Forschungszentrum "Al-Mustaqbal":
Mögliche Szenarien nach der Abkopplung
Das Forschungszentrum "Al-Mustaqbal",
das sich mit der "Hamas"-Bewegung identifiziert und in Gaza tätig ist,
veröffentlicht Forschungsarbeiten und Berichte. In den Veröffentlichungen
kommt die Auffassung der Hamas-Bewegung zum Ausdruck, obwohl sie nicht die
formelle Position der Hamas zeigen. Die Leitung des Instituts unterliegt Dr.
Ataf Avrahim Adwan, Dozent für Staatswissenschaften, der sein Studium an der
Universität von Oxford absolviert hat und sich mit der "Partei der Rettung"
(Al-Khalas) identifiziert.
In der Vergangenheit wurde das Institut von Dr. Mahmud
Alzahar, einer der Führer der Hamas, geleitet. Ein Mitglied des Instituts
ist anscheinend auch Dr. Aazi Hamis Yusuf Hamed, Journalist und Herausgeber
der Zeitung "Al-Risalah", die sich mit der Hamas identifiziert.
Das Zentrum veröffentlichte im Juni 2005 eine
Forschungsarbeit über den israelischen Abkopplungsplan. Die Arbeit
analysiert, welche Gestalt der israelisch-palästinensische Konflikt nach der
Durchsetzung des Plans annehmen könnte. Die Studie, die auf der
Internetseite der Hamas in arabischer Sprache veröffentlicht wurde,
basiert auf einer Vielzahl von Quellen und Veröffentlichungen, hauptsächlich
arabischen und israelischen. Unter den Quellen, auf die sich die Forschung
beruft, erscheint auch ein Dokument über den Zweck des Abkopplungsplans, das
von General Yaakov Amidror verfasst und am "Jaffe-Zentrum für strategische
Forschung" der Universität von Tel Aviv veröffentlicht wurde, sowie Artikel
aus den israelischen Tageszeitungen "Haaretz" und "Maariv".
Die Studie sieht für die Zeit nach der Abkopplung vier
mögliche Szenarien voraus:
- Eine Ruhephase der
israelisch-palästinensischen Auseinandersetzungen. Die Zeit wird für
eine gründliche "Überholung" im internen palästinensischen Forum
genutzt. Dieses Szenario betrachtet die Abkopplung als letzten
israelischen Verzicht auf lange Zeit, bis sich auf lange Sicht eine
Demokratisierung in der palästinensischen Gesellschaft und Politik
einstellt. Nach Ansicht des Verfassers der Studie werden die USA und
Israel danach streben, diesen Prozess zu beaufsichtigen.
- Die Wiederaufnahme der Konfrontationen
aus dem Gazastreifen und der Westbank, wobei massiv verbesserte
Qassam-Raketen eingesetzt werden, die als "strategische Waffen" für die
zukünftigen palästinensisch-israelischen Konfrontationen bezeichnet
werden. Israel könnte als Reaktion darauf in den Gazastreifen
einmarschieren, mit dem Ziel, die Terrororganisationen von dort
herauszuholen, ähnlich wie man es 1982 in Beirut getan hat.
- Begrenzte und gezügelte Konfrontationen,
ähnlich wie in der derzeitigen "Ruhephase". Die palästinensische Seite
wird weiter agieren, hauptsächlich im Gazastreifen, als Reaktion auf
Aktionen, die Israel in der Westbank durchführen wird. Der Verfasser der
Studie rechnet mit Schwierigkeiten bei der Durchführung von
Selbstmordaktionen in der Westbank aufgrund der Fertigstellung des Zauns
und daher wird bei diesem Szenario besonders der Gebrauch von
Qassam-Raketen betont.
- Ausweitung der internen und sicherheitsbezogengen
Anarchie, sowie Auseinandersetzungen zwischen der
Palästinensischen Autonomiebehörde und verschiedenen palästinensischen
Organisationen. Im Rahmen dieses Szenarios ist eine ägyptische,
politische oder sogar militärische Einmischung möglich, mit dem Ziel,
die Auseinandersetzungen zu beenden. In den Augen des Verfassers der
Studie ist dies das schlimmste Szenario und das unwahrscheinlichste. Die
"Hamas" ist grundsätzlich gegen diese Entwicklung, obwohl sie keine
andere Wahl hat. Sollte sie dazu gezwungen sein, wird sie nicht zögern,
mit der Autonomiebehörde auf Konfrontationskurs zu gehen.
Die Position der Palästinensischen
Autonomiebehörde in Bezug auf den Abkopplungsplan:
In der Studie heißt es, dass die Palästinensische
Autonomiebehörde den Abkopplungsplan trotz der Zweifel, die sie an der
Aufrichtigkeit der israelischen Pläne hat, gefördert habe. Die offizielen
Erklärungen in Bezug auf die Unterstützung haben deutlich die Unfähigkeit
gezeigt, eine integrative strategische Position in Bezug auf den
israelischen Plan zu beziehen. Der israelische Rückzug wird nach Meinung des
Verfassers der Studie entsprechend einer früheren Koordinierung zwischen der
Autonomiebehörde und Israel durchgeführt und sie
könnte in Augen des palästinensischen Volkes als Ergebnis der
Verhandlungen zwischen Israel und der Autonomiebehörde betrachtet werden.
Gegenüber der sympathisierenden Einstellung der
Autonomiebehörde, befindet sich der "palästinensische Widerstand" (der Hamas
und anderer Terrororganisationen), und die Auffassung, dass der israelische
Rückzug nichts anderes ist als eine einzige große Täuschung. Nach Auffassung
des Verfassers der Studie hingegen ist die "Abkopplung eine der Früchte des
Widerstands und der Schläge (gegen Israel) der palästinensischen Kämpfer des
Heiligen Krieges (der Mujahedin)". Nach Ansicht des Verfassers der Studie
glaubt Israel, dass die Palästinensische Autonomiebehörde auf keinen Fall
den Gazastreifen (nach der Abkopplung) kontrollieren könne und deshalb sei
es wichtig, dass es eine Koordinierung zwischen der Autonomiebehörde
und den verschiedenen palästinensischen Organisationen (und nicht zwischen
der Autonomiebehörde und Israel) gibt.
Szenarien nach der Abkopplung:
Der Verfasser der Studie erklärt, dass es schwer sei, das
Ergebnis des israelischen Vorgehens vorherzusagen, da sich die Ereignisse
überschlagen werden. Das eine oder andere dramatische Ereignis kann seiner
Meinung nach alle Karten vermischen. Dementsprechend führt der Verfasser
vier verschiedene Szenarien auf, die seiner Meinung nach nach dem Rückzug
Israels aus Gaza stattfinden können.
Erstes Szenario:
Eine Ruhephase in den
palästinensisch-israelischen Auseinandersetzungen. Sie wird für eine
"Überholung" in den Einrichtungen der Palästinensischen Autonomiebehörde
genutzt:
a) Diese Zeit wird von den Palästinensern genutzt werden,
um sich zu reorganisieren und die politischen und Sicherheiteeinrichtungen
zu erneuern.
b) Dieses Szenario sieht in der Abkopplung von Gaza und in der Räumung der
Siedlungen in der Westbank die letzten israelischen Konzessionen für eine
sehr lange Zeit (mehrere Jahrzehnte).
c) Im Rahmen dieses Szenarios ist nach Meinung des Verfassers der Studie die
Errichtung eines zeitweiligen palästinensischen Staates möglich, der den
Gazastreifen und einige Gebiete der Westbank umfasst.
Zweites Szenario:
Erneuerung der umfassenden Konfrontationen
aus dem Gazastreifen und aus der Westbank am Ende der Abkopplung, wobei
häufig Gebrauch von Qassam-Raketen gemacht wird, die als "strategische
Waffen" gelten:
a) Der Verfasser behauptet, dass die derzeitige
"Ruhe"-Phase die moralische und materielle Stärke der Terrororganisationen
("Widerstandsgruppierungen") nur verstärkt hat. In diesem Rahmen haben sie
Munition angesammelt und Kampfmittel entwickelt.
b) Bei diesem Szenario erwartet er, dass Auseinandersetzungen direkt nach
der Abkopplung erneut ausbrechen werden und es damit aus dem Gazastreifen
zum Beschuss auf Ortschaften in der Nähe des Gazastreifens kommen wird. Auch
die Terrororganisationen in der Westbank werden die Gewaltaktionen wieder
aufnehmen.
c) Entsprechend dieses Szenarios wird es Vorbereitungen geben, die sich auf
Städte und Dörfer verteilen, Guerilla-Aktionen von der Art, wie sie im
Gazastreifen vor der "Ruhephase" stattfanden.
Drittes Szenario:
Begrenzte und gezügelte Konfrontationen
(ähnlich wie in der "Ruhephase" von heute). Dieses Szenario unterscheidet
sich von dem vorherigen im Umfang und der Intensität der palästinensischen
bewaffneten Aktionen, hauptsächlich im Gazastreifen. Entsprechend diesem
Szenario wird die palästinensische Seite nicht die Waffen niederlegen,
sondern weiter auf kontrollierte und bedachte Art agieren, hauptsächlich als
Reaktion auf das, was der Verfasser als "Unruhe und Verbrechen" Israels in
der Westbank bezeichnet.
Die palästinensischen Aktionen aus dem Gazastreifen heraus
werden sich im Abschuss von Qassam-Raketen auf die israelischen Orte in der
Nähe des Gazastreifens ausdrücken. Der Verfasser ist der Überzeugung, dass
es am Ende des Zaunbaus unmöglich sein wird, Selbstmordaktionen aus der
Westbank heraus durchzuführen, und die bewaffneten palästinensischen
Aktionen in der Westbank sich daher nur gegen Soldaten und Siedler richten
werden.
Viertes Szenario:
Die Vertiefung der Anarchie im Sicherheitsbereich in den
Gebieten der "Palästinensischen Autonomiebehörde" und ihre Ausbreitung in
weitere Gebieten in der Westbank und dem Gazastreifen. Im Rahmen dieses
Szenarios kann nach Meinung des Verfassers eine Auseinandersetzung
zwischen der Palästinensischen Autonomiebehörde und den bewaffneten
palästinensischen Organisationen nicht ausgeschlossen werden, so
wie es im Libanon geschehen ist und Israel einfach zugesehen hat. Dieses
Szenario wird eher den internen Konflikt innerhalb des palästinensischen
Volkes fördern als die Konfrontation mit Israel. Nach Meinung des Verfassers
der Studie wird eine ägyptische Vermittlung mit internationaler
Unterstützung oder sogar mit militärischer Beteiligung einen
palästinensischen Bruderkrieg im Keim ersticken.
Dieses Szenario ist in den Augen des Verfassers das schlimmste und
unwahrscheinlichste.
Zusammenfassung und Schlussfolgerung:
Die Studie des Zentrums "Al-Mustaqbal" spiegelt das
Bewusstsein der Hamas für das schwere Dilemma wider, das den Palästinensern
in der Zeit nach der Abkopplung bevorsteht. Einerseits wird die
Palästinensische Autonomiebehörde unter israelischem, arabischem und
internationalem Druck stehen, der Anarchie ein Ende zu setzen, eine
geordnete Regierung zu errichten und eine Demokratisierung der
palästinensischen Gesellschaft und Politik als Bedingung weiterer
Fortschritte einzuleiten. All dies nach Meinung des Verfassers ohne die
wirkliche Bereitschaft der israelischen Regierung unter der Führung von
Ariel Sharon zu weiteren territorialen Konzessionen.
Unter diesen Umständen rechnet der Verfasser damit, dass
die gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Israel andauern
werden, obwohl er auch ein Szenario für möglich hält, bei dem es zugunsten
einer palästinensischen "Generalüberholung" zur Beendigung der
Auseinandersetzungen kommt. Die neue Runde der Auseinandersetzungen könnte
in Form einer umfassenden Konfrontation oder auch als begrenzte und
kontrollierte Konfrontation nach dem Format der heutigen "Ruhephase"
stattfinden. Die "strategische Waffe", die nach Meinung des Verfassers bei
der nächsten Runde der Auseinandersetzungen großen Gebrauch finden wird,
sind Qassam-Raketen mit weit größerer Reichweite, die dann
auch in der Westbank zum Einsatz kommen werden. Der
Verfasser der Studie bezieht sich so gut wie nicht auf die "Waffe der
Selbtsmordattentate" (die ihre zentrale Aufgabe in der vorherigen Runde der
Auseinandersetzungen erfüllt hat), anscheinend wegen seiner Einschätzung in
Bezug auf die Schwierigkeiten, die im Gebrauch von Selbstmordattentätern zu
erwarten sind, wenn der Sicherheitszaun fertiggestellt ist.
Der Verfasser der Studie versucht sich nicht festzulegen
und eindeutig zu behaupten, dass die Hamas die zwei Szenarien der
Fortführung der Auseinandersetzungen (das zweite und dritte Szenario)
vorzieht. Doch in einem internen Dokument der Hamas über die
Abkopplung, das im Mai 2004 erschien, wird wiederholt erklärt, dass die
Anschläge auch nach der Abkopplung andauern werden: "Der
israelische Rückzug aus dem Gazastreifen wird die Fortführung des
Widerstandsplans weder ungültig machen, noch bis zur Durchführung des
Rückzugs aus dem gesamten palästinensischen Land, Rückkehr der Flüchtlinge
und vollständigen Rückgabe der Rechte der Flüchtlinge verzögern" (siehe
Anhang b der Quelle: May 23, 2004, Document about dealing with the expected
[Israeli] withdrawal in the [Gaza] Strip [i.e. the Israeli disengagemnt
plan]. Das Dokument wurde am 8. Juli 2004 im Jenin Charity Committee, das
der Hamas nahe steht, durch Zahal beschlagnahmt).
Bei den möglichen Szenarien, die der Verfasser der Studie
analysiert, fehlt das Szenario der Erneuerung der Verhandlungen mit
Israel und die Durchführung der "road map". In einem weiteren
pessimistischen Szenario, das der Verfasser für möglich, wenn auch für recht
unwahrscheinlich hält, wird die Palästinensische Autonomiebehörde
versuchen, die Hamas und den übrigen bewaffneten Organisationen ihre
Herrschaft aufzuzwingen, was zu einer palästinensischen Konfrontation führen
könnte. Dieses Szenario ist das von der Hamas am wenigsten
gewünschte, die daran interessiert ist, einen palästinensischen Bruderkrieg
zu verhindern. Doch der Verfasser der Studie bindet auch andeutungsweise die
Drohung der Hamas ein, dass diese, wenn sie dazu gezwungen sei, keine andere
Wahl habe, als mit einem Angriffskrieg zu erwidern, trotz der folgenschweren
Bedeutung, die dies haben könnte.
Quelle: Intelligence and Terrorism Information
Center at the Center for the Special Studies (C.S.S.), 12.7.2005
(http://www.intelligence.org.il/).
Ganzer Text im pdf-Format:
http://www.intelligence.org.il/sp/7_05/img/july27_05.pdf
English (pdf):
http://www.intelligence.org.il/eng/eng_n/pdf/mustaqbal.pdf
Botschaft des Staates Israel
hagalil.com 05-08-2005 |