Geschmackloser Widerstand:
Ein offenes Grab für Scharon
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem
Eine Familie hat sich in Azmona im Gazastreifen am
Sonntag, vor der Wiederaufnahme der Räumung, eine neue geschmacklose Form
des Widerstandes ausgedacht. Vor ihrem zur Räumung bestimmten Haus hatte sie
Kartongräber aufgestellt mit den Namen der schlimmsten Judenmörder. Neben
dem bösen Pharao, der die Kinder Israel in Ägypten knechtete, stand auch ein
Grab für den ebenso bösen biblischen Perser Haman und für Titus bereit, der
vor zweitausend Jahre Jerusalem zerstörte. Daneben standen drei weitere
Sarkophage für moderne Judenmörder: Hitler und Arafat. Am letzten Sarkophag
war ein leerer Zettel angebracht. Niemand wollte offen sagen, für wen dieser
Sarkophag bestimmt war, aber jeder wusste es: Ariel Scharon.
Eine andere Familie mit vielen kleinen Kindern hatte erneut einen gelben
Davidstern an die Brust geheftet, um wieder mit dem Symbol der
Judenverfolgung durch die Nazis ihre "Deportation" aus dem Gazastreifen mit
der Deportation von Juden in die Gaskammern von Auschwitz gleichzusetzen.
Hasserfüllt ging die Familienmutter mit einem hoch gehaltenen Fotohandy
umher und fotografierte jeden einzelnen Soldaten und Polizisten, der
gekommen war, sie mit ihrer Familie zu räumen. "Ich dokumentiere, wer Ihr
seid. Ihr werdet alle mit Euren Kindeskindern zur Hölle gehen. Ihr tut
Unrecht. Gott wird Euch das nicht verzeihen. Euer Verbrechen soll Euch als
schlechtes Gewissen Euer Leben lang verfolgen."
Der Davidstern des achtzig-jährigen Israel Raab an der gestreiften
Häftlingsjacke aus dem KZ war "echt". Er erinnert sich noch, wie die Nazis
"Juden raus" gerufen haben und fühlt sich jetzt wieder an seine Kindheit
erinnert. "Ich habe das KZ überlebt und war fünf Jahre lang Kämpfer gegen
die Nazis. Dafür habe ich eine Ehrenurkunde von der israelischen Regierung
erhalten. Aus Protest gegen meine erneute Deportation ins Ungewisse werde
ich diese Urkunde jenem Soldaten überreichen, der mich aus meinem Haus
zieht." Israel Raab lebte 18 Jahre lang in den Siedlung Armona. "Gestern
habe noch ich im Gewächshaus gearbeitet." Er behauptet, keine Ahnung zu
haben, wo er seine neue Existenz aufbauen werde. "Diesen alten Mann, der das
alles selbst erlebt hat, kann ich nicht kritisieren", sagt der Showman des
israelischen Rundfunks, Gabi Gazit. Er macht aus seiner mangelnden Sympathie
für die Siedler keinen öffentlichen Hehl. "Ich habe aber entschieden etwas
gegen jüngere Siedler, die ohne geschichtliches Wissen zynisch die
schlimmste Katastrophe des jüdischen Volkes missbrauchen, um gegen den
demokratischen Beschluss der Regierung Israels zu protestieren."
Es gab auch echte emotionale Abschiedszeremonien.
David Hatuel hat schon vor einem Jahr sein Heim in der Siedlung Katif
verlassen. Kurz zuvor, Anfang Mai, fuhr seine 34 Jahre alte im achten Monat
schwangere Frau Tali mit vier Töchtern im Alter zwischen zwei und vier
Jahren über die berüchtigte Kisufimstraße nach Israel. Obgleich diese
einzige Zugangsstraße mit Zäunen und Panzern abgesichert ist und alles
Gestrüpp in einer breiten Schneise weggeräumt worden ist, damit
palästinensische Terroristen dort keine Deckung finden können, gelang es
zwei Palästinensern, bis zur Straße vorzudringen. Sie stoppten das Auto von
Tali Hatuel. Mit Kopfschüssen richteten sie alle vier Insassen des Autos
hin. Dieser Anschlag gilt als einer der brutalsten in der Geschichte des
palästinensischen Terrors gegen israelische Zivilisten. Bei den offenen
Gräbern seiner ganzen Familie bat David Hatuel um Vergebung, so viel Zeit
für den Kampf gegen den Rückzugsbeschluss der israelischen Regierung
aufgewendet zu haben. Am Sonntag kehrte er mit Genehmigung der Armee zurück
nach Katif, um sich mit einem Gebet zu verabschieden.
In Netzarim, eine radikale Siedlung mitten im Gazastreifen, verabschiedeten
sich die Bewohner mit einer Beschneidungsfeier in der Synagoge. Just in dem
Augenblick, als am Sonntag vor einer Woche verkündet wurde, dass der
Gazastreifen nun für Israelis eine militärische Sperrzone sei, gebahr eine
Siedlerin auf dem Weg ins Krankenhaus am Checkpoint einen Sohn. Die Bewohner
von Netzarim befürchteten, dass der "jüngste aller Gazasiedler" nicht mehr
in sein Heim zurückkehren dürfe. Doch die Behörden machten eine Ausnahme. Am
achten Tag nach seiner Geburt wurde er entsprechend der jüdischen Sitte
beschnitten. Offenbar war das Teil der mit den Siedlern von Netzarim
getroffenen Abmachung. Sie hatten sich aus ideologischen Gründen strikt
geweigert, mit der Regierung über ihre Räumung zu verhandeln. Jetzt
plötzlich sind sie bereit, als Gemeinschaft nach Ariel umziehen und
vorläufig die Studentenwohnheime der Hochschule von Ariel zu beziehen. Ariel
ist eine Siedlerstadt im Westjordanland nahe Nablus. Es sind die einzigen
Siedler, die sich vom besetzten Gazastreifen ins besetzte Westjordanland
umsiedeln lassen. Alle anderen fanden Unterkunft in Israel.
Auf dem Weg von Netzarim nach Israel werden die Siedler am Dienstag in ihren
gepanzerten Fahrzeugen zum letzten Mal die Netzarim-Kreuzung passieren. Das
ist jene Stelle, wo der zwölfjährige Muhammad al Dura am ersten Tag der
Intifada vor laufender Kamera durch das Kreuzfeuer von israelischen Soldaten
und palästinensischen Polizisten getötet wurde. Die Bilder des Todes von
Muhammad al Dura wurden in der arabischen Welt zu einer der Ikonen des
Aufstandes der Palästinenser. ©
Ulrich Sahm / haGalil.com
hagalil.com 22-08-2005 |