Gaza:
Streit im Streifen
Nach dem israelischen Abzug begann
in Gaza der Machtkampf zwischen der Autonomiebehörde und der Hamas. Noch
bemühen sich beide, einen Bürgerkrieg zu vermeiden.
Von Michael Borgstede, Gaza
Jungle World 41 v.
12.10.2005
Willst du da wirklich rein?" fragt der israelische Soldat
am Grenzübergang Erez ungläubig. "Das ist kein guter Zeitpunkt. Bei denen
herrscht Chaos, die bringen sich jetzt schon gegenseitig um." Er wirft noch
einen Blick auf Pass und Presseausweis. Dann gibt er sich geschlagen: "Ich
kann dich nicht aufhalten. Aber weißt du, was das heißt: Lech le Asa?" Die
scheinbar harmlose hebräische Aufforderung "Geh doch nach Gaza!" hat in
Israel längst nur noch eine Bedeutung: "Fahr zur Hölle!" Lachend wünscht der
Soldat schließlich "viel Spaß und ein gutes neues Jahr". An diesem Abend
nämlich beginnt das jüdische Neujahrsfest Rosh Hashana. Und während die
Israelis sich kochend und putzend auf das Fest vorbereiten, überstürzen sich
in Gaza die Ereignisse.
Schon kurz nach dem israelischen Abzug aus dem Gaza-Streifen kam es dort zu
gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und bewaffneten
Hamas-Aktivisten. Dadurch zunehmend unter Druck geraten, kündigte
Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas schließlich an, die bewaffneten
Konflikte auf Gazas Straßen zu beenden.
Doch so einfach ist das eben nicht. Als kurz darauf eine Polizeistreife ein
Auto mit vier Hamas-Aktivisten anhält und ihnen die Waffen abnehmen will,
eröffnen die jungen Männer das Feuer. Die Unruhen weiten sich aus, wenig
später wird bei einer Demonstration gegen die steigenden Benzinpreise in
einem benachbarten Flüchtlingslager ein Polizist erschossen. Polizeiautos
gehen in Flammen auf. Das Polizeihauptquartier in Scheikh Redwan wird gar
mit Granaten beschossen. Insgesamt kommen drei Menschen ums Leben, über 20
werden verletzt. Jetzt kann es keine Zweifel mehr daran geben, dass die
Hamas nicht dazu bereit ist, freiwillig ihre Waffen niederzulegen.
Unter dem Eindruck dieser Entwicklung treffen sich am nächsten Morgen die
Abgeordneten des palästinensischen Legislativrates. Wie üblich kommen sie
gleich an zwei Orten zusammen, in Ramallah und in Gaza-Stadt. Eine
unkomplizierte und verlässliche Reisemöglichkeit zwischen dem Westjordanland
und Gaza gibt es auch für Parlamentarier nicht, sie kommunizieren per
Videokonferenz.
Man diskutiert bereits angeregt, wie dem Chaos in Gaza ein Ende gemacht
werden könnte, als mehrere Dutzend bewaffnete Männer das Gebäude stürmen. Es
sind, entgegen ersten Befürchtungen, keine Angehörigen der Hamas, sondern
Mitglieder der palästinensischen Sicherheitskräfte, die gegen die
unzureichenden Maßnahmen zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung
protestieren wollen.
Der Sturmangriff auf das Parlamentsgebäude mag eine drastische Aktion sein,
sie wird in ihrer Radikalität aber der aufgeheizten Stimmung in Gaza
gerecht. Radikal sind auch einige der diskutierten Vorschläge: Soll man
gleich alle Sicherheitschefs samt ihren Stellvertretern ersetzen? Muss
vielleicht auch Mohammed Dahlan, ein Vertrauter von Abbas, seinen Stuhl
räumen?
Es wird viel gestritten, nur in der Diagnose stimmen fast alle überein. "Wir
befinden uns am Rand eines Bürgerkriegs, falls die Situation weiterhin
unkontrollierbar bleibt", fürchtet Kadura Fares, ein reformorientierter
Abgeordneter der Fatah-Partei. Unter den wachsamen Augen der aufgebrachten
Polizisten wälzen die Abgeordneten die Verantwortung schließlich auf die
Regierung ab. Mit 43 zu fünf Stimmen fordern sie Ministerpräsident Ahmed
Qurei zur Bildung einer neuen Regierung auf. Sollte er dem Wunsch des Rates
nicht nachkommen, werde man die Regierung einfach per Misstrauensvotum
stürzen.
Auf der Straße nehmen die Ereignisse auch ohne Rücksicht auf fromme
Absichtserklärungen ihren Lauf. Bei der Beerdigung des von der Hamas
erschossenen Polizisten Ali Makawi kommt es erneut zu Schusswechseln
zwischen den Islamisten und der Polizei. Schnell verbreitet sich das
Gerücht, es seien außerdem Schüsse auf das Haus des Hamas-Führers Mahmoud
al-Zahar abgegeben worden.
"Das müssen die Polizisten oder Leute von der Fatah gewesen sein", meint ein
Obstverkäufer am Straßenrand. "Die wollen sich jetzt auf eigene Faust
rächen." Könnte es nicht auch sein, dass die Palästinenserbehörde den Befehl
gegeben hat, al-Zahar einzuschüchtern? Der Obstverkäufer glaubt das nicht.
"Abbas traue ich das eigentlich nicht zu. Außerdem: Wer befolgt hier schon
Befehle?" Bei der Frage, wen er denn bei den Parlamentswahlen im Januar
wählen werde, zögert er. "Vor zwei Wochen hätte ich gesagt: die Hamas
natürlich. Sie haben die Israelis vertrieben und unser Land befreit." Doch
seit dem 23. September sehe er das anders, mehr wolle er dazu nicht sagen.
An jenem Freitag kamen bei einer Explosion während einer
"Siegesdemonstration" der Hamas im Flüchtlingslager Jabaliya 20 Personen ums
Leben, darunter viele Kinder. Sofort bezichtigte die Hamas Israel eines
Raketenangriffs, doch Ali Fayayda, der dabei war, sieht das anders. "Ich
stand daneben", sagt er. "Ich habe gesehen, was passiert ist, und es gab
keinen Luftangriff." Auf einmal sei der Lastwagen mit den Raketen
explodiert. "Alle haben geschrien, niemand wusste, was los war. Ich habe
sofort nach Salame gesucht, aber er blieb verschwunden." Der Gedanke an
seinen toten Sohn treibt Ali die Tränen in die Augen. "Er wollte doch nur
die Befreiung unseres Landes feiern, und jetzt ist er tot." Dann verschärft
sich sein Ton, seine Trauer schlägt in Wut um: "Die Hamas, das sind
Feiglinge. Sie hätten ihren Fehler zugeben müssen, stattdessen lügen sie uns
an. Jetzt wollen sie Salame zu einem Märtyrer machen. Dabei haben sie ihn
selbst getötet."
Der Unfall in Jabaliya war nicht der einzige Fehler der sonst so
berechnenden und gut organisierten Gruppe. Kurz vor der Ermordung des
entführten Israelis Sasson Nuriel veröffentlichte sie ein Videoband des
Opfers und stellte sich so auch in den Augen der palästinensischen
Öffentlichkeit auf eine Stufe mit Terrororganisationen wie al-Qaida.
Vielleicht hatte es damit zu tun, dass die Hamas bei den Kommunalwahlen in
104 Ortschaften in der vergangenen Woche schlechter abschnitt als erwartet.
Während die Fatah von Präsident Abbas 54 Prozent der Stimmen auf sich
vereinen konnte, musste sich die Hamas mit nur 26 Prozent begnügen.
Ob das Ergebnis bereits Vermutungen über den Ausgang der Parlamentswahl im
Januar zulässt, ist allerdings schwer zu sagen. Familiäre Bande und
Clanzugehörigkeiten spielen gerade bei Kommunalwahlen oftmals eine größere
Rolle als die Parteizugehörigkeit der Kandidaten. Ohnehin ist noch unklar,
ob Israel eine Parlamentswahl mit Beteiligung der Hamas zulassen wird.
Abbas’ ursprünglicher Plan, die Islamisten in die Politik einzubinden,
könnte schon daran scheitern.
Und auch in der Hamas wird über die zukünftige Politik gestritten,
wenngleich davon wenig nach außen dringt. Angehörige der Inlandsführung um
Mahmoud al-Zahar geben sich gemäßigt und scheinen der politischen
Integration nicht gänzlich abgeneigt. Sie wollen die Angriffe auf Israel aus
dem Gaza-Streifen vorerst einstellen; nach dem angeblichen israelischen
Angriff in Jabaliya wurden Dutzende Kassam-Raketen abgefeuert. Hingegen
beharrt die Auslandsführung in Damaskus auf einer kompromisslosen Linie. Im
Exil, weit weg von den Realitäten und Stimmungen im Gaza-Streifen, lässt es
sich leicht auf die "reine Lehre" pochen und mit Bürgerkrieg drohen. Noch
sind alle Parteien in Gaza bemüht, eine solche Eskalation zu vermeiden –
noch.
hagalil.com
16-10-2005 |