
Linker Antisemitismus:
"Wir haben das nicht ernst genommen"
1969 verübte eine linksmilitante
Gruppe einen Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in Berlin. Eine
Einzeltat? Oder gab es bei den 68ern "linken Antisemitismus"? Und
warum wird alles so schleppend aufgearbeitet? Ein Gespräch mit
Tilman Fichter, Bruder des Attentäters und damals SDS-Kader.
Interview Philipp Gessler und Stefan Reinecke
taz: Herr Fichter, Sie haben Ihrem
Bruder Albert, der 1969 eine Bombe ins Jüdische Gemeindezentrum in
Berlin gelegt hatte, seinerzeit zur Flucht verholfen …
Tilman Fichter:
… ja, zweimal, weil er nicht begriffen hatte, dass er verfolgt
wurde.
Warum haben Sie ihm geholfen?
Weil er in einer Wohngemeinschaft mit Dieter
Kunzelmann lebte und ich Kunzelmann für einen schwierigen und
unerfreulichen Zeitgenossen hielt, der keinen positiven Einfluss auf
meinen Bruder hatte.
Was meinen Sie mit "schwieriger und
unerfreulicher Zeitgenosse"?
Wir hatten Kunzelmann 1967 aus dem SDS
herausgeschmissen samt seiner Kommune I, weil er auf Flugblättern
immer die Gegenposition zum SDS formuliert hatte - mit der
Begründung: Sie seien Antiautoritäre und würden sich an keine
Beschlüsse halten, obwohl es Beschlüsse von Vollversammlungen, also
relativ demokratische Beschlüsse waren. Das hing auch mit seinen
Aktionen zusammen. Er hat beispielsweise auf dem Kurfürstendamm
Pappmaché-Figuren von Walter Ulbricht und dem US-Vizepräsident
Hubert Humphrey verbrannt. Das hat kein Mensch verstanden. Das war
wirr. Aber er empfand sich ja in erster Linie als Künstler, nicht
als politischer Mensch.
Wo lebte Kunzelmann 1969?
In einer getarnten Wohnung der Tupamaros
West-Berlin, die aber jeder in der Szene kannte. Es war die Zeit, in
der sich die außerparlamentarische Opposition aufspaltete: Christian
Semler gründete die KPD/AO, Joscha Schmierer, der unter Rot-Grün in
der Planungsabteilung des Auswärtigen Amts gearbeitet hat, gründete
den KBW, den Kommunistischen Bund Westdeutschlands, in Heidelberg.
Die Trotzkisten gründeten ihre Kleinstparteien.
Warum fanden Sie es für Ihren Bruder
gefährlich, mit Kunzelmann in einer WG zu wohnen?
Es stellte sich ja schnell heraus, dass Kunzelmann
ein Antisemit ist.
Wann stellte sich das für Sie heraus?
Im November 1969 mit seinem ersten offenen Brief,
den wir in unserer linksradikalen Zeitschrift 883
dokumentiert haben, den "Brief aus Amman". Damals habe ich diesen
Brief noch schöngeredet und gesagt, das sei linker Antisemitismus.
Wenn ich mir das heute anschaue, dann muss ich sagen: Er ist ein
Antisemit. Der zentrale Begriff war bei Kunzelmann: "Kampf" - nicht
etwa "Emanzipation". Er schrieb: "Palästina ist für die BRD das, was
für die Amis Vietnam ist. Die Linken haben das noch nicht begriffen.
Warum? Der Judenknax." Er argumentiert also: Weil sich die Linke mit
den Ursachen von Auschwitz auseinander setzt, begreift sie nicht,
dass der wirkliche Feind in Israel sitzt und man sich mit den
Palästinensern solidarisieren muss. Das war ein völliger Bruch in
der sehr komplizierten Debatte der westdeutschen Linken, die
einerseits die israelische Politik kritisierten, andererseits sich
aber immer darüber im Klaren waren, dass die Situation in Palästina
nach 1937/38 davon geprägt war, dass die Zionisten hunderttausende
europäischer Juden versucht haben aufzunehmen. Da gab es weder weiß
noch schwarz. Diese differenzierte Analyse hat Kunzelmann immer
abgelehnt. Damit hat er mit der analytischen Tradition des SDS
gebrochen und versucht, Teile der westdeutschen Linken in einen
Partisanenkampf gegen die Juden in Deutschland zu führen.
Ihr Bruder Albert Fichter berichtet,
Kunzelmann habe die ganze Zeit von den "Scheißjuden" geredet - auch
ihnen gegenüber?
Mir gegenüber nicht.
Daniel Cohn-Bendit soll er mit den
Worten angegriffen haben: "Du bist nichts anderes als ein kleines
Judenschwein."
Das kann ich mir vorstellen. Ich weiß nur, dass
Kunzelmanns Texte von damals, wenn man sie heute analysiert, nicht
linker Antisemitismus sind, sondern Antisemitismus.
Warum haben das damals offenbar nur
wenige Linke verstanden?
Die Leute waren teilweise sprachlos! Die waren
überhaupt nicht darauf vorbereitet. Das wäre so, als würde heute
eine Gruppe von jungen Männern in der taz aufstehen und behaupten:
Die Unterdrückung der Frauen ist fortschrittlich. Da würdet ihr
Wochen brauchen, um zu begreifen, was da bei euch in der Redaktion
vorgeht - und so war es bei uns auch. Wir haben das am Anfang gar
nicht geglaubt, was der da erzählt hat. Dass ich als einer der
Ersten gesagt habe, das ist linker Antisemitismus, damit habe ich
mir keine Freunde gemacht.
Wie war 1969 die Reaktion der
linksradikalen Szene auf den versuchten Anschlag auf das Jüdische
Gemeindezentrum? Kunzelmann hat, wie Wolfgang Kraushaar zutreffend
zeigt, mit dieser Tat versucht, seine Meinungsführerschaft bei den
Militanten
zurückzuerobern …
… ja, und damit ist er völlig gescheitert. In
Kunzelmanns Tagebuch, das jetzt das Reemtsma-Institut hat, steht -
darüber wird er sich ärgern, weil es wegen seiner eigenen Eitelkeit
dorthin gelangte - drin: Er sei tief verzweifelt, weil die deutsche
Linke nicht bereit sei, seine Kampagne zusammen mit der PLO gegen
die Juden zu unterstützen. Kunzelmann hat nie unterschieden zwischen
den Juden in der Diaspora und dem Staat Israel. Damit war er auch
bei den Linksradikalen völlig isoliert.
Die Tatsache, dass man Juden in
Deutschland als Israelis behandelte, und auch das Datum, der 9.
November lassen doch keinen Zweifel, dass es sich um eine eindeutig
antisemitische Tat handelte. Die linksradikale Szene ist Kunzelmann
keineswegs gefolgt - aber sie hat diesen kristallklaren
Antisemitismus kaum erkannt. Warum nicht?
Es ist ganz erstaunlich: Damals ist diese
Bombenattrappe nicht besonders ernst genommen worden. Meiner
Erinnerung nach war ich einer der ganz wenigen, der mit einem
Artikel "Was ist Antisemitismus?" in der 883 darauf
reagiert hat. Es war lange Zeit kein Thema in der Linken. Ich sage
es mal ein wenig zynisch: Die Freunde der DDR im
Extra-Dienst haben wie immer gesagt: Es waren die Rechten. Das
war deren Patenterklärung für alles, was irgendwie ein bisschen
komplizierter war. Und in dieser Angelegenheit hat offensichtlich
die antiautoritäre Linke sich mit dieser Argumentation zufrieden
gegeben.
Und warum das Datum, der 9. November,
der Jahrestag des Pogroms von 1938?
Mein Bruder schreibt ja in seiner "Beichte" im
Kraushaar-Buch, dass er damals gar nicht wusste, was der 9. November
historisch bedeutete. Er war wohl so unter LSD-Einfluss - da hat er
das gar nicht zur Kenntnis genommen. In dieser Kommune ist nicht
analytisch und historisch reflektiert miteinander geredet worden,
sondern der Kampf war der Lebensinhalt. Wenn man das heute liest,
denkt man, dass es ja schon einmal, in den 30er-Jahren, eine
Bewegung in Deutschland gab, für die der Kampf auch das Zentrum des
Denkens war.
Die Bombe kam vom Berliner
Verfassungsschutz. Wussten Sie das damals?
Ja, mir war klar, dass die Bombe aus dem Bestand
des Verfassungsschutzagenten Peter Urbach stammte. Kunzelmann hat
sich ausstatten lassen mit defekten Bomben aus den Beständen des
Verfassungsschutzes. Außerdem handelte es sich um eine
Bombenattrappe.
War die Bombe im Jüdischen
Gemeindezentrum eine Attrappe? Es war doch eher eine Bombe, die
nicht explodiert ist?
Das nenne ich eine Attrappe: Sie konnte nicht
explodieren.
Aber nur wegen technischen Versagens.
Alle Bomben von Urbach hatten diesen technischen
Defekt. Es waren Bomben, die nicht explodieren konnten. Eine
Attrappe ist ja auch später im Eisschrank von Kunzelmann gefunden
worden. Der Verfassungsschutz hat unverantwortlicher Weise versucht,
diese Dinger in die Studentenbewegung hineinzuschmuggeln. Aber
immerhin waren die Führungsoffiziere von Urbach sich darüber im
Klaren, dass sie keine scharfen Bomben einschleusen wollten - anders
als ein paar Monate später, als über Peter Urbach die erste
Generation der RAF mit scharfen Waffen ausgestattet wurde.
Ist das nachgewiesen?
Ja. Aber bis heute ist nicht aufgedeckt, wer
hinter dem Versuch stand, die Studentenbewegung zu bewaffnen. Peter
Urbach lebt ja heute in den USA, abgeschirmt und unter falschem
Namen. Der könnte es zumindest partiell aufklären. Aber der Versuch
ist nie gemacht worden.
Uns ist trotzdem noch unklar: Warum
hat die Linke damals das Skandalöse dieser Tat nicht begriffen?
Wir waren damals in einer zweifachen
Herausforderung: einerseits der Abwehrkampf gegen den US-Krieg in
Vietnam. Es gab fast tagtäglich Demonstrationen - das kann man sich
heute kaum vorstellen. Es war eine ständige Mobilisierung.
Andererseits hatte sich die Außerparlamentarische Opposition gerade
gespalten. Ich bin in der Fehleinschätzung, dass man diese Neue
Linke noch zusammenhalten kann, in die Redaktion von
883 eingetreten. Das war völlig idealistisch - und diesen
Versuch habe ich im Frühjahr 1970 abgebrochen, als ich merkte, dass
ich da zum nützlichen Idioten dieser Stadt-Tupamaros wurde. Der
Mann, dem informell 883 gehörte, war Dirk
Schneider, der später als Einflussagent der Stasi im
Grünen-Parteivorstand enttarnt wurde.
Die ständige Mobilisierung war also
ein Grund für die Nichtwahrnehmung dieses antisemitischen Anschlags.
Aber warum dauerte es noch fast Jahrzehnte, bis das in der Linken
diskutiert wurde?
Es war tabu.
Was war tabu?
Dass es so etwas wie Antisemitismus in der Linken
gibt. Die Linke, weil sie Opfer war, weil sie zusammen mit den Juden
in den KZ gelitten hat, hat es nie für möglich gehalten, dass in
ihren Reihen dieses Problem auch existiert. Ich wurde damals sehr
kritisiert, auch von Genossinnen und Genossen, die ich noch heute
sehr schätze. Die sagten: "Tilman, du musst das nicht so in den
Vordergrund stellen. Wir müssen sehen, dass wir das unter uns
ausmachen." Dass ich damit an die Öffentlichkeit, an die linke
Öffentlichkeit gegangen bin, hatte zur Folge, dass gesagt wurde, ich
sei ein Grenzgänger, ich würde die innerlinke Solidarität brechen
und ein Fass aufmachen, das wir unter uns klären müssen. Es ist nur
nie geklärt worden. Das war das Problem.
Aber warum hat der SDS, der vor 1967
proisraelisch, ja teilweise philosemitisch war, mit so viel
Ausblendung auf diese antisemitische Verirrung reagiert?
Nein, die Frage unterstellt etwas Falsches. Der
SDS hatte immer sehr gute Kontakte zu linkszionistischen Gruppen,
schon lange vor 1969. Der SDS fühlte sich als Unterstützergruppe für
die Linkszionisten in Israel, die gegen die israelische
Besatzungspolitik seit 1967 waren. Bei einem wichtigen SDS-Kongress
1967 haben Heidelberger Genossen eine Resolution vorgelegt, dass der
SDS alle Kontakte nach Israel abbricht. Ich war dabei! Da hat Rudi
Dutschke interveniert und gedroht, wenn das abgestimmt werde, wenn
die Maoisten da eine Mehrheit mobilisieren, dann würden die Berliner
ausziehen. Er sollte nicht zur Abstimmung kommen. Rudi war da ganz
eindeutig. Er war mit linkszionistischen Kreisen befreundet und
hatte keine antisemitischen Positionen. Dieser Antrag ist nicht
abgestimmt worden. Die Sache wurde vertagt. Dann kam der Anschlag
auf Rudi. Danach fehlte uns der reflektierteste Freund der
israelischen Linken. Solange der SDS noch funktionierte, hat er
verhindert, dass die westdeutsche Linke auf einen klar
antiisraelischen Kurs gegangen ist.
Einige dieser SDS-nahen Akteure von
damals - Günther Maschke, Reinhold Oberlercher, Horst Mahler und
Bernd Rabehl - sind heute mehr oder weniger manifest Antisemiten.
Oder völkisch zumindest.
Liegt, wenn man sich diese Biografien
anschaut, nicht der Befund nahe, dass es in der Bewegung einen lange
verleugneten antisemitischen Unterstrom gab?
Ob das bei Mahler und den anderen schon immer
angelegt war, weiß ich nicht, dafür kannte ich sie zu wenig. Es sind
fünf Leute von etwa 3.000, dem harten Kern des SDS. Es ist
erschreckend, dass es Biografien wie die von Mahler in der Neuen
Linken überhaupt gibt. Aber wir reden hier über eine winzig kleine
Minderheit in der damaligen Studentenbewegung, das muss man im Auge
behalten.
Hat der SDS damals Fehler gemacht?
Die Frage ist berechtigt. Ich würde sagen, es war
ein Fehler, dass Rudi 1967 nicht darauf gedrungen hat, die
Besatzungspolitik der Israelis und den wachsenden Antisemitismus in
Teilen der Studentenschaft auf der Delegiertenkonferenz inhaltlich
zu diskutieren. Stattdessen haben wir das Problem mit taktischen
Winkelzügen von der Tagesordnung weggedrückt. Wir haben dieses Thema
eines heimlichen Antisemitismus in der deutschen Linken überhaupt
nicht ernst genommen. Darin liegt ein Versagen.
Die 68er-Bewegung ist unter anderem
entstanden, weil man das Schweigen in den Familien über die Taten
der Väter ablehnte. Dann passiert 1969 eine antisemitische Tat aus
den eigenen Reihen, oder genauer: von den Rändern der zerfallenden
Bewegung - und man ist offenbar so beschäftigt mit der Revolution
oder Vietnam, dass man diese Tat übersieht?
Ja.
Der Selbstwiderspruch bleibt. Wir
müssen uns von der Idee trennen, dass die zweite Generation nach dem
Holocaust, die Kinder der Täter, einfach das Erbe ihrer Eltern mit
einer Distanzierungsgeste hätten abschütteln können. Es gab ein
unbewusstes Delegationsverhältnis zwischen Eltern und Kindern - der
ewige Vergleich Israels mit den Nazis war ja vielleicht auch ein
unbewusster Versuch, die Schuld der Eltern zu relativieren …
Vielleicht war das bei manchen so.
Manche Sozialpsychologen lesen sogar
die Straßenschlachten 1968 als Versuch der Kinder, die
Gewalterfahrung der Eltern nachzuinszenieren? Ist da was dran?
Ich finde, diese Spekulationen führen nicht
weiter. Damit kehrt man die Fakten um. Meine Erfahrung war: Die
deutsche Gesellschaft war nach 1945 voller Gewalt. Die Gewalt ging
nicht von uns aus. Die SDS-Studenten, die zum Beispiel im Januar
1952 in Freiburg gegen die neuen Filme Veit Harlans, der im
Nationalsozialismus den Hetzfilm "Jud Süß" gemacht hatte,
demonstrierten, sind übel zusammengeschlagen worden. Ein weiteres
Beispiel: Am 2. Juni 1967 gingen wir noch mit Schlips und Kragen als
ordentliche Studenten zur Anti-Schah-Demo, wo wir von der Polizei
gejagt wurden. Es ist ein Wunder, dass es da nicht drei oder vier
Tote gab und nur einer von uns, Benno Ohnesorg, erschossen wurde. Da
war Gewalt in der Gesellschaft. Die war in der Berliner Polizei und
Bevölkerung. Das war damals noch geradezu eine Hassgesellschaft. Als
wir gegen die US-Vietnam-Politik demonstrierten, hatten wir 80
Prozent der Bevölkerung gegen uns. Das können Sie sich gar nicht
mehr vorstellen! Das war ein Spießrutenlauf für uns Studenten.
Haben Sie angesichts dieser Gewalt
damals, wie viele, damit geliebäugelt, in den Untergrund zu gehen?
Nein. Ich war etwa zehn Jahre älter, hatte Abitur
auf dem zweiten Bildungsweg gemacht, war schon zur See gefahren.
Mein Lebensmotto war: Rebellion ist gerechtfertigt, aber wir werden
verlieren. Man kann in einer Minderheitenposition nicht die
Aufklärung gegen eine Mehrheit durchsetzen. Das war das Thema meines
ständigen freundschaftlichen Streitgesprächs mit Rudi Dutschke. Denn
darüber konnte ich eigentlich nur mit ihm reden. Rudi hat meine
Position verstanden, aber hielt sie für falsch. Die Mehrheit der
Gesellschaft wollte Mitte der 60er-Jahre nicht über das Tabu des
Völkermordes nachdenken. Allerdings hat die Studentenbewegung
kulturell viel mehr Erfolg gehabt, als ich es damals für möglich
gehalten habe.
Sie selber wollten also nie in den
Untergrund?
Nein, ich habe immer gegen die
Selbst-Illegalisierung angeschrieben - ebenso gegen die RAF und die
Mordthese nach dem Tod ihrer ersten Generation in
Stuttgart-Stammheim. Der Selbstreflexionsprozess in der Linken hat
lange auf sich warten lassen. Die deutschen Linke war lange so mit
dem Rücken an der Wand, dass sie nicht über sich selbst nachdenken
konnte.
Das gilt auch für das Verhältnis der
Linken zu Kunzelmann. Eigentlich hätte nach 1969 ja klar sein
müssen, dass er ein Antisemit war. Trotzdem war er in den 80ern
Abgeordneter für die Alternative Liste (AL) im Berliner
Landesparlament. Warum glaubte die AL, dass sie mit Kunzelmannn
Wahlen gewinnen kann?
Weil die AL das Thema nicht ernst genommen hat.
Als ich 1984 erneut über Linke und Antisemitismus zu diskutieren
versuchte, ist es folgenlos geblieben. Jetzt versucht es Kraushaar
wieder - und ich fürchte, es wird wieder folgenlos bleiben. Ich habe
Kunzelmann mit anderen aus dem SDS ausgeschlossen. Aber ich muss
gestehen, ich habe ihn nie wirklich ernst genommen. Ich habe ihn
wirklich immer für einen gefährlichen Clown gehalten. Und das ist
bei vielen Linken noch heute so. Man sollte deshalb in der Linken
endlich aufhören, das Problem schönzureden. Man sollte
Antisemitismus Antisemitismus nennen. Aber ich glaube nicht, dass es
uns gelingen wird, dies zu einem zentralen Thema des
Selbsterkenntnisprozesses zu machen.
Warum war Kunzelmann so populär?
Ich glaube eigentlich nicht, dass er so populär
war. Ich fand ihn schmuddelig. Er war ja körperlich ein Wrack wegen
der vielen Drogen. Erst im Gefängnis hat er sich wieder etwas
gefangen. Und ich gebe den Ball zurück: Die Presse fand ihn immer
interessant und hat ihr Spiel mit ihm getrieben. Er war für die
Presse viel attraktiver als der ernsthaft diskutierende SDS.
Kunzelmann sagte: "Ich reibe euch jetzt Scheiße ins Gesicht." Es
waren derbe Späße, etwa in der Tradition von Luther. Aber er war
eben auch derbe antisemitisch. Er hat immer die Bild-Zeitung
gelesen und geschimpft, die Linke begreife gar nicht, dass sie die
beste Zeitung sei: "Die schreiben immer positiv über mich." Das war
das Einzige, was ihn interessierte. Wir dagegen haben die
Bild-Zeitung als Gefahr erlebt. Als Hetzblatt.
Haben Sie Ihren Bruder wegen seiner
Tat eigentlich zur Rede gestellt?
Als mein Bruder mir 2001 zu Weihnachten gestanden
hat, dass er die Bombe ins Gemeindezentrum hineingetragen hat, hatte
ich ein langes Kampfgespräch mit ihm.
Ihr Bruder erinnert sich aber, dass
Sie schon in den 80er-Jahren wussten, dass er der Bombenleger war …
Ja, aber das ist falsch. Das war erst 2001 kurz
nach dem Tod unserer Mutter. Er erklärte mir auch, warum er es mir
erst dann erzählte. Er wollte nämlich auf keinen Fall, dass dies
unsere Mutter erfährt. Meine Mutter war im NS-Staat immer sehr
engagiert gegen die Nazis gewesen. Sie zählte sich zu den Freunden
des Staates Israels. Da hatte mein Bruder ein gewisses Schamgefühl.
Ich habe ihm gesagt: "Abi, das ist nicht antizionistisch, das ist
antisemitisch, was du da gemacht hast." Er gab zu, dass es zwar eine
völlig falsche, aber wohl doch eher eine antizionistische Aktion
gewesen sei. Ich habe ihm erklärt: "Wenn du gegen die Juden in der
Diaspora eine Aktion machst, um sie in Haft zu nehmen für die
Besatzungspolitik des Staates Israel, dann machst du genau das, was
die Neonazis auch tun, nämlich die Juden in der Diaspora
gleichzusetzen mit den Israelis." Es hat lange gebraucht, bis er das
akzeptiert hat. Wir waren drei Tage später bei einem gemeinsamen
Freund aus der Jugendbewegung, den er seit 30 Jahren nicht mehr
gesehen hatte. Dem stellte er die Frage, ob er auch glaube, dass
seine Aktion damals antisemitisch sei - und dieser alte Freund hat
nur geantwortet: "Natürlich ist das antisemitisch." Heute hat mein
Bruder begriffen, dass es antisemitisch war, das hat bei ihm eine
Weile gedauert.
Was meinen Sie mit Jugendbewegung?
Es waren die nicht religiös gebundenen Pfadfinder.
Dies gehört übrigens auch zu den historisch noch nicht
aufgearbeiteten Themen von 1968. Es gab damals sehr viele Mitglieder
des Berliner SDS, die aus der bündischen Jugend oder der
Pfadfinderei kamen. Darüber wurde aber nie geredet.
Sie haben Ihrem Bruder 1969 geholfen,
nach Schweden zu fliehen. Hätten Sie das auch getan, wenn Sie damals
gewusst hätten, dass er die nicht funktionstüchtige Bombe am 9.
November gelegt hat?
Nein, wenn ich gewusst hätte, dass er eine
Bombenattrappe ins Jüdische Gemeindehaus gelegt hat, hätte ich ihm
nicht geholfen. Dann hätte ich ihn auf der Straße stehen lassen. Er
hätte dann sehen müssen, wie er überlebt. Das habe ich ihm auch
später gesagt. Ich hätte ihm nicht der Polizei übergeben, das macht
man mit dem Bruder nicht. Aber ich hätte ihm nicht geholfen. Das
wäre eine bittere Sache für ihn geworden - und für mich auch.
Welches Verhältnis haben Sie heute zu
Ihrem Bruder? Fühlen Sie sich von ihm hintergangen?
Nein, es ist völlig entspannt. Wenn ich ehrlich
bin, bin ich froh, dass ich das so lange nicht gewusst habe. So
konnte ich ihm helfen. Schließlich ist er mein Bruder.
Und warum schreibt Ihr Bruder, dass
Sie schon seit den 80er-Jahren von seiner Tat wussten?
Ich habe auch gedacht, ich hätte es vorher gewusst
- aber wir haben noch einmal lange darüber nachgedacht und kamen zu
dem Ergebnis: Ich habe es nicht gewusst. Ich wusste nur, dass er bei
den Tupamaros West-Berlin war. Und er war ja fälschlicherweise auch
auf einem der ersten RAF-Fahndungsplakate. Und erst vor wenigen
Wochen hat er mir etwas anderes erzählt: Die Bombe, die nicht
explodieren konnte, was eingehüllt in einen Mantel von Tommy
Weisbecker - und der kam aus einer jüdischen Familie. Sein Vater war
- so weit ich weiß - als Kommunist und Jude im KZ Buchenwald
gewesen. Und der Kunzelmann, der Drecksack, sollte endlich erklären,
wie er auf die Idee gekommen ist, die Bombe in den Mantel von
Weisbecker einzuwickeln. Tommys Vater war Zahnarzt. Tommy hat den
Tresor seines Vaters auf Anweisung der Tupamaros aufgebrochen, um
daraus Zahngold zu klauen. Das ist alles ziemlich furchtbar. Denn
schließlich hatten die Nazis ihren jüdischen Opfern das Zahngold aus
den Kiefern herausgebrochen. Was hat der Kunzelmann für eine Psyche?
Schon 1984 hätte er einen Prozess gegen mich anstrengen können. Aber
er tut es nicht. Er weiß genau, warum er es nicht tut.
Abdruck mit freundlicher
Genehmigung der taz - die tageszeitung
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30-10-2005 |