SZ-Interview mit Schimon Perez:
"Das Siedlungsprojekt ist ein Fehler"
Ein Gespräch mit Israels stellvertretendem
Ministerpräsident über die Aufgabe weiterer Gebiete im Westjordanland und
den Terror in Europa. Interview:
Stefan Kornelius, Thorsten Schmitz
In
drei Wochen sollen die ersten jüdischen Siedlungen evakuiert werden. Nach
Ansicht von Schimon Peres ist die Aufgabe des Gaza-Streifens wichtige
Voraussetzung für den Friedensprozess mit den Palästinensern. In einem
Interview am Rande eines Fußballspiels zwischen deutschen, israelischen und
palästinensischen Jugendlichen zeigte er sich unbeeindruckt von der Gewalt
der Siedler.
SZ: Israel wird ab Mitte August alle jüdischen Siedler und Soldaten aus dem
Gaza-Streifen abziehen. Warum?
Perez: Wir haben verstanden, dass wir nicht ewig in den
Palästinensergebieten bleiben können. Israel ist kein religiöser Staat, wir
definieren uns über die Bevölkerung. Wenn wir unsere jüdische Mehrheit
verlieren sollten, wäre der jüdische Staat am Ende. Wir denken, dass die
Palästinenser ein Recht auf einen eigenen Staat haben. Wir haben kein
Interesse mehr, über ein anderes Volk gegen dessen Willen zu herrschen. Ich
bin glücklich darüber, dass sich die Regierungspartei Likud von ihrem Traum
eines Groß-Israel verabschiedet hat.
SZ: Was bringt Israel der Rückzug aus dem Gaza-Streifen?
Perez: Wir hätten dort nie präsent sein dürfen. Es ist einfach sinnlos, dass
8000 jüdische Siedler unter 1,3 Millionen Palästinensern leben. Wir haben
keine Zukunft im Gaza-Streifen.
SZ: Nun soll der Abzug beschleunigt werden. Gerät die Situation außer
Kontrolle?
Perez: Wir werden den Abzug nicht in vier Phasen vollziehen, wie
ursprünglich geplant, sondern in einem Rutsch. Der Abzug wird nicht mehr
zwölf Wochen dauern, sondern höchstens vier bis sechs.
SZ: Verteidigungsminister Schaul Mofaz will mit einem schnellen Abzug eine
Spaltung der Gesellschaft verhindern.
Perez:
Ich sehe keine Spaltung der israelischen Gesellschaft, die Mehrheit ist für
eine Aufgabe des Gaza-Streifens. Wer jetzt noch dagegen ist, wird schweigen,
wenn die letzte Siedlung geräumt wurde. Es mögen ein paar Narben bleiben,
aber keine offenen Wunden. Ursprünglich hatte man sich auf Mitte August
verständigt, weil zuvor ein hoher jüdischer Feiertag gläubigen Juden
verbietet, eine Wohnung aufzugeben. Wenn aber die Siedler nicht willens
sind, sich an Ordnung und Recht zu halten, sehen wir keinen Grund, ihnen mit
dem Abzugstermin entgegenzukommen.
SZ: Wird der Abzug unter palästinensischem Beschuss
stattfinden, oder wird die israelische Armee zuvor erneut in den
Gaza-Streifen einmarschieren?
Perez: Israel sollte nicht zu einer Eskalation beitragen, wir sollten uns
zurückhalten. Eine Militäroperation würde den Terrorgruppen nur einen
Vorwand liefern für ihre Anschläge.
SZ: Sie haben in jüngster Zeit mehrfach Zweifel am Siedlungsbau geäußert.
Sie selbst aber sind für die Errichtung der jüdischen Siedlung Kiriat Arba
nahe Hebron mit verantwortlich. Bedauern Sie, dass Sie Siedlungen im
Westjordanland errichtet haben?
Perez: Ja. Allerdings muss man beachten, dass damals Krieg war. Aber das
Ausmaß des Siedlungsprojektes und die Orte, an denen sie errichtet wurden,
ist definitiv ein Fehler gewesen.
SZ: Was passiert nach dem Abzug?
Perez: Das hängt davon ab, wen Sie fragen.
SZ: Wir fragen Sie, weil Premierminister Ariel Scharon angekündigt hat, es
würden vorerst keine weiteren Siedlungen im Westjordanland aufgelöst.
Perez: Wir müssen unterscheiden zwischen Absichtserklärungen und künftigen
Haltungen. Vor zwei Jahren hat Scharon selbst noch jegliche
Siedlungsauflösungen ausgeschlossen – und in drei Wochen wird er Siedlungen
auflösen. Selbst die stärkste Person kann den starken Wind der Geschichte
nicht aufhalten.
SZ: Werden also nach Gaza weitere Siedlungen aufgelöst?
Perez: Nach meiner Einschätzung ja. Ich kann nicht für jeden sprechen. Auf
jeden Fall werden keine neuen jüdischen Siedlungen im Westjordanland mehr
gebaut.
SZ: Das mag für die Zukunft gelten, im Moment jedoch werden Siedlungen wie
etwa Maale Adumim östlich von Jerusalem um Hunderte Wohnungen erweitert.
Perez: Sie müssen unterscheiden zwischen dem Westjordanland und dem Ostteil
Jerusalems. Ost-Jerusalem ist nicht das Westjordanland.
SZ: Die Palästinenser sehen das anders.
Perez: Als nächsten Schritt müssen wir uns mit den Palästinensern über den
künftigen Grenzverlauf eines Interim-Staates einigen. Die Streitpunkte über
den Status der palästinensischen Flüchtlinge und den von Jerusalem müssen
beiseite geschoben werden. Darüber reden wir später. Gemeinsam mit den
Palästinensern müssen wir uns auch darüber einigen, dass drei große jüdische
Siedlungsblöcke im Westjordanland erhalten bleiben, und die Palästinenser
dafür im Gegenzug unbewohnte Gebiete als Ausgleich erhalten.
SZ: Palästinenserpräsident Machmud Abbas fordert allerdings die Auflösung
aller jüdischen Siedlungen im Westjordanland, einen unabhängigen
Palästinenserstaat und die Klärung sämtlicher Streitpunkte jetzt.
Perez: Wir haben die Friedensverhandlungen noch nicht wieder aufgenommen.
Bis dahin kann Abbas noch viele Maximalforderungen stellen.
SZ: Wird Abbas bis zum Beginn von Friedensverhandlungen überhaupt noch im
Amt bleiben? Er vermittelt den Eindruck, als ließe er sich von der Gewalt
der Terrorgruppen einschüchtern.
Perez: Abbas ist der beste palästinensische Präsident, es gibt momentan
keinen besseren. Er ist ein ernsthafter Politiker, wir müssen mit ihm
verhandeln. Er ist einer gewissen Machtlosigkeit ausgesetzt, die er nicht zu
verantworten hat, der er aber auch nicht entfliehen kann.
SZ: Besitzt er die Macht, die Terrorgruppen zu entwaffnen und aufzulösen?
Perez: Macht fällt nicht vom Himmel, man schafft sie sich. Ob er dazu in der
Lage ist? Ich denke, ja. Gandhi hat einmal gesagt, wenn eine Katze eine Maus
jagt, macht es keinen Sinn, dass die Maus eine Waffenruhe deklariert. Die
Katze muss der Waffenruhe zustimmen. Die Hamas ist die Katze. Die
Autonomiebehörde aber muss die Rolle der Katze übernehmen. Das ist Abbas’
Aufgabe.
SZ: Die westliche Welt erfährt derzeit, womit Israel seit Jahrzehnten lebt:
mit einer Welle von Terroranschlägen islamistischer Fundamentalisten. Wie
soll Europa darauf reagieren?
Perez: Touristen sind ein leichtes Ziel geworden, denn immer mehr Menschen
reisen. Zusätzlich bedienen sich die Terroristen modernster Technologie: das
Internet, Handys zur Fernzündung von Bomben, die Fähigkeit, unentdeckt an
alle Orte der Welt zu reisen. Während die Terroristen sich die
Globalisierung zunutze gemacht haben, hat es die globale westliche
Gesellschaft versäumt, sich gegen die Terroristen zu schützen.
SZ: Gibt es denn überhaupt einen Schutz vor Terror?
Perez: Europa ist nicht organisiert in Bezug auf Terror. Es besitzt keine
gemeinsame militärische Anti-Terror-Einheit und auch keine gemeinsame
Sicherheitstruppe. Europa hat zwar die Nato, aber die Nato hat keinen Feind.
Europa hat keine Wahl: Wenn es den Terror effektiv bekämpfen will, muss es
zwar keine Europa-Armee gründen, aber ein gemeinsames Anti-Terror-Netz
bilden. Europa braucht einen Geheim- und Informationsdienst.
SZ: Was treibt die Terroristen?
Perez: Sie denken, Modernität zerstört ihre Tradition. Ihr Schwachpunkt
besteht darin, dass sie mit ihrer Tradition keinen Lebensunterhalt verdienen
können. Tradition kann man nicht essen, nicht seine Kinder damit füttern. Um
zu leben, muss man Industrien errichten, Technologien fördern.
Es gibt bereits einige Länder, die modern geworden sind und bewiesen haben,
dass man muslimisch und modern zugleich sein kann. Die Terroristen können
Menschen töten, aber nicht den Krieg gewinnen, denn sie haben keine
Botschaft. Zudem sind nicht alle Muslime Terroristen, aber bislang waren
alle Terroristen Muslime.
(SZ vom
26.7.2005)
hagalil.com 07-08-2005 |