Türkei:
Abgebogen in die Mitte
Nach dem Militärputsch von 1980
entwickelte sich die extreme Rechte in der Türkei zu jener mehrheitsfähigen
Fraktion, die heute die Regierung stellt.
Von Tanil Bora
Jungle World 37 v.
14.09.2005
Der Militärputsch vom 12. September 1980 hat die türkische
Gesellschaft so gründlich verändert wie kaum ein anderes Ereignis seit der
Gründung der Republik. Die politische Landschaft ist seither gekennzeichnet
von einer "neuen Rechten", die die neoliberale Marktideologie mit
nationalistisch-konservativen Elementen verbindet. Gleichwohl fügt sich
diese Entwicklung in der Türkei ein in den seit den achtziger Jahren
anhaltenden globalen Trend.
Zwischen 1983 und 1991 stand Turgut Özals Mutterlandspartei (Anap) für diese
Politik. Nicht nur zahlreiche Funktionäre seiner Partei entstammten
ursprünglich dem religiösen Konservatismus und dem völkischen Nationalismus.
Auch in ideologischer Hinsicht übernahm die Anap Anteile beider Strömungen,
die in einer gemäßigten Form in eine neoliberal-utilitaristische
"Macher"-Ideologie integriert wurden.
Auch in der keynesianischen Ära war die türkische rechte Mitte eher im
wirtschaftlichen Sinne liberal, einem politischen Liberalismus hingegen
fühlte sie sich nicht verpflichtet. Ihre Beziehungen zur extremen Rechten,
dem islamistischen und faschistischen Spektrum, basierten auf einem nicht
ausschließenden und gemäßigten Diskurs. Über Jahrzehnte hinweg war der
Antikommunismus der gemeinsame Nenner der gesamten Rechten. Özal nutzte das
Klima nach dem Putsch, als die zerschlagene radikale Linke keine Bedrohung
mehr darstellte, um einen Konsens darüber zu etablieren, was der
Marktideologie entsprechend als "Sachzwang" oder als realistisch akzeptiert
wurde. So konnte eine Hegemonie der "neuen Rechten", aber auch der rechten
Ideologie im Allgemeinen geschaffen werden. Der Stimmenanteil linker
Parteien, der in den siebziger Jahren bei über 40 Prozent lag, sank nach und
nach auf unter 20 Prozent.
Die politische Atmosphäre der achtziger Jahre eignete sich vorzüglich für
Özals Strategie. Die Herrschaft des Militärs und die rasche
Durchkapitalisierung der Gesellschaft brachten eine drastische
Entpolitisierung mit sich. Mit der gleichzeitigen Medialisierung der Politik
traten die PR und die politische Werbung an die Stelle der Ideologie und der
Basisarbeit. Doch die auf den Export orientierte Wirtschaft geriet mit der
nachlassenden Konjunktur in eine strukturelle Krise, die dem Land im Jahr
2001 eine schwere Finanzkrise bescherte. Gleichzeitig wandelte sich das
Kurdenproblem zu einer "militärischen Auseinandersetzung niedriger
Intensität". Somit nahm in den neunziger Jahren die Konsensfähigkeit
erheblich ab: Seit 1991 hat keine Partei zwei Wahlen hintereinander
gewonnen. Die jeweiligen Regierungen verdankten ihre Macht immer der
Ablehnung ihrer Vorgänger. Neue, medienkompatible Wahlalternativen hatten
schnell Erfolg. So konnte bei den letzten Wahlen im Jahr 2002 die gerade
einmal zwei Monate zuvor gegründete Partei des Medien- und
Telekommunikationsunternehmers Cem Uzan mit einer
populistisch-nationalistischen Werbekampagne sieben Prozent der Stimmen für
sich verbuchen.
In der instabilen Phase nach 1991 bildeten die Anap sowie die Partei des
Rechten Weges (DYP) die rechte Mitte. Die DYP stand in der direkten
Nachfolge der vormaligen Gerechtigkeitspartei und stellte anfangs sowohl
eine demokratische Herausforderung des Militärregimes als auch eine
wirtschaftlich-populistische Konkurrenz zur Anap dar. Doch nachdem sie 1991
die Regierung übernommen und bald darauf ihren Vorsitzenden Süleyman Demirel
auf den Posten des Staatspräsidenten gehievt hatte, konnte sie kein eigenes
Profil mehr entwickeln, außer dass sie im Vergleich zur Anap näher an der
ländlichen Bevölkerung war.
Während die Anap und die DYP immer profilloser wurden, nutzten die extrem
Rechten die durchlässiger werdenden Grenzen zwischen der politischen Mitte
und dem politischen Rand. Sowohl die Islamisten als auch der völkische
Nationalismus schwankten zu Beginn der neunziger Jahre zwischen zwei
Möglichkeiten: der Anpassung an die Hegemonie der "neuen Rechten" und dem
Hang zum Radikalismus. Einerseits mussten auch sie sich um ein salonfähiges
und medienkonformes Auftreten bemühen, andererseits mussten sie sich durch
ein radikaleres Programm deutlich von den anderen Parteien abgrenzen, um
ihre Anhängerschaft nicht zu verlieren. Die in Folge der
Durchkapitalisierung wachsende allgemeine Unzufriedenheit sowie Fragen der
ethnisch-kulturellen und religiösen Identität boten günstige Bedingungen für
einen radikalen Diskurs. Der extremen Rechten gelang es, mehrheitsfähig zu
werden.
Die nationalistisch-faschistoide MHP trennte sich in den neunziger Jahren
von dem Flügel, der auf den Putsch mit einer Überbetonung der islamischen
Komponente reagiert hatte, und verschrieb sich einer Art Liberalisierung.
Sie legte ihre Vorbehalte gegen das Militärregime beiseite und entschied
sich dazu, sich als äußerst staatstreue Kraft der kurdischen Bewegung
entgegenzustellen. Allerdings verzichtete sie in der brenzligen Phase
darauf, eine Auseinandersetzung mit Zivilisten zu provozieren, was
ausreichte, um von den Medien als demokratisch gefeiert zu werden. Dank der
nationalistischen Stimmung erfuhr sie einen steten Aufschwung und erreichte
18 Prozent bei den Wahlen von 1999 – doppelt so viel, als sie zuvor hatte.
Obwohl sie in der Folge der Regierung beitrat, erwies sie sich als unfähig
zur Zusammenarbeit mit anderen. Zudem empörten ihre gekünstelten Bemühungen,
"moderat" und "salonfähig" zu erscheinen, ihre Basis und machten sie in den
Augen der Öffentlichkeit lächerlich. Bei den Wahlen 2002 verfehlte sie wie
ihre Koalitionspartner den Einzug ins Parlament.
Die Abwahl der MHP bedeutete allerdings keineswegs ein Verschwinden des
Nationalismus. Im Gegenteil, als Reaktionen auf die demokratisierenden
Reformen und die Zugeständnisse im Zuge der Anpassung an die EU entwickelte
sich ein neuer Nationalismus, der weit über die MHP hinausreicht.
Splittergruppen betreiben einen auf Rassenideologie gründenden
Nationalismus, geostrategische Verschwörungstheorien erfreuen sich einer
erstaunlichen Beliebtheit, antikurdische Ressentiments sind vielleicht sogar
verbreiteter als in den neunziger Jahren. Als vor einigen Monaten von
Demonstranten aus dem Umfeld der PKK eine türkische Fahne verbrannt wurde,
kam es zu einer landesweiten Kampagne. Türkische Fahnen wurden massenhaft
aus den Fenstern gehängt, fast wöchentlich kommt es zu Übergriffen. Diese
Entwicklung steht im direkten Zusammenhang damit, dass es nicht gelang, die
militärische Niederlage und die Waffenstillstandserklärung der PKK in einen
beständigen gesellschaftlichen Frieden zu transformieren.
Der islamische Flügel der türkischen Rechten schwankte noch stärker und über
einen längeren Zeitraum zwischen einer Integration in die "neue Rechte" und
einer Radikalisierung. Die regierende Partei für Gerechtigkeit und
Entwicklung (AKP) ist das Produkt dieses Prozesses.
Die Vorgängerin der AKP, die Wohlfahrtspartei (RP), pflegte Ende der
achtziger, Anfang der neunziger Jahre einen deutlich islamistischeren
Diskurs. Seine demagogische Phraseologie ließ den Parteiführer Necmettin
Erbakan zwar als einen Vertreter der konservativen Rechten erscheinen,
konnte aber auch als Hinweis auf radikalere Inhalte wahrgenommen werden, und
so wurde er von seinen Anhängern auch verstanden. Die Mitwirkung in den
kommunalen Regierungen in allen größeren Städten nach dem Wahlsieg von 1994
trug erheblich zur Zähmung und Professionalisierung der Parteikader bei.
Während die Wohlfahrtspartei zwischen 1970 und 1990 das mittlere und das
Kleinkapital in der Provinz repräsentiert hatte, wurde sie in den Neunzigern
zusätzlich zur politischen Vertreterin des neuen islamischen Großkapitals,
des so genannten grünen Kapitals.
Als die RP im Jahr 1995 zur größten Partei der Türkei aufstieg, hatte sie
eigentlich die erforderliche Reife als Partei der Mitte erreicht. Dennoch
wurde die von ihr geführte Koalition am 28. Februar 1997 nach einem
verdeckten Putsch, zu dem die Armee die zivile Opposition "ermutigt" hatte,
abgesetzt. Ein Grund für das Abservieren der Wohlfahrtspartei war, dass die
neu aufsteigende Elite, die sie repräsentierte, eine Konkurrenz zur
traditionellen Staatselite mitsamt dem alteingesessenen Bürgertum
darstellte. Ein anderer Grund war die Unbeholfenheit der Führungsriege um
Erbakan, die ihrem Anspruch, diese neue Elite zu repräsentieren, nicht mehr
nachkam und auch nicht in der Lage war, die radikaleren und erzkonservativen
Elemente in den eigenen Reihen zu kontrollieren und in der Öffentlichkeit
ein gemäßigtes Bild abzugeben.
Die AKP lernte daraus. Bereits als "reife" Partei gegründete, kann sie seit
den Wahlen von 2002 allein regieren. Das in der Bevölkerung vorhandene
Gefühl der ungerechten Behandlung, die der Wohlfahrtspartei widerfahren war,
konnte sie geschickt für sich nutzen. Und ihren Vorsitzenden Recep Tayyip
Erdogan umgab die Aura eines Märtyrers, weil er wegen eines Gedichts über
Minarette und Bajonette, das er auf einer Kundgebung rezitiert hatte, zu
einer kurzen Haftstrafe verurteilt worden war.
Die AKP definiert sich selbst als konservativ-demokratisch und kann mit
ihrer pragmatischen "Macher-Ideologie" als die neue Anap angesehen werden.
Persönlichkeiten aus der traditionellen Elite der rechten Mitte haben unter
den Kadern und insbesondere im Kabinett ein nicht zu übersehendes Gewicht.
Da die Regierung unter dem Diktat des Internationalen Währungsfonds so gut
wie keine wirtschaftlichen Möglichkeiten hat, konzentrierte die AKP ihr
ganzes Engagement auf den Beitritt zur EU – und das, obwohl die islamische
Polittradition, der sie entstammt, als "reaktionär" und "antiwestlich" gilt.
Außerdem sollten die an die EU-Integration gebundenen demokratischen
Reformen die nicht gewählten Regierungspartner, also die Armee,
zurückdrängen.
Diese Politik konnte sich aus verschiedenen Gründen nicht durchsetzen. Vor
allem hat die AKP ihre Strategie wegen ihrer
instrumentalistisch-utilitaristischen Haltung nicht konsequent und
entschieden verfolgt. Zum Beispiel hat sie sich in der Lösung des
Zypern-Konflikts den Verzögerungsmanövern der Staatselite ergeben. Sie hat
bei dem Versuch, nationalistische Reaktionen zu beschwichtigen und eine
Einigung mit dem Establishment zu erreichen, ihre Handlungsfähigkeit
verloren. Ein weiteres Problem der AKP ist, dass sie es nicht geschafft hat,
durch politische Entscheidungen den Lebensstil ihrer konservativen
Anhängerschaft zu legitimieren. Die Aufrechterhaltung des Kopftuchverbotes
im "öffentlichen Bereich" ist dafür das beste Beispiel.
Tanil Bora ist Buchautor, Lektor des Iletisim-Verlags und
Mitherausgeber der gesellschafts- und kulturkritischen Monatszeitschrift
Birikim.
hagalil.com 16-09-2005 |