Wege aus dem Misstrauen:
Die reife Mehrheit
Artikel von Ari Shavit, Ha'aretz, 17.08.2005
Übersetzung Daniela Marcus
Nur wenige erinnern sich: Die neue Ära des
Nahen Ostens begann am 29. September 2000, morgens um 6.45 Uhr, als
der palästinensische Polizist Na’il Suleiman aus seinem
palästinensischen Jeep stieg, in dem er an einer gemeinsamen
Patrouille mit Israelis in Qalqilyah teilnahm. Er ging zum
israelischen Jeep hinüber und erschoss seinen israelischen Kollegen,
den Grenzpolizisten Jossi Tabeja, aus nächster Nähe.
Die gemeinsamen Patrouillen waren eine der Ikonen der Oslo-Ära. Die
gemeinsamen israelisch-palästinensischen Jeep-Patrouillen durch die
Westbank und den Gazastreifen zeigten nicht nur einen koordinierten
Versuch, den Terror zu verhindern, sie symbolisierten auch
Partnerschaft und Vertrauen. Der Schuss, der Tabejas Leben ein Ende
setzte, setzte auch dem koordinierten Versuch, den Terror zu
stoppen, der Partnerschaft und dem Vertrauen ein Ende. Er beendete
ein beispielloses siebenjähriges Experiment des Friedens zwischen
Israel und den Palästinensern und startete einen blutigen
vierjährigen Terrorkrieg.
Aus israelischer Sicht birgt der Krieg von 2000 bis 2004 eine
doppelte Bedeutung. Er war ein Angriff auf Israel als jüdischen
Staat und er war ein Angriff auf Israel als eine freie Gesellschaft.
Ideologisch betrachtet war der Krieg das Ergebnis der Unfähigkeit
der palästinensischen Führung, den Konflikt zu beenden und das
Existenzrecht eines jüdischen Staates in veränderten 1967er Grenzen
anzuerkennen. In praktischer Hinsicht versuchte der Terrorkrieg
jedoch, Israel als eine demokratische Gesellschaft zu unterminieren.
Palästinensischer Selbstmordterror konzentrierte sich nicht auf
Talmudschulen, Siedlungen oder Armeeeinheiten. Er konzentrierte sich
auf Busse, Cafés, Bars und Einkaufszentren. In gewisser Weise kann
gesagt werden, er war ein Versuch, israelische Einkaufszentren zu
unterminieren, ein Versuch, den jüdischen Staat zu bekämpfen, indem
man seinen westlichen Lebensstil störte, ein Versuch, dieser
kreativen Konsumgesellschaft nicht zu erlauben, ihren Traum, das
Kalifornien inmitten der arabisch-muslimischen Welt zu sein, zu
erfüllen.
Die Israelis verstanden die palästinensische Botschaft sehr gut.
Während sie in den vier Kriegsjahren erstaunliche Ausdauer
demonstrierten, mussten sie auf harte Weise lernen, um was es in
diesem Konflikt geht. Es geht nicht um den Gazastreifen und nicht um
die Westbank. Es geht nicht einmal um Jerusalem. Sondern es geht in
diesem Konflikt um die eigentliche Existenz eines jüdischen Staates
im Nahen Osten. Es geht in diesem Konflikt um die eigentliche
Existenz einer freien nicht-arabischen Gesellschaft im heiligen
Land. Es geht in diesem Konflikt um Israels Recht, als jüdischer
demokratischer Staat zu existieren.
Seit dem Jahr 2000 hat sich eine neue große und stille israelische
Mehrheit um diese Grundeinsicht gebildet. Diese Mehrheit versteht,
dass der israelisch-palästinensische Konflikt in absehbarer Zeit
nicht enden wird. Diese Mehrheit versteht, dass die Besatzung eine
Gefahr für Israel ist, sowohl in moralischer als auch in
demographischer und politischer Hinsicht. Diese Mehrheit versteht
jedoch auch, dass das Ende der Besatzung und das Andauern des
Konflikts problematisch sind. Sie laufen Gefahr, Wellen der Gewalt
auszulösen, die Israel erschüttern und seine Existenz gefährden
können. Deshalb erwartet die neue israelische Mehrheit von der
israelischen Staatsführung, etwas zu unternehmen, um die Besatzung
schrittweise und umsichtig zu beenden, ohne Israel dadurch ein
existenzielles Risiko aufzuladen.
Die neue israelische Mehrheit hat noch keine Partei. Sie ist noch
nicht in der Knesset repräsentiert. Doch ihr ruhiger Druck brachte
Ariel Scharon dazu, den Abkopplungsplan zu anzunehmen. Somit bekommt
die neue israelische Mehrheit auf seltsame Weise ihren politischen
Ausdruck durch Scharon. So wurde Scharons Persönlichkeit auf der
einen Seite, kombiniert mit der ruhigen Entschiedenheit der
israelischen Mehrheit auf der anderen Seite, zu den wichtigsten –und
realistischsten- Agenten der Veränderung im Nahen Osten.
Scharon wollte den Sicherheitszaun nicht haben. Scharon wollte auch
die Siedlungen nicht evakuieren. Doch am Ende eines langen
Reifungsprozesses fand er sich selbst dabei, die tiefe israelische
Einsicht, die sich als Ergebnis aus dem Kollaps des
Friedensprozesses und des großen Terrorkrieges entwickelt hatte, zu
verwirklichen: genau aus dem Grund, warum Israel keinen Frieden
bekommt, braucht es eine Grenze. Genau aus dem Grund, warum der
Konflikt andauern wird, muss Israel das Land teilen. Bis Israelis
und Palästinenser sich wieder lieben lernen, benötigen sie eine
lange Zeit der Trennung. Nur die Schaffung einer Linie, die den
israelischen Raum vom palästinensischen trennt, wird Israel vom
Kolonialisten-Syndrom befreien und die Palästinenser von ihrem
Opfer-Syndrom. Nur die Schaffung eines Puffers zwischen den beiden
Völkern wird die symbiotische Beziehung zwischen ihnen beenden und
wird beide zu wirklicher gegenseitiger Anerkennung führen.
Dies ist die historische Bedeutung des Monats August im Jahr 2005.
Es geht hier nicht nur um die Befreiung von 1,4 Millionen
Palästinenser vom Joch der israelischen Besatzung. Es geht nicht nur
um die Evakuierung eines Drittels des besetzten palästinensischen
Gebietes. Es geht um die Umsetzung des Projektes der Landteilung.
Dieses Projekt wird entscheiden, ob es möglich ist, die israelischen
und palästinensischen siamesischen Zwillinge zu trennen, ohne dass
sie auf dem Operationstisch verbluten.
Zu diesem Zeitpunkt ist die Teilung des Landes ein einseitiges
israelisches Unternehmen. Es hat keinen palästinensischen Partner.
Selbst nach dem Tod Jassir Arafats bleibt die palästinensische
Führung unfähig, das Existenzrecht eines jüdisch-demokratischen
Staates innerhalb veränderter 1967er Grenzen anzuerkennen. Selbst
heute unter Mahmoud Abbas ist es der palästinensischen Führung nicht
möglich, dem Traum der Rückkehr Lebewohl zu sagen und sich zu
verpflichten, keine Forderungen an Israel innerhalb der grünen Linie
zu stellen.
Das Echo der Schüsse, die Na’il Suleiman am 29. September 2000 auf
Jossi Tabeja abfeuerte, hallt weiter. Seit diesem Tag ist der Nahe
Osten in tiefem gegenseitigem Misstrauen eingeschlossen. Was nun die
Zukunft des Teilungsprojektes entscheiden wird, ist die Fähigkeit
der internationalen Gemeinschaft, für eine gewisse Zeit als Ersatz
für den abwesenden palästinensischen Handelnden einzuspringen. Ob
die internationale Gemeinschaft eine Allianz mit der neuen
israelischen Mehrheit bilden und ihr versichern kann, dass der
nächste Teilrückzug aus der Westbank sie und ihr Land nicht
gefährden und kein Blutbad anrichten wird, wird über die Zukunft des
Projektes entscheiden.
Der Tatbestand der Abkopplung beweist, dass Israel nach 38 Jahren
der Besatzung einen gewissen Grad der politischen Reife erlangt hat.
Das Israel des Jahres 2005 beweist, dass es fähig ist, seine Fehler
zu korrigieren, seine Krankheiten zu heilen und mutig das Problem
der Zeloten-Minderheit zu bewältigen. Solange die palästinensische
Seite keine ähnliche politische Reife zeigt, hängt die Zukunft des
Projektes der Landteilung vollkommen von der internationalen
Gemeinschaft ab. Nur wenn diese Gemeinschaft der Linie, auf die sich
Israel nun zurückzieht, und den Linien, auf die es sich in den
kommenden Jahren zurückziehen wird, eine hieb- und stichfeste
Legitimität verleiht, wird es möglich sein, den einseitigen Prozess
der Landteilung daran zu hindern, in einer Katastrophe zu enden. Nur
wenn die internationale Gemeinschaft die neue israelische Mehrheit
beschützt und den Umgang mit ihr pflegt, wird es möglich sein, einen
ernsthaften Fortschritt in Richtung einer fairen und stabilen
Zwei-Staaten-Lösung zu machen.
hagalil.com 18-08-2005 |