Jüdische Einwanderung:
Bedingt erwünscht Von Irene
Runge
Erschienen in: Blätter für
deutsche und internationale Politik 8/2005
Im politischen Wirrwarr des ausgehenden Juni übersahen die
Medien, was die Innenministerkonferenz unter TOP 35 in Sachen jüdische
Einwanderung beschlossen hatte. Das 60. Jahr der Befreiung ist noch nicht
vorbei, die verpflichtende Erinnerung an die Vernichtung des jüdischen
Volkes im Begriff "historische Verantwortung" verfestigt, da legitimiert
dieser Terminus jenen Beschluss, der als Ergebnis von vier über zwei Jahre
verteilten "Kamingesprächen" der Innenminister und -senatoren verabschiedet
wurde. Vorangegangen war eine
längere Kontroverse über die Zukunft jüdischer Einwanderung, die ihren
Ausgang bereits in den internen Diskussionen über das
Zuwanderungsbegrenzungsgesetz genommen hatte.(1)
Jetzt also scheint die Neuregelung der Einwanderung im so
genannten "jüdischen Kontingentverfahren" beschlossene Sache zu sein. Der
Zentralrat der Juden nannte das mit ihm erarbeitete Papier eine "faire
Kompromisslösung", und die Union progressiver Juden in Deutschland teilte
mit, sie sei in einen künftigen Beirat geladen, der – Härtefälle und
familiäres Umfeld bedenkend – Einwanderungskriterien erstellen werde. Der
Jüdische Kulturverein Berlin schrieb einen offenen Brief, der – neben
Bedenken hinsichtlich der Notwendigkeit einer Neuregelung – auch Genugtuung
darüber zum Ausdruck brachte, dass eine Einwanderungszusage für NS-Verfolgte
aufgenommen wurde und dass Dokumente aus sowjetischer Zeit mit dem Vermerk
der jüdischen Nationalität bei der Antragstellung gelten sollen. Allerdings
steht der letztgenannte Eckpunkt zwar in der vom Zentralrat veröffentlichten
Fassung der Einigung (2), fehlt jedoch in der Vorlage der
Innenministerkonferenz. Damit ist
unklar, ob die bis zuletzt umstrittene Einbeziehung der nichthalachischen
Juden (die einen jüdischen Vater, aber keine jüdische Mutter haben) nun
zustande kommen wird. Unbeantwortet bleibt ferner weiterhin die Frage, wie
Antragsteller beschieden werden, die sich einer religiösen Zuordnung
entziehen. Die zentrale Triebkraft
hinter der Neuregelung waren die Innenminister der Länder, die aus
finanziellen Erwägungen die Grenzen für die auf dem "jüdischen Ticket"
Einwandernden aus den Republiken der ehemaligen Sowjetunion (3) schließen
wollten. Auch der Zentralrat der Juden war an einer Neuregelung
interessiert, da die russischsprachige Einwanderung in seinen Gemeinden
teilweise zu chaotischen Zuständen geführt hatte. Die Vorschläge der
Minister gingen aus Sicht des Zentralrates aber offenbar in die falsche
Richtung. Delegationsmitglied Dieter Graumann summiert nun: "Entscheidend
für uns ist: Die Tür für die jüdische Zuwanderung in Deutschland bleibt
offen. Einen Stopp […] konnten wir verhindern. Das war gar nicht so
leicht."(4) Obgleich Einwanderung der
einzige Garant für das Wachstum der jüdischen Bevölkerung in der
Bundesrepublik ist, wird in der Öffentlichkeit gern darauf verwiesen, dass
sich die übergroße Mehrheit der Gemeindemitglieder aus Einwanderern im
höheren Lebensalter rekrutiere, die von Grundsicherung bzw. ALG II abhängig
seien. Dass aber weniger als die Hälfte der inzwischen rund 200 000
eingereisten Juden Gemeindemitglieder geworden sind, lässt verschiedene
Schlüsse zu. Einwanderer mit "nur" jüdischen Vätern sind keine Juden und
können somit keine Gemeindemitglieder werden; manche sind nicht religiös;
andere, insbesondere Jüngere, die Arbeit finden, haben die russischsprachige
Nische namens Jüdische Gemeinde nicht nötig. So bleiben ältere
ALG-II-Empfänger oft unter sich, mit Integration hat das wenig gemein.
Weniger Menschen produzieren weniger Probleme und weniger Kosten. Hier
verzahnen sich regionale und gemeindeinterne Interessen.
Als Aufnahmevoraussetzung müssen nun eine "eigenständige
Sicherung des Lebensunterhaltes" und "Grundkenntnisse in deutscher Sprache"
nachgewiesen werden. Beide Forderungen scheinen für Menschen, die im
Herkunftsland in der Großstadt wohnen, in der Regel zumutbar – aber was
geschieht mit den anderen? Und was bedeutet die zugleich geforderte
"positive Integrationsprognose" für eine einwandernde Familie? Der
vorgesehene Beirat wird einen kollektiven, mit interkultureller Kompetenz
unterlegten Verstand benötigen, wenn er handhabbare Kriterien für derlei
integrative und soziale Prognosen erarbeiten will.
Grundlage dafür soll die "Selbstauskunft der
Zuwanderungswilligen über Ausbildung, berufliche Pläne, Deutschkenntnisse
usw." sein. Doch genau hier sind folgenschwere Fehleinschätzungen zu
erwarten. Mit Blick auf die Sprache sollen "Kapazitäten für Sprachkurse vor
Ort" erweitert bzw. "der Zugang für jüdische Zuwanderungswillige
erleichtert" werden. Die Finanzierung steht allerdings noch aus – und
Deutschkurse dürften in der multinationalen Riesenregion ohnehin kaum zu
bezahlen sein. "Wir wenden uns dagegen", so Volker Beck, Parlamentarischer
Geschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen, aus Deutschkenntnissen "ein
allgemeines Prinzip der Zuwanderungspolitik zu machen – so wie dies die
Union vorschlägt. [...] Deutsch wird hier gelernt – hierfür stellen wir in
Deutschland Sprachkurse zur Verfügung".
Dieser Ansatz des Spracherwerbs wäre integrationspolitisch
zwar zu bevorzugen, aber bisherige Erfahrungen verweisen darauf, dass
fehlende Grundkenntnisse in Deutschland oft nur mit sehr großem Aufwand
kompensierbar sind. Beck weiter: "Wir müssen die Integrationschancen für
jüdische Zuwanderer verbessern. Es ist daher richtig, dass die Anerkennung
von russischen Berufs- und Ausbildungsabschlüssen künftig erleichtert werden
soll."(5) Unterstellt, dass Becks Gleichsetzung des riesigen
post-sowjetischen Territoriums mit Russland aus Versehen geschah (und nicht
nur russische, sondern auch ukrainische, aserbaidschanische, georgische etc.
Abschlüsse gemeint sind), wird dies die Integrationschancen verbessern. Aber
Bildung allein ist keine sichere Option auf eine berufliche Zukunft.
Auch weitere Aspekte scheinen noch nicht zufrieden stellend
gelöst zu sein. So sollen Vertreter von Bund und Ländern, dem Zentralrat der
Juden, der Union der progressiven Juden und dem Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge (BAMF) die Einwanderungsverfahren vorbereiten, begleiten und
überprüfen. Die Aufnahme übernehmen Bundesinnenministerium und BAMF;
letzteres erteilt die Bescheide oder verweigert sie anhand ausgewählter
Kriterien. Wo aber können die
Betroffenen Widerspruch einlegen? Oder wird es gar heißen: Rechtsweg
ausgeschlossen? Außerdem erhalten nach der neuen Regelung die
nicht-jüdischen Familienangehörigen keine Niederlassungs-, sondern lediglich
eine Aufenthaltserlaubnis nach Paragraph 23 Abs.1 Aufenthaltsgesetz. Diese
Bestimmung soll so genannten Scheinehen vorbeugen, aber zugleich wäre im
Todesfall des niedergelassenen Partners die Abschiebung der nicht-jüdischen
Hinterbliebenen rechtens. Man sollte
meinen, dass sich die historische Verantwortung der Bundesrepublik auf eine
zu stabilisierende jüdische Bevölkerung bezieht. Jetzt aber droht der
Konfessionszwang. Wie sonst ist die "gutachterliche Stellungnahme der
Zentralen Wohlfahrtsstelle der Juden in Frankfurt" gemeint, welche die
"Möglichkeit zur Aufnahme in einer deutschen jüdischen Gemeinde" prüft? Es
steht zu befürchten, dass die Mitgliedschaft in einer religiösen jüdischen
Gemeinde Teil des Einwanderungsverfahrens werden soll – die Union der
progressiven Juden sagt nicht zufällig, "dass die erfolgreiche Integration
der 'nur' väterlicherseits jüdischstämmigen Zuwanderer in die liberalen
jüdischen Gemeinden als Fördermitglieder und ihre erleichterte Aufnahme in
die jüdische Religion fortgesetzt werden".(6)
Zentralrats-Präsidiumsmitglied Graumann geht von der
beabsichtigten Stärkung jüdischer Religionsgemeinden, nicht aber der
jüdischen Gemeinschaft insgesamt aus. Sind also jene, die keine
Eingliederung in eine Religionsgemeinde wünschen, von der Einwanderung
ausgeschlossen? In Berlin ist bereits eine entsprechende Klage vor dem
Verwaltungsgericht anhängig. Die
Politik geht dieser innerjüdischen Debatte aus dem Weg. Allein Dirk Niebel,
Generalsekretär der FDP, weicht in seiner Bewertung vom eingefahrenen Weg
ab. In einem Brief an den Jüdischen Kulturverein vom 17. Juni schreibt er:
"Die Tatsache, dass sich nicht alle Einwanderer als Gemeindemitglieder
registrieren lassen, mag bedauert werden, ist aber unter dem Gesichtspunkt
der Religionsfreiheit zu akzeptieren. Keinesfalls hat der Staat das Recht,
eine Registrierung als Gemeindemitglied zwangsweise durchzusetzen [was mit
der Gutachter-Regelung implizit geschehen würde, IR]. Eine Änderung der
bisherigen Zuwanderungsregelungen könnte den Staat vielmehr zwingen, die
Frage der Einwanderungsberechtigung religionsgesetzlich oder unter
Abstammungsgesichtspunkten abschließend zu beantworten. Dies wäre gerade
nicht im Sinne der Integration". Genau
hier liegt des Pudels Kern: Die Neuregelung ist nicht nötig – auch nicht, um
den ohnedies schwachen Zustrom von weniger als 20 000 Menschen jährlich zu
reduzieren. Trotz der Sorge, jüdische Religionsgemeinden könnten sich zu
russischsprachigen Kulturvereinen wandeln, wie es Albert Meyer, Mitglied im
Präsidium des Zentralrats und Vorsitzender der Berliner Jüdischen
Einheitsgemeinde, am 8. Juni 2005 ausdrückte, werden praktische
Alternativen, beispielsweise die Gründung säkularer jüdischer
Organisationen, nicht gefördert. Der Unmut der russischsprachigen Basis wird
sich dennoch Gehör verschaffen. Darüber
hinaus gilt bekanntlich: Der Teufel steckt im Detail. Das betrifft auch jene
etwa 27 000 Personen, die ihre Einwanderungsanträge teilweise bereits vor
Jahren gestellt haben und seitdem auf deren Bewilligung warten. Für viele
von ihnen dürfte die Neuerung Lebenspläne vernichten, denn für diejenigen,
die ihren Antrag nach dem 1. Juli 2001 eingereicht haben – Härtefälle
ausgenommen – gilt nun: Ein neuer Antrag muss her. Oder ein anderes Land.
Oder man bleibt, wo man ist. Das dürfte im Sinne der deutschen Regelungen
liegen – und scheint den Zentralrat nicht sonderlich aufzuregen.
Die Neuregelung soll, so haben es die Innenminister
vereinbart, zum 1. Juli 2006 in Kraft treten. Aber selbst wenn positiv
festzuhalten ist, dass die im Mai 1990 in der Noch-DDR geöffneten Tore wider
die innenpolitischen Absichten nicht fest verschlossen, sondern nur
angelehnt werden – ein schaler Geschmack bleibt. Denn es steht zu
befürchten, dass die dann erforderlichen "positiven Integrations- und
Sozialprognosen" deutlich exkludierend wirken werden.
Anmerkungen:
(1) Vgl. Irene Runge, Die Zukunft jüdischer Einwanderung, in: "Blätter",
7/2004, S. 798-801.
(2) Vgl. Presseerklärung des Zentralrats der Juden in Deutschland über die
Eckpunkte jüdischer Zuwanderung aus den ehemaligen Staaten der Sowjetunion,
24.6.2005.
(3) Seit Mai 2004 ohne die baltischen EU-Neumitglieder.
(4) Zit. n. "Jüdische Allgemeine", 30.6.2005.
(5) Pressemitteilung der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen vom
24.6.2005.
(6) Pressemitteilung der Union progressiver Juden vom 24.6.2005.
hagalil.com 02-08-2005 |