Simon Wiesenthal wollte verhindern, dass
der Holocaust vergessen wird: "Der einzige Wert meiner Arbeit ist
es, die Mörder von morgen zu warnen"
Von Philipp Gessler
Jetzt wird er sie also treffen, die sechs Millionen Opfer des
Holocaust, wenn es so kommt, wie er es für sich prophezeit hat.
Simon Wiesenthal, der Wiener "Nazi-Jäger", wie er genannt wurde, hat
einmal einen Einblick darin gegeben, was ihn in seiner Arbeit
antreibe - und er hat dies, gut jüdisch, mit einer Anekdote in
galizischem Singsang erzählt.
Nach Krieg und Holocaust, nach dem Überleben von zwölf
Konzentrationslagern verbrachte Wiesenthal einen Schabbat im Haus
eines früheren Mithäftlings, der ein wohlhabender Juwelier geworden
war. "Simon", sagte der, "wenn du weiter Häuser konstruiert hättest,
wärst du jetzt Millionär. Warum hast du das nicht gemacht?" "Wenn
wir in die andere Welt kommen", antwortete Wiesenthal, "und die
Millionen Juden treffen, die in den Lagern starben, werden sie uns
fragen: 'Was habt ihr gemacht?' Du wirst sagen: 'Ich wurde ein
Juwelier.' Ein anderer: 'Ich habe Kaffee und amerikanische
Zigaretten geschmuggelt.' Ein dritter: 'Ich habe Häuser gebaut.' Ich
aber werde sagen: 'Ich habe euch nicht vergessen.'"
Damit ist der Kern des Lebens von Simon Wiesenthal beschrieben.
Vorgestern starb er in seiner Wohnung in Wien, in der er bis zum
Schluss in alten Akten zu Nazi-Verbrechen recherchiert hatte. Dass
er überhaupt 96 Jahre alte wurde und dass er "friedlich entschlief",
wie der Leiter des Simon-Wiesenthal-Zentrums, Rabbiner Marvin Hier,
mitteilte, ist ein Wunder. Denn dem Tod und dem Kampf war Wiesenthal
zeit seines Lebens sehr nahe.
Das begann schon in seiner Kindheit im galizischen Buczacz nahe
Lwiw (Lemberg), wo er am Silvestertag des Jahres 1908 geboren wurde.
Heute in der Ukraine gelegen, war es damals Teil der
K.-u.-k.-Monarchie. Simon Wiesenthals Vater, ein wohlhabender
Kaufmann, diente in der sterreich-ungarischer Armee dem Kaiser und
fiel, als sein Sohn acht Jahre alt war. Die Mutter heiratete erneut,
und Wiesenthals Leben wäre wohl anders weiter verlaufen - wenn er
nicht schon früh auf den Hass gestoßen wäre, dem er als Jude
ausgesetzt war: Am Polytechnischen Institut in Lwiw wurde er wegen
seines jüdischen Glaubens nicht aufgenommen. Er studierte in Prag
und arbeitete danach in einem Architekturbüro in Lwiw. Es waren
wenige glückliche Jahre mit seiner Frau Cyla Müller, ehe in Folge
des Hitler-Stalin-Paktes die Rote Armee Lwiw okkupierte. Wiesenthals
Stiefvater starb in einem Gefängnis des sowjetischen Geheimdienstes
NKWD, sein Stiefbruder wurde erschossen.
Doch die wahre Leidenszeit im Leben des Simon Wiesenthal sollte
da erst beginnen: Nach der deutschen Invasion Ostpolens 1941 musste
er als Zwangsarbeiter schuften. Er floh aus einem
Zwangsarbeiterlager, wurde wieder geschnappt, half dem polnischen
Widerstand mit Plänen von Eisenbahnlinien, verhalf seiner blonden
Frau zu "Arier"-Papieren - und überlebte schließlich eine Höllentour
durch mehrere Konzentrationslager, ehe er am 5. Mai 1945 von
US-Soldaten in Mauthausen befreit wurde. Da wog er noch rund 40
Kilo. Immerhin hatte seine Frau, mit der er fast 70 Jahre
verheiratet war, mit falscher Identität als Zwangsarbeiterin im
Rheinland überlebt. Doch aus ihrer und seiner Familie waren 89
Menschen im Holocaust ermordet worden.
"Als der Holocaust 1945 beendet war", erklärte Rabbiner Hier
gestern in einem Nachruf für Wiesenthal, "ging die ganze Welt nach
Hause, um zu vergessen, er allein blieb, um zu erinnern." Das ist
natürlich übertrieben - aber ein Kern Wahrheit liegt darin. Denn aus
unterschiedlichen Gründen wollten weder die Täter noch die
Mitläufer, noch die Zuschauer, ja nicht einmal die meisten
Überlebenden in den ersten Jahren nach dem Holocaust an diese
Katastrophe erinnern. Anders Wiesenthal. Schon 1947 eröffnete er mit
anderen Überlebenden ein Büro in Linz, um belastendes Material gegen
die Nazitäter zu sammeln. Im Zuge des Kalten Krieges aber wurde die
Arbeit immer schwieriger, sodass viele Mitstreiter bald aufgaben.
Das Büro musste 1954 schließen. Wiesenthal blieb dran.
Alle Dossiers gingen an die Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem in
Jerusalem - Wiesenthal behielt nur die Akte Adolf Eichmann. Den
führenden Organisator der "Endlösung" konnte der israelische
Geheimdienst 1960, auch mit Wiesenthals Hilfe, in Buenos Aires
fassen. Dies war, neben der Überführung des Polizisten, der Anne
Frank verhaftet hatte, der spektakulärste Erfolg Wiesenthals. Über
1.100 Nazitäter vor Gericht gebracht zu haben, schrieb er sich zu.
Dabei war Wiesenthal, der später in Wien ein Drei-Zimmer-Büro
eröffnete, nicht der erbarmungslose Rächer, den manche in ihm sahen.
"Recht, nicht Rache", verkündete er stets, sei seine Maxime. Als dem
einstigen Wehrmachtsoffizier und österreichischen Bundespräsidenten
Kurt Waldheim Ende der 80er-Jahre Kriegsverbrechen vorgehalten
wurden, trat Wiesenthal, anders als viele andere, dafür ein, erst
eine Historikerkommission die Vorwürfe prüfen zu lassen. Wiesenthal
sah seine Tätigkeit immer mehr als Einsatz für die Zukunft an: "Der
einzige Wert meiner Arbeit in fast fünf Jahrzehnten", sagte er 1994,
"ist es, die Mörder von morgen zu warnen."
Wiesenthal hatte viele Freunde, er wurde weltweit geehrt, mit
Ehrendoktorhüten bedacht - aber ebenso viele Feinde hatte er auch.
Im Juni 1982 explodierte eine Bombe vor seiner Tür, durch Zufall
wurde niemand verletzt.
Nun ist dieses lange Leben voller Kampf und Tod zu Ende gegangen.
Auch er wird nicht vergessen werden.