Nach Angriffen auf Sderot:
Erster Schlagabtausch seit dem Gazarückzug
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
"Wer nicht getroffen werden will, sollte sich von der
Hamas und ihren Kasam-Raketen fernhalten." So erklärte ein Militärreporter
die Beschlüsse des israelischen Sicherheitskabinetts vom Sonntag Abend.
"Gaza wird beben", prophezeite Verteidigungsminister Schaul Mofas, nachdem
Ministerpräsident Ariel Scharon erstmals grünes Licht für den Einsatz von
Artillerie gegeben hat. "Ich kann mir lebhaft vorstellen, dass wir mit
Kanonen schießen", sagte Minister Jitzhak Herzog von der linken
Arbeitspartei: "Wir haben uns hinter die internationale Grenze
zurückgezogen, sodass die Hamas keinen Grund mehr hat, das Leben in Sderot
mit Kasam-Raketen zur Hölle zu machen."
Am Samstag demonstrierte die Hamas im Flüchtlingslager
Dschabalije im palästinensischen Gazastreifen mit Kalaschnikows und
Panzerfäusten. Gemäß einem Versprechen an Präsident Mahmoud Abbas sollten
bewaffnete Gruppen ab Sonntag öffentlich keine Waffen mehr zu tragen. Für
die vermummten Männer mit den grünen Stirnbändern war es eine letzte Chance,
ihre Fähigkeit zu roher Gewalt zu demonstrieren, mit der sie den Gazasteifen
schon zu Lebzeiten Arafats in ein Chaos gestürzt hatten. Israel, die
Amerikaner und die EU forderten jüngst in New York, diesem Spuk ein Ende zu
setzen. Aber Abbas will die Gruppen nicht entwaffnen aus Furcht vor einem
Bürgerkrieg. Abbas setzt auf Verhandlungen. Die Gespräche hatten schon vor
zwei Jahren in Kairo begonnen. Mehrfache Waffenstillstands-Ankündigungen der
Hamas hatten nie bestand. Bestenfalls gab es kurze Feuerpausen.
Bei der Großdemonstration am Samstag explodierte plötzlich
ein Lastwagen. Es folgte ein Feuerwerk. Neunzehn Palästinenser, darunter
namhafte Führer der Hamas starben. 80 wurden verletzt. Hamassprecher machten
Israel für das "Attentat" verantwortlich. Israel dementierte ungewöhnlich
schnell und energisch. "Israel zu beschuldigen ist eine Chuzpe", hieß es in
Jerusalem. Erstmals beschuldigte die palästinensische Autonomiebehörde in
Ramallah die Hamas: "Das war Schlamperei. Die haben einen Lastwagen mit
scharfen Kasam-Raketen bei ihrer Parade durch Menschenmassen gefahren."
Die Demonstration in Dschabalija war auch Teil des
Wahlkampfes der Hamas. Sie will am 27. Januar die Fatah-Partei von Mahmoud
Abbas schlagen und im neuen palästinensischen Parlament eine Mehrheit
erlangen. Allein deshalb konnte sie ihren tödlichen Fehler nicht
eingestehen. Noch in der Nacht "regnete" es auf die grenznahe israelische
Stadt Sderot dreißig Kassamraketen herab. Fünf Israelis wurden verletzt. Die
Bevölkerung flüchtete in die Luftschutzbunker. Von verlassenen Siedlungen
aus wurden Kassamraketen auch in Richtung des Kraftwerks von Aschkelon
abgeschossen. Dank dem Rückzug können die hausgemachten Raketen mit der
geringen Reichweite jetzt strategische Ziele im Kernland Israels treffen.
Israel hatte nach dem Rückzug "harte Schläge" angedroht,
falls der Beschuss erneuert werden sollte. Es gab Zwischenfälle, die
stillschweigend übergangen wurden oder verbale Reaktion provozierten. Doch
jetzt, wo in Sderot die Menschen unter der Erde ausharren müssen und die
Kinder nicht zur Schule gehen können, war offenbar das Maß des Erträglichen
überschritten. Die palästinensischen Gebiete wurden hermetisch abgesperrt,
"sogar für humanitäre Fälle". Soldaten verhafteten zweihundert Extremisten
im Westjordanland. Die israelische Luftwaffe nahm wieder ihre "gezielten
Tötungen" auf und traf vier Hamaskämpfer. Waffenlager der El Aksa Brigaden
und eine Raketenfabrik der Hamas wurden in Schutt und Asche gelegt. Truppen
wurden für einen erneuten Einmarsch zusammengezogen. Vor Allem aber wurde
bei Kibbuz Nachal Oz demonstrativ Artillerie in Stellung gebracht. Die
Wirkung ihrer schweren Granaten dürfte verheerender sein, als alles, was die
Palästinenser bisher aus dem israelischen Waffenarsenal kennen gelernt
haben. Von wenigen Ausnahmen abgesehen hat Israel bisher zielgenaue Raketen
eingesetzt, um nur jene zu treffen, die getötet werden sollten, während die
Bevölkerung verschont bleiben sollte. Jetzt dreht Israel den Spieß um: die
Palästinenser sollten sich von Raketenstellungen und Waffenfabriken der
Hamas fernhalten, um sich zu schützen.
Der erste Schlagabtausch seit dem Rückzug aus dem Gazastreifen kann in
Israel innenpolitische Folgen haben. Ariel Scharons muss sich heute (Montag)
seiner Likudpartei stellen. Sein Widersacher Benjamin Netanjahu scharrt die
Rückzugsgegner um sich und beschuldigt Scharon, durch den Rückzug aus Gaza
ein "Hamastan" zurückgelassen zu haben. Am Wochenende bewahrheiteten sich
die Prophezeiungen der Schwarzseher, während Scharon bei seiner Rechtspartei
zusätzlich in Argumentationsnot geraten ist. Heute Abend könnte sich die
politische Zukunft Scharons oder der Likudpartei entscheiden, falls seine
Partei ihn stürzt oder sich spaltet.
© Ulrich W. Sahm / haGalil.com
hagalil.com 25-09-2005 |