interessant
sein.
hagalil.com
15-10-2005 |