Frieden oder Chaos?
Sharons Motive für den Abzugsplan
von Ulrich W. Sahm, Jerusalem, 11. August 2005
Der Abzug Israels aus Gaza schafft eine neue Wirklichkeit im Nahen Osten.
Ob sie Frieden oder Chaos bringt, kann niemand prophezeien.
Für Ariel Sharon gibt es kein Zurück mehr. Die Hälfte der Siedler von Gaza
sind schon nach Israel umgezogen. Die Armee ist bereit, Fanatiker und
Rückzugsgegner zu "deportieren".
Seit der Verkündung seines "Abtrennungsplans" im Dezember 2003 nahm Scharon
einen Bruch mit der Likud-Partei in Kauf, holte sich die linke Opposition
ins Kabinett und riskierte Gewalt mit den Siedlern. Immerhin wusste er die
Mehrheit der Bevölkerung und der Abgeordneten hinter sich. So konnte er den
Abbau von Siedlungen im biblischen "Land Israel" mit demokratischen Mitteln
durchpauken. Gleichzeitig brachte sich die Siedlerbewegung in Verruf, durch
Assoziationen mit dem Holocaust und zuletzt mit dem Massaker an Arabern in
Schfaram.
Scharons politisches Programm mit ungewissen Auswirkungen auf die Zukunft
des Nahostkonflikts, für das Selbstverständnis Israels wie für die
palästinensische Politik, nennt sich nicht Rückzug oder Siedlungsräumung,
sondern "Abkopplung" oder "Abtrennung".
Das wesentliche Element dieser Politik ist nicht die Räumung von Siedlungen
und die Übergabe von ein paar Quadratkilometern. Vielmehr muss man Scharons
Gesamtpaket sehen.
Die Aufgabe der Siedlungen im Gazastreifen "begradigt" die Grenze. Mit der
Räumung der Philadelphi-Achse, dem schwer befestigten Grenzstreifen zwischen
dem Gazastreifen und Sinai, übergibt er die Verantwortung für den
Gazastreifen an Kairo. Der Beschluss, keine Gastarbeiter nach Israel
einzulassen bedeutet, dass der Gazastreifen sich aus der israelischen
Abhängigkeit als Arbeitsmarkt und Lieferant von Wasser, Strom, Waren und
Benzin lösen muss. Ägypten wird dafür sorgen müssen, dass der Gazastreifen
kein "Hamastan" wird. Ägypten lebt von amerikanischer Finanzhilfe und will
sich von den palästinensischen Brüdern nicht in einen Krieg mit Israel
ziehen lassen. Scharons Schachzug hatte zunächst Widerwillen in Kairo
erzeugt.
Der andere Teil des Scharon-Pakets ist der Sicherheitswall, die
"Apartheitsmauer" laut Palästinensern. Scharon errichtete auf Druck der
Bevölkerung den Sperrwall zunächst auf der Grünen Linie, um "Terroristen" zu
stoppen. Irgendwann erkannte er das politische Potential des Sperrwalls.
Ohne Rücksicht zog Scharon nach Gutdünken die künftige Grenze. Der Zaun
schlägt grenznahe Siedlungen auf die israelische Seite. Nahe dem
internationalen Flughafen macht der Zaun einen Bogen, damit landende
Flugzeuge nicht mit Strella-Raketen abgeschossen würden. In Jerusalem ziehen
exakt 9,70 Meter hohe Betonmauern eine Stadtgrenze, die garantieren soll,
dass die "ewige Hauptstadt des jüdischen Staates" viele Juden und möglichst
wenige Araber beherberge.
Scharon macht so seine Vorstellung eines palästinensischen Staates wahr,
aber nicht in den Grenzen, wie es die Palästinensern wünschen, sondern in
territorialen Dimensionen, wie Scharon sie diktiert.
Ob die Amerikaner dieser Politik ihren Segen geben, ist unklar. Durch die
"Abtrennung" anerkannte Scharon die palästinensische Selbstverwaltung gemäß
den Osloer Verträgen. Gleichzeitig nahm Scharon das Ziel der Road Map an.
Nach einer Räumung von Siedlungen in der Westbank würden die Palästinenser
ihren Staat ausrufen können.
Scharon setzte mit der Zerstörung von Siedlungen auf der Sinaihalbinsel 1982
einen Präzedenzfall, den die Siedler nicht wahrhaben wollen. Auch jetzt
scheint Scharon eher Pragmatiker denn Ideologe zu sein. In einem Interview
mit Haaretz deutete er 2001 an, im Rahmen der "schmerzhaften Konzessionen"
Schilo, Elie und Tekoa, Siedlungen mit biblischen Bezügen, räumen zu wollen.
Obwohl weder die EU noch Palästinenser erkennen wollen, "wie es weitergeht",
hat Scharon verdeutlicht, dass der Gaza-Rückzug keine Entstation sei.
Scharon gelang es, mit Zaun/Mauer, Straßensperren und Geheimdienst die Zahl
der Opfer palästinensischen Terrors spürbar zu reduzieren. Dennoch werden
fast täglich Selbstmordattentäter auf dem Weg nach Israel erwischt. Das ist
kein Verdienst von Mahmoud Abbas, obgleich der verstanden hat, dass Terror
der palästinensischen Sache eher schadet denn nützt. Scharon beendet
gewaltsam den palästinensischen Terror und zurrt die Grenzen zu einem noch
kleineren palästinensischen Staat fest. So schafft er die Voraussetzungen
für seine Zwei-Staatenlösung. Die entspricht zwar Israels
Sicherheitsinteressen, stellt aber die Palästinenser vor die Alternative,
ein Minimum zu akzeptieren oder durch weiteren Krieg zu riskieren, noch mehr
Land zu verlieren. Denn Scharon hat schon angekündigt, dass weitere Attacken
während oder nach dem Rückzug einen erneuten Einmarsch zur Folge haben
könnten. © Ulrich Sahm / haGalil.com
hagalil.com 11-08-2005 |