Sozialistische Ideen:
Jüdisch, so rot wie
radicalVon Joel Saxe (Massachusetts, USA)
Jüdische Korrespondenz 9/2005
In den frühen 20er Jahren führten die sozialistischen
Ideen in der jüdischen Kultur nicht nur in den USA zu den einflussreichen
Massenbewegungen für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit. Auf Straßen,
an Ecken und in Fabriken prangerten radikale jüdische Einwanderer mutig das
an, was sie als systemimmanente Ursachen der ökonomischen und rassistischen
Ungerechtigkeiten erkannt hatten.
Die Zeitung Jewish Daily Forward schmückte damals ihren
Titel mit dem Marx-Zitat "Proletarier aller Länder, vereinigt euch" (Workers
of the World Unite). Bis zum Beginn vom Kalten Krieg hatten sozialistische
Überzeugungen im jüdischen Leben der USA eine prominente Stellung inne.
Obgleich die moralisch-ethisch-politische Sensibilität zum symbolischen Erbe
einer großen Zahl amerikanischer Juden gehört, ist sie in der gegenwärtigen
politischen Landschaft fast ausgelöscht.
Die meisten jungen Juden (ganz zu schweigen von ihren
nichtjüdischen Altersgenossen) wissen wenig bis nichts von diesen wichtigen
Traditionen der Moderne, die auf die "Radicals", wie die "Roten" oder Linken
in den USA gemeinhin genannt werden, zurückgehen. Den jungen Juden werden
als "jüdische Tradition" allein Religion, Zionismus und Holocaust angeboten.
Während der Begriff soziale Gerechtigkeit noch über etwas Anziehungskraft
verfügt, wurde das jüdische politische Erbe an den Rand gedrängt.
Die Aktivisten jener Bewegungen hatten jedoch eine ganze
Skala politischer Perspektiven ausgebreitet – sozialdemokratische,
zionistische in der Arbeiterbewegung, Bundisten, Kommunisten, Jiddischisten,
Anarchisten – oft mit prinzipiell einander ausschließenden, strikt
getrennten Positionen bis hin zu bittersten Konflikten. Sie alle hatten
Schlüsselpositionen in der fortschrittlichen Bewegung, ihr Trade Unionismus
stabilisierte die Gewerkschaften. Nach dem 2. Weltkrieg war ein Drittel der
amerikanischen Arbeiterschaft organisiert.
Streikende jüdische Arbeiterinnen und
Arbeiter. New York. Nach 1900.
Die Radicals kämpften für soziale Sicherheit,
Arbeitslosengeld und eine allgemeine Krankenversicherung. Schon in den 30er
Jahren, also lange vor der Bürgerrechtsbewegung, kämpften sie für
Rassengleichheit. Ihr Slogan: "Schwarz und weiß – vereinigt euch!". Sie
haben ihr Leben den Grundsatzfragen gewidmet, sich gegen politische
Ungerechtigkeit gestellt und unterstützt, was als kollektive Aktionen
soziale Gerechtigkeit bringen sollte.
Es ist unverantwortlich, dieses Erbe aus der Erinnerung zu
drängen. Aus diesem Grund entstand das Jewish Radicals Collective Memory
Project. Zu dessen Zielen gehört u.a. die Vision, mit progressiven jüdischen
Netzwerken durch Dialog, Erziehung und Einflussnahme regionale kollektive
Erinnerungswerkstätten einzurichten. So sollen generationsübergreifende
Projekte im Sinne von oral history Ältere und Jüngere in den USA verbinden,
damit Erinnerungen der eingewanderten Radikalen und ihrer Kinder
aufgezeichnet werden. Es geht um die mediale Präsenz der linken jüdischen
Bewegungen, dazu gehören Ausstellungen, Videofilme, Publikationen und eine
Website. Unerlässlich ist dazu die Archivierung aller Bild- und
Tonaufzeichnungen.
Die Notwendigkeit für all das besteht ab sofort! Die
meisten der in Europa geborenen und von dort eingewanderten jüdischen Linken
sind schon gestorben. Ihre Kinder sind jetzt die Ältesten, und wie die in
den USA geborenen "Roten" kennen auch sie die Geschichten und
Lebensentwürfe, die es zu bewahren gilt. Wie bei den Holocaustüberlebenden
und Veteranen des Weltkriegs gilt es, das Gedächtnis noch lebender
"Radikaler" und ihrer Kinder zu dokumentieren. Bald wird es kaum oder keinen
direkten Bezug der jüngeren Generationen zu dieser Vergangenheit geben, das
würde bedeuten, die Geschichte wird bestenfalls eine Fußnote der
Wissenschaft sein.
Aus diesem Grund nutzt unser Projekt die
unterschiedlichsten Formen des generationsübergreifenden Dialogs, damit
nachgeborene Generationen Kenntnis von diesem Teil ihrer jüdischen
Geschichte erhalten. Wir wollen so den Beitrag dieser frühen Einwanderer am
Traum eines gerechteren und solidarischen Amerikas sichtbar machen.
Übersetzt aus dem Englischen
PS: Auch in Berlin leben jüdische "rote" Aktivisten
vergangener Zeiten, ohne, dass das jüdische und sonstige Interesse an dem,
was sie zu berichten hätten, groß wäre. Es bliebe unverzeihlich, wenn unser
linkes jüdisches Erbe solange verschwiegen wird, bis niemand mehr weiß, wie,
wo und vor allem, und was gekämpft worden ist. Der Jüdische Kulturverein
hatte sich diesem Thema seit Anbeginn gestellt, doch leider zu wenig
dokumentieren können. Als Joel Saxe, unterstützt von der deutschen Botschaft
in Washington und betreut durch die Heinrich-Boell-Stiftung zu uns kam,
brauchte es nur wenige Worte. Es war uns sofort klar, dass wir füreinander
gemacht sind. Vielleicht führt sein Besuch dazu, dass bald ein Berliner
Zweigprojekt entsteht? Wer direkten Kontakt zu ihm sucht:
JSaxe@comm.umass.edu
I.R.
hagalil.com 06-09-2005 |