Irak:
Nur vor der Glotze vereint
Der Prozess gegen Saddam Hussein sollte
die Vergangenheit der Ba’ath-Diktatur aufarbeiten. Tatsächlich könnte er die
Spaltung zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden vorantreiben.
Von Thomas von der Osten-Sacken, Suleymaniah
Jungle World 43 v.
26.10.2005
Ginge es nach Mohammed Said Qader, könnte man sich den
Aufwand sparen. Wie Millionen andere Irakis verfolgt der alte kurdische
Widerstandskämpfer den ersten Tag des Prozesses gegen Saddam Hussein und
sieben Mitangeklagte vor dem Fernseher. Aufhängen solle man ihn, meint er,
am besten in Halabja, jener kurdischen Stadt, die die irakische Armee im
Jahr 1988 mit Giftgas bombardieren ließ. "Wenn er tot ist, hört auch der
Terror auf!" Ob das Verfahren fair sei oder nicht, interessiere hier
niemanden, meint der Alkoholhändler Tariq Amin. Man wolle einfach Saddams
Kopf.
Der Prozess solle möglichst lange dauern und allen internationalen Standards
entsprechen, findet hingegen die Jurastudentin Samira Hussein. Schließlich
gehe es vor allem darum, Saddams Verbrechen der Welt vorzuführen. "Wenn das
Verfahren fair ist, sehen die Menschen, dass der neue Irak keine Diktatur
ist." Für die Todesstrafe plädiert allerdings auch sie. "Erst wenn Saddam
unter der Erde liegt, können die Menschen hier Frieden finden."
Hatte man gerade im kurdischen Nordirak diesen Tag lange erwartet, stieß das
Thema der ersten Verhandlung jedoch auf Unverständnis. Denn das Gericht
begann mit einem vergleichsweise kleinen Fall, dem Massaker nämlich, das die
Ba’ath-Partei im Jahr 1982 in Dujail, einem kleinen Dorf nördlich von Bagdad
verübt hatte. Hier hatten viele erwartet, dass die Anklage mit der
"Anfal"-Kampagne beginnen würde, also der systematischen Zerstörung
kurdischer Dörfer in den achtziger Jahren, der mindestens 182 000 Menschen
zum Opfer fielen.
In Dujail hatten Sicherheitskräfte alle 148 männlichen Dorfbewohner
exekutiert, nachdem der Konvoi des Präsidenten bei der Durchfahrt beschossen
worden war. Ausgewählt hat das Gericht den Fall wohl vor allem, weil er
filmisch dokumentiert ist und die Beweislage eindeutig scheint. Weitere
Anklagepunkte sollen folgen: die Niederschlagung der Aufstände im Südirak
1991, der Überfall auf Kuwait, unzählige politische Morde, der Einsatz von
Giftgas gegen kurdische Zivilisten.
Mit Hilfe US-amerikanischer Experten und eines eigens hierfür eingerichteten
"Regime Crimes Liaison Office" wurden vor dem Verfahren über 40 Tonnen
Beweismaterial gesichtet, unzählige der inzwischen bekannten 270
Massengräber geöffnet und tausende Zeugen befragt. Denn das Verfahren soll
helfen, das ganze Ausmaß der ba’athistischen Verbrechen bekannt zu machen.
Nicht nur die US-amerikanische Regierung, sondern auch irakische Politiker
und Juristen hatten sich dabei gegen eine Internationalisierung des
Tribunals ausgesprochen und alle Vorschläge abgelehnt, Saddam Hussein vor
einem internationalen Gericht oder gar einem UN-Tribunal anzuklagen.
Denn die Vereinten Nationen genießen in Teilen des Irak einen denkbar
schlechten Ruf; Kofi Annan gilt dort weithin als Unterstützer Saddam
Husseins. "Die meisten seiner Opfer waren Iraker", sagt etwa der
Rechtsanwalt Sarwar Hassan. "Deshalb ist es unsere Pflicht und unser Recht,
Saddam und die ehemalige irakische Führung im Irak abzuurteilen. In Nürnberg
wurden die Nazis schließlich nur für die Verbrechen verurteilt, die sie
außerhalb Deutschlands begangen haben."
Als Hauptargument gegen ein nationales Tribunal führen
Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights
Watch an, dass im Irak die Todesstrafe gilt, die Saddam Hussein und andere
Führungsfiguren des Regimes ziemlich sicher erwarten dürfte. Zudem wird das
Fehlen einer Berufungsinstanz bemängelt. Von Saddams offenen Unterstützern
abgesehen, finden sich jedoch dieser Tage im Irak nur wenige, die diese
Sorgen teilen. Im Gegenteil, immer wieder hört man die Beschwerde, dass die
vornehmliche Sorge von UN und Menschenrechtsorganisationen dem Wohlbefinden
ehemaliger Diktatoren gelte.
Mit berechtigter Sorge dagegen betrachten manche irakische Intellektuelle
wie Kanan Makiya eine Entwicklung in ihrem Land, die auch angesichts des
Tribunals offensichtlich wird. Kaum noch gelingt es, die Differenzen
zwischen den verschiedenen Gruppen und Konfessionen zu überbrücken.
Daher befürchtet Makiya, das Tribunal könne einen Wettkampf zwischen
Schiiten und Kurden entfachen, in dem beide für sich reklamierten, am
meisten unter Saddam gelitten zuhaben. Erste Anzeichen dafür gibt es
bereits. Auf der anderen Seite fanden in Tikrit und anderen sunnitischen
Städten Demonstrationen für Saddam Hussein statt.
Die Sunniten, selbst eine äußerst heterogene Gruppe, sehen sich zunehmend
gemeinsam mit Saddam Hussein auf der Anklagebank. Tatsächlich aber stützte
sich Saddams Macht nur auf eine Minderheit unter den Sunniten, während sich
der ba’athistische Terror gegen jede oppositionelle Regung im Irak richtete.
Ein sunnitisches Apartheidsregime war die Herrschaft Saddam Husseins
keineswegs.
Auch das Referendum über die Verfassung, das am vorletzten Wochenende
durchgeführt wurde, war weniger eine Abstimmung über Vor- und Nachteile des
Entwurfs, sondern eher eine Art Volkszählung: Schiiten und Kurden dafür,
Sunniten dagegen.
Je mehr allerdings die verschiedenen Gruppen ethnisiert und
konfessionalisiert werden, umso einfacher fällt es selbstmandatierten
Führern, sie als Gefolgschaft um sich zu scharen. So droht in Vergessenheit
zu geraten, dass der Ba’athismus viele Anhänger im Süd- und im Nordirak
hatte. Unterdessen kann man sowohl innerhalb der schiitischen Parteien wie
im Nordirak beobachten, wie die Ideologie und die Herrschaftstechniken der
Ba’ath-Partei strukturell fortgeführt werden.
Eine Aufarbeitung von 24 Jahren faschistischer Diktatur, die zugleich das
Ziel einer grundlegenden Verwandlung der irakischen Gesellschaft verfolgt,
ist unter solchen Voraussetzungen kaum zu leisten. Dass es trotz allem die
Ba’ath-Partei war, deren brutale Unterdrückung auch zu dieser fatalen
Dreiteilung des Landes geführt hat, ist dabei eine besonders bittere Ironie.
Dabei würde eine solche Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen und
Funktionsweisen des ba’athistischen Staatsterrorismus nicht nur die künftige
irakische Gesellschaft maßgeblich beinflussen, sondern auch die Herrschaft
der übrigen Regimes in der Region in Frage stellen. Wie sehr man sich dort
vor einer solchen Entwicklung fürchtet, zeigt ein Blick in die dortige
halbstaatliche Presse.
In einer Region, in der Schnell- oder Shariagerichte willkürlich Angeklagte
verurteilen, empörten sich islamistische und panarabische Zeitungen über die
"Siegerjustiz", die, so etwa Abdulbari Atwan, der Herausgeber der in London
erscheinenden al-Quds al-Arabia, nur über die Verbrechen der Amerikaner in
Falluja und Abu Ghraib hinwegtäuschen solle.
Auch wenn die ethnische und konfessionelle Zersplitterung des Irak die
Freude über die jüngste Entwicklung trübt, sind sich irakische Kommentatoren
doch erstaunlich einig, dass mit dem Beginn des Tribunals die
Demokratisierung des Landes irreversibel voranschreite. Obwohl noch kein
amtliches Endergebnis festgestellt ist, scheint die Verfassung per
Referendum angenommen. Im Dezember dürften dann Neuwahlen stattfinden.
"Saddam Hussein ist nun Geschichte", sagt Fathil Amin, der in einem
Kaffeehaus in Suleymaniah mit seinen Freunden den Prozess verfolgt. "Und
eines Tages werden wir auch Zarqawi und seine ganze Bande vor ein Gericht
stellen und aburteilen. Alle sollen ein freies und faires Verfahren haben,
und nichts mehr soll an die Zeit erinnern, als Saddam uns regierte."
hagalil.com 27-10-2005 |