
Gesucht:
40 Millionen für ein Kulturerbe
Der Jüdische Friedhof in
Berlin-Weißensee, der größte in Europa, verfällt. Die Jüdische
Gemeinde will ihn retten.
Von Philipp Gessler
Überall Verfall - aber wie schön anzuschauen! Der
jüdische Friedhof Weißensee in Berlin verrottet zusehends. Die Natur
holt sich immer schneller die größte jüdische Begräbnisstätte
Europas, 42 Hektar mit etwa 115.000 Grabstellen, zurück: Grabsteine
haben sich geneigt. Prunkgräber zerbröseln, Inschriften sind kaum
noch zu entziffern. Und über alles legt sich ein dicker Efeuteppich,
wächst dichter Wald.
Doch die Jüdische Gemeinde zu Berlin, die größte
Deutschlands, will den Verfall stoppen. Nachdem ihr Vorsitzender
Albert Meyer schon vor wenigen Wochen in der taz eine Initiative
ankündigt hat, den Friedhof zum Weltkulturerbe erklären zu lassen,
gibt es jetzt erstmals öffentliche Unterstützung für das Projekt von
staatlichen Stellen: Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus
Wowereit (SPD), schrieb Meyer, auch er messe dem Friedhof "nationale
Bedeutung" zu: "Daher werde ich Sie bei Ihrem Bemühen, die
Bundesregierung zu bewegen, sich für dieses Denkmal zu engagieren
und hierfür auch Verantwortung zu übernehmen, gerne unterstützen",
heißt es in dem Schreiben. Wowereit sichert Meyer Hilfe dabei zu,
den Friedhof auf die Unesco-Liste des Weltkulturerbes setzen zu
lassen.
Der Jüdische Friedhof Weißensee ist, wie es Meyer
sagt, "der Friedhof einer untergegangenen Kultur". Das meist stark
assimilierte deutsche Judentum, das der nationalsozialistische
Völkermord fast gänzlich zerstörte, hatte hier eines seiner
zentralen Begräbnisorte. Für die etwa 175.000 Jüdinnen und Juden,
die vor 1933 in der deutschen Hauptstadt lebten, war der Friedhof in
Weißensee der wichtigste Bestattungsort für Familienangehörige.
Einige bekannte Personen der Kaiserzeit und Weimarer Republik fanden
hier ihre letzte Ruhestätte, darunter der Maler Lesser Ury, der
Delikatessenhändler Berthold Kempinsky, der Verleger Samuel Fischer
und der Kaufhausgründer Hermann Tietz. Zuletzt rückte der Friedhof
bei der Beerdigung des Schriftstellers Stefan Heym in die
öffentliche Aufmerksamkeit.
Da viele Angehörige der Toten selbst im Holocaust
starben, ja ganze Familien ausgelöscht wurden, ist die Jüdische
Gemeinde zu Berlin überfordert damit, anstelle dieser Familien die
Gräberpflege zu übernehmen. Laut Meyer werden allein die Kosten für
die Rekonstruktion der aufwändigen und kunstgeschichtlich
bedeutenden Erbbegräbnisse auf etwa 20 Millionen Euro geschätzt.
Hinzu komme eine ebenso große Summe für den Erhalt der
Infrastruktur, etwa für Wege und Regenwasserkanäle.
Nur wer kann das bezahlen? Der von der Jüdischen
Gemeinde geschätzte Sanierungsbedarf von bis zu 40 Millionen Euro
könne keinesfalls vom Land Berlin allein getragen werden, hat
Berlins Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) schon
vorab betont. Außerdem, so die Senatorin, habe das Land schon jetzt
einiges in den Erhalt des Friedhofs investiert: Von 1992 bis 2004
seien 2 Millionen Euro privater und öffentlicher Gelder für
Reparaturen und Restaurierungsarbeiten auf dem Friedhof ausgegeben
worden.
Und es gibt ein zusätzliches Problem: Über die
Eintragung in die Liste des Weltkulturerbes entscheidet auf Antrag
des betreffenden Staates die für Kultur und Denkmalschutz zuständige
UN-Sonderorganisation. Deren Auswahl aber ist streng und dauert des
Öfteren mehr als ein Jahrzehnt. So lange kann der Friedhof nicht
warten: "Es ist fünf vor zwölf", sagt Meyer. "Hier kann etwas
zerstört werden, was nicht wiederherzustellen ist."
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01-09-2005 |