"Regierungsumbildung":
Chaos in den palästinensischen Gebieten
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
Nicht einmal die Parlamentssitzung,
gleichzeitig in Ramallah und in Gaza abgehalten und per Video-Konferenz
übertragen, konnte unter gesitteten Umständen stattfinden. Die Abgeordneten
machten ihren Präsidenten Mahmoud Abbas verantwortlich für das Chaos in den
Straßen der Autonomiegebiete. Fast wie gerufen unterstrichen Polizisten mit
ihren Waffen in die Luft schießend den völligen Mangel an Recht und Ordnung.
Deren Kamerad war am Abend zuvor bei einer 45 Minuten andauernden Schlacht
mit Hamasleuten ums Leben gekommen. Die Polizisten drangen in das
Parlamentsgebäude ein. Die Debatte musste unterbrochen werden, bis die
bewaffneten Männer den Plenarsaal wieder verlassen hatten.
Mit großer Mehrheit, 43 zu 5 Stimmen, wurde Abbas zu einer
"Regierungsumbildung" innerhalb von zwei Wochen aufgefordert. Ursprünglich
sollte der amtierende Ministerpräsident Ahmed Qureia durch ein
Misstrauensvotum gestürzt werden. Doch dafür fand sich keine Mehrheit. Abbas
kann entweder Qureia oder einen anderen Regierungschef ernennen, oder aber
einige Minister austauschen und so dem Parlament eine "neue Regierung"
vorsetzen.
Letztlich ist dieser offene Protest des Parlaments nur noch von geringer
Relevanz, denn Ende Januar stehen ohnehin nach fast zehn Jahren Neuwahlen
an. Allein wegen dieser langen Amtszeit des bestehenden Parlaments, weil
einige Abgeordnete gestorben sind, andere im israelischen Gefängnis sitzen
und sich ohnehin die Kräfteverhältnisse in der palästinensischen
Gesellschaft verschoben haben, ist ein Auswechseln der meisten Abgeordneten
zu erwarten. In der Folge wird es dann auch eine neue Regierung geben.
Mit großer Spannung wird abgewartet, ob sich tatsächlich gegen den Willen
der Amerikaner, Israel und sogar Europäer die Hamas an diesen Parteien
beteiligt und welchen Stimmenanteil sie dann erlangt. "Es geht nicht an,
dass eine Terrororganisation, die in Europa auf den entsprechenden Listen
steht, sich an parlamentarischen Wahlen beteiligt", sagte
Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) in Jerusalem.
Bei Kommunalwahlen im Westjordanland "siegte" zwar die regierende
Fatahpartei des Präsidenten Abbas mit 57 Prozent der abgegebenen stimmen.
Die Hamas "verlor" also die Wahl, doch die israelische Zeitung Haaretz
gelangte in einer Wahlanalyse zu einem etwas anderen Ergebnis. Die Fatah
habe zwar die Mehrheit in 64 von 104 Gemeinden gewonnen, aber die Hamas habe
ausgerechnet in den großen Ortschaften gesiegt und die Fatah in den kleinen
Dörfern. Auch wenn sich die Fatah behaupten konnte, so habe laut Haaretz die
Hamas "gewaltig zugelegt". Ohne sich zuvor an Wahlen beteiligt zu haben,
wurde sie zur zweitstärksten Kraft und wirft zudem der Fatah vor, sich mit
Wahlbetrug gehalten zu haben.
Wie sich Fatah oder Hamas bei den Parlamentswahlen schlagen werden, ist
nicht vorherzusehen. Eine palästinensische Untersuchungskommission hat
einwandfrei festgestellt, dass die 19 Toten und rund hundert Verletzten bei
einer Hamas-Parade vor einer Woche durch Selbstverschulden und nicht durch
israelische Einwirkung verursacht wurden. Deshalb hat die Hamas viel von
ihrer Popularität eingebüßt. Zu Unrecht habe die Hamas "Rache" an Israel
wegen ihres eigenen Fehlers mit einem "Regen" von 40 Raketen auf Sderot
verübt und eine massive israelische Reaktion provoziert. Andererseits gilt
die Fatah als verknöchert und korrupt. Niemand traut ihr noch wirklich zu,
Recht und Ordnung wieder herstellen zu können.
© Ulrich W. Sahm / haGalil.com
hagalil.com
05-10-2005 |